Breathe Again. Katie Weber
stumm und reglos am Grab ihres Bruders, während der kalte Regen uns beiden regelrecht ins Gesicht peitschte.
Annie schien nicht traurig. Viel eher wirkte sie wütend und enttäuscht. Auf was oder wen, konnte ich nur raten. Vermutlich aber auf das verdammte Universum mit all seinen physikalischen Gesetzen und unvorhersehbaren Plänen.
Unsicher darüber, ob ich sie ansprechen sollte oder nicht, war es mein Mund, der sich längst selbstständig machte, und ein leises Räuspern verließ meine Kehle. »Witzig, dass es ausgerechnet heute regnet, findest du nicht? Fast so, als hätte Ben das mit Absicht arrangiert«, sagte ich nur halb so locker, wie es klingen sollte. Statt ihr mein aufrichtiges Beileid zu wünschen oder sie einfach in den Arm zu nehmen, machte ich wieder einmal Witze und zog damit die ganze viel zu ernste Situation ins Lächerliche. Das war so schrecklich typisch für mich, dass ich beinahe erwartete, Annie würde zu mir aufschauen und mir ein müdes Lächeln schenken für so viel Taktgefühl. Stattdessen aber passierte nichts. Weder rührte Annabelle sich, noch reagierte sie auf meinen dämlichen Spruch.
Mit größter Mühe versuchte ich mich zusammenzureißen und nur dieses eine Mal ernst zu bleiben, um ihr das zu sagen, was ich eigentlich hatte sagen wollen. »Ich weiß, ich kann dir die Trauer nicht nehmen, und vermutlich bin ich auch der Letzte, den du zurzeit sehen möchtest, doch … Ich wollte dir nur sagen, dass ich für dich da bin. Immer.«
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, klärte sich Annabelles Blick und plötzlich, für einen winzigen Moment, schien sie mich anzusehen. Oder zumindest durch mich hindurch. Da sie jedoch immer noch schwieg, sprach ich einfach weiter. Denn es war mir wichtig, dass sie es wusste. Dass sie wusste, dass ich immer für sie da sein würde, wenn sie mich brauchte.
»Bitte lass mich wissen, wenn ich irgendetwas für dich tun kann. Falls du jemals etwas brauchst … Oder jemanden. Ich werde da sein. Hast du verstanden?«
Fassungslosigkeit paarte sich mit siedend heißer Wut und das einst so warme Apfelgrün wurde dunkler. »Du wirst da sein?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Du meinst, so wie du auch die letzten Jahre für mich da gewesen bist?«
Ich schluckte hart. Annabelle hatte jeden Grund, auf mich sauer zu sein. Ich verstand das. Vor allem jetzt, da sie auch noch ihren eigenen Bruder hatte beerdigen lassen müssen. Und doch wusste ich absolut nicht, was ich auf ihre Frage antworten sollte. Daher tat ich das, was schon so lange überfällig war.
»Es tut mir leid, Annabelle. Ehrlich! Es tut mir aufrichtig leid«, entschuldigte ich mich aus tiefstem Herzen. Schließlich wollte ich sie niemals verletzen, ich wollte ihr nicht wehtun.
»Was tut dir leid, Jonah? Dass du verschwunden bist? Dass du mir dafür niemals eine Erklärung geliefert hast? Oder tut es dir leid, dass du die Frechheit besitzt, mich ausgerechnet jetzt und heute darauf anzusprechen?« Es war purer Hass, der aus ihr sprach. Eine Verachtung, die ich bei ihr so noch nie gesehen hatte.
»Alles davon tut mir leid, Annabelle. Und ich erwarte nicht, dass du mir je verzeihst. Ich wollte nur, dass du es weißt, dass du es von mir hörst. Mehr wollte ich nicht.«
Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »Verschwinde, Jonah! Tu das, was du die letzten Jahre auch getan hast, und lass mich einfach in Ruhe. Du bist schon lange kein Teil meines Lebens mehr und ich bitte dich, belass es auch in Zukunft dabei. Bitte, geh. Geh und komm nie wieder.«
Wie konnte sie das nur einfach so sagen? Gerade jetzt brauchte sie mich, das wusste sie genauso gut wie ich. Dennoch war mir klar, es war nicht der richtige Zeitpunkt, um mit ihr darüber zu diskutieren. Zumal ich ihr den Tag heute nicht noch schwerer machen wollte, als er ohnehin schon war. Ich hatte gesagt, was es zu sagen gab. Meine Worte waren ehrlich und es war mir ernst, dass sie sich auf mich verlassen konnte. Ich würde für sie da sein, wenn sie mich brauchte. Falls sie mich brauchte.
Ich wusste, was ich zu tun hatte, und so zog ich wortlos einen Stift aus meinem schwarzen Sakko, den ich heute früh für alle Fälle eingesteckt hatte, gefolgt von einem alten, verblichenen Foto, das ich aus meiner Brieftasche holte. Es zeigte uns drei. Ben, Annie und mich – als alles noch einfach schien und wir die unzertrennlichen drei Musketiere waren, die wir immer sein wollten.
