Breathe Again. Katie Weber
sagte mein bester Freund mit breitem Grinsen im Gesicht und einem lässigen Zwinkern, das unter anderen Umständen mein Herz zum Stolpern gebracht hätte. Doch leider wusste ich nur zu gut, wie er das meinte. Ich war für ihn wie seine kleine Schwester, nicht mehr und auch nicht weniger.
Jonah musterte mich prüfend, als ich mich mit Papiertüchern umständlich zu trocknen versuchte, und verzog dann kritisch das Gesicht. »Ich lass dich so garantiert nicht weiter da draußen herumlaufen«, meinte er dann streng und deutete auf mein Shirt, das vom Orangensaft, der ebenfalls auf meinem Tablett gestanden hatte, völlig durchnässt war. Erst jetzt realisierte ich, dass man durch den weißen Baumwollstoff alles erkennen konnte, was sich darunter befand – wirklich alles!
»Starrst du etwa auf meine Brüste?«, schnappte ich entrüstet und hielt mir beide Arme vor meinen Oberkörper.
Jonah knurrte unzufrieden. »Besser ich als irgendein anderer Bastard!« Das klang jetzt sicher anders, als es gedacht war, dachte ich und sah ihm dabei zu, wie er sich seinen Kapuzenpulli über den Kopf zog, sodass er, nur noch mit einem schwarzen Shirt bekleidet, vor mir stand. »Hier, zieh das über. Sonst muss ich dich noch nach Hause fahren, damit du dich umziehen kannst.«
»Aber ist dir dann nicht kalt?«, fragte ich skeptisch, während ich mich umdrehte, um mir mein nasses Shirt aus- und Jonahs Pulli anzuziehen. Sofort kroch die wohlige Wärme, die noch von Jonah stammen musste, in meinen Körper und hinterließ eine nicht endende Gänsehaut.
Als ich mich wieder zu meinem besten Freund drehte, grinste er zufrieden. »Glaub mir, ich friere lieber, als zu wissen, dass dich die ganzen Spanner sabbernd angaffen.«
Ich zog eine Grimasse.
»Das war ein Scherz, ich friere nicht. Herrgott, es ist Frühling und außerdem bin ich ein Kerl, ich halte das schon aus«, behauptete Jonah schmunzelnd, zog mich sanft zu sich und hauchte mir einen kleinen Kuss auf die Haare, so wie er es immer tat, um mir zu zeigen, dass er für mich da war. Es war eine Art stummes Versprechen und ich hoffte, er würde es niemals brechen.
Jonah
Graue Wolken lagen schwer und dunkel wie ein unheimlicher Schleier über dem kleinen Waldfriedhof am Rande von Underwood, der verlassen und still seine Ruhe einforderte. Das letzte Mal, als ich hier gewesen war, standen hier noch einige Birken, die zumindest etwas Beruhigendes in das erdrückende Bild von Tod und Endlichkeit hineinbrachten. Jetzt allerdings war nichts mehr von ihnen zu sehen.
Es schauderte mich, daran zu denken, dass mein bester Freund hier nun für immer seinen Frieden würde finden müssen. Er war doch noch so verdammt jung. Ben hätte sein ganzes Leben noch vor sich haben müssen. Frau, Kinder, Familie. Alles, wovon er immer geträumt hatte. Und doch war heute der Tag seines Begräbnisses. Würde ich nicht hier stehen und es mit eigenen Augen sehen, ich würde es nicht glauben.
Annie ließ ihn direkt neben ihren Eltern beerdigen. Vermutlich war das sein Wunsch gewesen. Gesagt hatte er es mir zumindest nie. Auch wenn ich, so oft ich konnte, bei ihm gewesen war und ihn im Krankenhaus oder zu Hause besucht hatte, hatten wir nie darüber geredet, dass es irgendwann vorbei sein würde. So waren wir nun mal nicht und das war auch gut so. Wir genossen die seltene gemeinsame Zeit, die wir die letzten zwei Jahre hatten, quatschten über Sport, über alte Zeiten und manchmal sogar über Gracey.
Ben wusste von meiner Tochter, er wusste, wie es dazu gekommen war, dass es nicht geplant und trotzdem eines Tages passiert war. Und er war es auch, der wohl am besten wusste, wie dankbar ich für dieses unverhoffte Wunder war. Ben kannte mich besser als jeder andere, vermutlich besser, als ich mich selbst kannte. Deswegen stellte er auch keine dummen Fragen, sondern freute sich einfach mit mir. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, er war erleichtert, dass es so gekommen war und Grace mein Leben auf den Kopf stellte. Vielleicht weil es seitdem eine Sache weniger war, um die er sich sorgen musste. Nämlich darum, dass mir der Ruhm zu Kopf steigen und ich zusammen mit meinem Ego und meinem verfluchten Selbstzerstörungsdrang eines Tages untergehen könnte.
Blieb nur noch Annie. Bens Schwester war immer sein größtes Sorgenkind gewesen. Kein Wunder, schließlich war sie eine unglaubliche Träumerin. Zumindest war sie das früher einmal. Annabelle war Bens Ein und Alles – zugegeben, ebenso wie meins. Wann immer Ben nicht in ihrer Nähe war, war ich es, der sie stets vor allem Bösen beschützte. Ich war immer für sie da, so wie auch sie immer für mich da gewesen war. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich alles änderte.
Dass ich Annie nun ausgerechnet auf der Beerdigung ihres eigenen Bruders nach sieben Jahren der Funkstille zum ersten Mal wiedersehen würde, machte mich nervös. Tierisch nervös! Ich wollte sie so nicht sehen, nicht aus diesem Grund. Nicht, weil ihr Bruder tot war.
Dennoch hatte ich nicht gekniffen und war heute Morgen hierhergefahren, zurück in unsere alte Heimat. Ich wollte meinem besten Freund die allerletzte Ehre erweisen und bei ihm sein, wenn er seinen endgültigen Weg in die Unendlichkeit ging. Meine Angst, zum ersten Mal nach so vielen Jahren Annabelle gegenübertreten zu müssen, blendete ich daher mühsam aus.
Die Zeremonie schien sich ins Endlose zu ziehen, während es draußen hörbar zu regnen begann. Ich stellte mir vor, wie Ben sich darüber freuen würde. Er liebte den Regen, anders als die meisten Menschen. Und so musste ich unweigerlich schmunzeln, als der Geistliche seine Rede endlich beendete und ein letztes Gebet zu sprechen begann.
Tief durchatmend schaute ich hoch zur Kuppel der kleinen Friedhofskapelle und schloss für einige Sekunden die Augen. Es war an der Zeit – an der Zeit, meinen besten Freund an seine letzte Ruhestätte zu begleiten. Schon als ich die Nachricht bekommen hatte, Ben würde heute beigesetzt werden, hatte ich mich dazu entschieden, mich freiwillig als Sargträger zu melden. Ehrensache in meinen Augen. Mein bester Freund hatte es verdient, von mir getragen zu werden. Außer mir gab es nämlich nur noch Annabelle, die ihm näherstand.
Ich war mir sicher, Bens kleine Schwester würde mich dafür hassen, dass ich das tat. Überhaupt dafür, dass ich heute hier war. Doch es war nicht ihre Entscheidung. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie, dass ihr Bruder es so gewollt hätte.
Hier und heute ging es nicht um sie und mich. Es ging nicht darum, was ich damals getan und wie sehr ich sie damit verletzt hatte. Es ging nicht darum, sie hintergangen und verlassen zu haben. Es ging nicht um uns beide. Nicht um das, was damals vorgefallen war. Es ging heute einzig und allein um Ben. Um seinen letzten Willen, seinen Frieden.
Annabelle wusste das. Und so würde sie mich ignorieren und ausblenden, sie würde so tun, als wäre ich gar nicht hier, würde mich keines Blickes würdigen und mich deswegen auch nicht wutentbrannt vom Friedhof jagen. Für sie wäre ich unsichtbar und das war sicher auch besser so.
Noch lange, nachdem der Sarg heruntergelassen worden war und die Gäste gegangen waren, stand ich am Grab meines besten Freundes und starrte hinunter in das dunkle Loch, das ihn verschluckte. Noch immer regnete es in Strömen, doch das machte mir nichts aus. Ich war glücklich darüber. Heiterer Sonnenschein hätte einfach nicht zu Bens Abgang gepasst. Und so tat uns der Himmel den Gefallen und ließ die Sintflut über unseren Köpfen nieder, so wie mein bester Freund es geliebt hatte.
Durch den dichten Regenschleier erkannte ich erst jetzt, dass ich nicht allein war. Annabelle stand direkt neben mir und starrte ausdruckslos hinunter zum Sarg, der mit Erde und unzähligen Rosen bedeckt war. Ich hatte sie schon so lange nicht mehr gesehen, dass ich sie kaum wiedererkannte. Bis eben war sie mir nicht einmal aufgefallen zwischen all den anderen Trauernden und ich hatte auch nicht nach ihr gesucht.
Jetzt aber, da sie direkt neben mir stand, fragte ich mich, wie ich sie bloß übersehen konnte. Natürlich hatte sie sich in den letzten sieben Jahren verändert. Neben mir stand kein sechzehnjähriges Mädchen, hier stand eine junge Frau, die dem Mädchen von damals lediglich ähnelte. Dennoch wusste ich, dass sie es sein musste. Ich erkannte es an ihren wenigen Sommersprossen, die um ihre Nase und an den Wangen leicht aus ihrer Blässe hervorstachen. Exakt dreizehn an der Zahl, genau wie früher.
Annabelle wirkte abgemagert und schrecklich klein und zerbrechlich. Ihr Blick ging ins Leere und ich war sicher, sie nahm mich