Ohne lange darüber nachzudenken, was ich tat und ob es das Richtige war, schrieb ich Annabelle meine Handynummer auf die Rückseite des Fotos und reichte es ihr. Sie würde schon verstehen. Dessen war ich mir sicher.
Neun Jahre zuvor
»Hey, Annie, nicht so schnell. Warte auf uns!«, schrie Ben, als er hechelnd und mit sichtlicher Mühe versuchte, seiner Schwester und mir mit seinem Board hinterherzukommen.
»Was heißt hier uns? Du bist der Einzige, der hier so lahm fährt«, korrigierte ich ihn neunmalklug und lachte. »Wenn du noch langsamer machst, kommen wir zu spät zum Essen und wir wissen, wie angepisst eure Mom reagiert, wenn sie warten muss«, sagte ich und erntete ein zustimmendes Nicken der beiden Geschwister, gefolgt von Annies amüsiertem Kichern.
Ben war es nicht gewohnt, auf einem Skateboard zu stehen. Basketbälle waren eher sein Ding. Annabelle hingegen war von Beginn an ein Naturtalent auf dem Board. Gleich nachdem wir es ihr vor zwei Jahren geschenkt hatten, hatte ich es ihr beigebracht. Mittlerweile fuhr sie schneller und sicherer als ich. Überhaupt schien mir, dass dieses Mädchen mit ihren vierzehn Jahren Ben und mich bereits in einigen Dingen überholt hatte. Sie war klüger und intelligenter als jeder andere Mensch, den ich kannte. Selbst ihre Eltern wussten oftmals nicht, worüber sie sprach, wenn sie mal wieder irgendetwas über Neurowissenschaft erzählte. Medizin war Annabelles wahre Leidenschaft, es faszinierte sie wie kaum etwas anderes. Zusammen mit ihrem Interesse für Naturwissenschaften und Literatur war sie zu einem kleinen Genie geworden, das überdurchschnittlich breites wie tiefes Allgemein- und Fachwissen besaß. Es gab selten etwas, das Annie nicht wusste oder nicht zumindest schon mal gehört hatte. Deswegen galt sie auf der Jefferson als der Musterprimus schlechthin, ganz im Gegensatz zu mir.
Meine Noten waren eher durchschnittlich und mein Interesse, daran etwas zu ändern, eher gering. Für mich reichten sie aus. Ich würde ohnehin nie aufs College gehen. Dazu fehlte meiner Mom schlicht das Geld. Deswegen wusste ich, ich würde nach meinem Highschool-Abschluss arbeiten müssen, so wie es meine Mutter damals musste. Sie hatte genauso wenig wie ich die Chance, etwas aus sich und ihrem Leben zu machen, und bereute es heute noch. Manchmal fragte ich mich, ob sie es sogar bereute, so früh mit mir schwanger geworden zu sein.
»Jonah, pass auf!« Annies Schrei riss mich aus meinen Gedanken und noch in letzter Sekunde konnte ich dem plötzlich vor mir auftauchenden Zaun mit einem nicht ganz eleganten Sprung ausweichen und darüber hüpfen. Ächzend landete ich samt meinem Board im weichen Gras von Bens und Annies Vorgarten. Im Hintergrund hörte ich Ben belustigt lachen, während Annie erleichtert ausatmete.
»Geiler Stunt, Alter. Sah fast aus wie gewollt«, sagte mein bester Freund grinsend und reichte mir seine Hand, um mich hoch auf die Beine zu ziehen.
»Klar, war auch volle Absicht. Kennst mich doch«, erwiderte ich lachend, während ich mein Board vom Boden aufhob und Annie mir ein grinsendes Kopfschütteln schenkte, das ich so mochte.
»Ihr seid beide Spinner, das wisst ihr, oder?«, fragte sie mit funkelnden Augen, in denen sich der glühend rote Sonnenuntergang spiegelte. Es war ein unglaublich schöner Sommertag gewesen, einer der unvergesslichen Sorte, obwohl nichts Besonderes geschehen war. Es reichte, dass meine beiden besten Freunde bei mir waren und wir die Zeit zusammen genießen konnten. Mehr als das brauchte ich eigentlich nicht, um glücklich zu sein.
»Und trotzdem liebst du uns, nicht wahr, Sommersprosse?« Zufrieden lächelnd legte ich Annabelle meinen Arm um die Schulter und zog sie zu mir heran, als wir eilig zusammen mit Ben ins Haus gingen, um Mrs. Parker nicht zu verärgern. Doch im selben Moment trat sie mit einer Kamera um den Hals nach draußen und strahlte uns drei wie ein Honigkuchenpferd an.
»Seht mal, was ich heute auf dem Flohmarkt gefunden habe!«, rief sie und redete, ohne unsere Antwort abzuwarten, einfach weiter. »Eine Polaroid! Seht ihr das? Meine Güte, ich bin ja so aufgeregt. Ich wollte schon immer so eine haben!« Annie und Ben tauschten einen vielsagenden Blick und grinsten sich gegenseitig an. Ich kannte meine