Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
ihretwegen nicht in Anspruch zu nehmen. Die ohnehin auf der Anatomie neun Zehntel des Jahres hindurch fehlenden Leichen hatte er dabei in ausreichender Weise durch Tafeln mit Abbildungen ersetzt, welche auf Pappe gezogen die Wände seines kleinen Hörsaals hinter seinem oder vielmehr seiner Gattin Laden schmückten.
In der Mitte des Zimmers, wohin sich der Professor mit seinem Lichte begab, stand ein Tisch mit einem halben Dutzend Stühle umher. Die übrige Einrichtung war nicht genau zu erkennen, denn die Talgkerze gab eine sehr unzulängliche Beleuchtung; aber man sah von den Wänden her die großen Tafeln mit den Bildern halber durchschnittener Menschen, die Gestalten von beklagenswerten Männern und Frauen, denen die Brust oder die Bauchhöhle aufs grausamste bloßgelegt war, und deren Köpfe dennoch in ungebeugter Haltung, mit rot illuminierten Wangen und frischen Augen herüberblickten, als ob sie sich gar nichts daraus machten, daß solch ein kleiner Querschnitt sie von oben bis unten gespalten hatte, wie der Schwerthieb des schwäbischen Ritters unter Kaiser Rotbart lobesam den Türken, und daß man ihnen ins innerste Herz blicken konnte. Daneben hingen ganz entsetzliche Abbildungen von Armen und Beinen, woran alle Sehnen und Nerven bloßlagen, und allerlei andere bildliche memento mori in Gestalt von Heizen, Lungen, Gehirnen und andern sensitiven Organen, die ein armer Sterblicher nun einmal verurteilt ist in dem künstlichen Organismus, der sein leibliches Kleid bildet, mit sich herumzutragen. Als der Professor das Licht auf den Tisch gestellt hatte, fiel der Schimmer desselben so, daß man im Hintergrunde einen in der Mitte geöffneten Vorhang wahrnahm, aus dessen Falten ein weißes Etwas hervorleuchtete, das sich bei näherer Untersuchung, als ein noch unheimlicherer Gegenstand wie alle vorigen darstellte – es war ein weißgebleichtes Gerippe mit einem großen grinsenden Schädel. Einige andere Schädel standen auf einem Bord daneben.
Der Professor nahm eine der Tafeln, legte sie auf den Tisch, und nachdem er aus der Schublade desselben seine Hefte hervorgeholt hatte, setzte er sich seinem Schüler gegenüber, der unterdessen die Schreibmappe offenlegte.
»Also wir standen bei dem Kapitel von den Halswirbeln,« begann der Professor. »Es gibt derselben sieben, und ihr Charakteristikon liegt in dem Loche ihrer Querfortsätze – foramen transversium. Durchbohrte Querfortsätze zeigen sich bei andern Wirbeln nicht. Ihre Gestalt« – der Zeigefinger des Professors fuhr deutend auf die Tafelabbildung, wo sich die Gestalt präsentierte – »ihre Gestalt ist niedrig aber breit, der horizontale Dornfortsatz ist an seiner Spitze in zwei Zacken gespalten. An den gelöcherten Querfortsätzen findet sich ein vorderer und hinterer Höcker – tuberculum...«
Draußen klingelte die Tür, und dann erhob sich eine helle weibliche Stimme mit dem stürmischen Begehren: »Gitt meer enß ä Pund Labberdohn un en Appeltaat.«
»Waat, ehr Lück, ich kumme glich eruus!« schrie der aus seiner Gelehrsamkeit aufgeschreckte Dozent, und nachdem er seinem Zuhörer weiter diktiert hatte: tuberculum genannt; der Dornfortsatz heißt processus spinosus; die Querfortsätze processus transversi – womit das nächste Alinea erreicht war, sprang er auf und eilte in den Laden, wo er eine kleine schwarzäugige Magd vorfand, ihres Laberdans harrend.
»Wat brucht ehr Lück dann dis'en Ovend Fesch zo esse?« sagte der Professor verdrießlich zu der kleinen Magd, während er nach der Wagschale und dem Pfundgewicht griff. »Künnt ehr nit Kaffee drinken – ich hän ä Veedelpund avgewog he lige!«
»Ich bruche keine Kaffee, ich bruche Labberdohn,« antwortete schnippisch die Magd.
Der Professor befriedigte ihren Wunsch; währenddessen traten wieder neue Kunden ein, zwei zumal, und die Vorlesung schien von einer langen Unterbrechung bedroht. Da klingelte es aufs neue, und bald darauf ließ sich ein leiser Tritt auf der Treppenschwelle vor dem Auditorium vernehmen; Bender aber sah durch die halb offengebliebene Tür ein Paar sehr muntere hellblitzende Mädchenaugen blicken.
»Ah, Jungfer Traud,« rief der Student, offenbar erfreut über diesen Wechsel der Dekoration, der ihm, nachdem er so lange ein ödes knöchernes Halswirbelsystem angeschaut, den Anblick eines so hübschen lieblichen Okularsystems gewährte, »Jungfer Traud – kommen Sie nur herein, es ist niemand da außer mir!«
»Warten Sie, Herr Bender,« antwortete eine wohltönende, etwas tiefe, aber sehr angenehme Stimme, »ich will erst hier dem armen Professor helfen, mit den Kunden fertig zu werden.
Damit verschwand Jungfer Traud aus der Türöffnung und schlüpfte in den Laden, aus dem sie den Professor zu seiner unsäglichen Genugtuung in seinen Hörsaal zurücksandte, um die Theorie von den Wirbeln wieder aufzunehmen und jetzt zum Atlas und zum Epistropheus überzugehen, wahrend Jungfer Traud die Kunden befriedigte. Als sie damit fertig war, kam sie leise und geräuschlos in das Zimmer, setzte sich auf einen neben dem Ofen im Hintergrunde stehenden Stuhl – sie wandte den Rücken dem unfern hinter ihr ausgestellten Gerippe zu – und holte dann ein Strickzeug hervor, an dem sie emsig arbeitete.
Die Stunde der Vorlesung verging nun ohne weitere Störungen. Wenn draußen die Haustür klingelte, sprang Jungfer Traud auf und befriedigte das Verlangen der Kinder, Mägde, Handwerkerfrauen und Madamen, welche vor und nach eintraten. Der Professor analysierte ruhig seinen Epistropheus mit dem daransitzenden processus odontoideus – und der Student hörte zu, wenn auch nicht mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Denn sehr oft glitten seine Blicke über seine Schreibmappe und die Tafeln fort auf das junge Mädchen hinüber, wenn sie aus dem Laden zurückkam und für eine Weile wieder in dem Halbdunkeln Hintergrunde saß, wo ihre Züge in einem eigentümlichen rosigen Lichte strahlten, so oft sie sich niederbeugte, um eine gefallene Masche beim Schein der Flamme, der aus dem Ofentürchen hervordrang, wieder aufzunehmen. Jungfer Traud war freilich auch wohl danach geschaffen, die Blicke eines Studenten zu fesseln. Sie war ein schönes schlankes Kind von höchstens 20 bis 22 Jahren mit prächtigen großen Augen, einem ovalen Gesicht, dessen Farbe mehr frisch und gesund als gerade rosig blühend zu nennen war, einem seinen, etwas gebogenen Näschen und einem kleinen Munde mit keck aufgeworfenen Lippen. Ihr dichtes schwarzes Haar trug sie zu einem Nest aufgebunden über dem Scheitel, der schlanke Oberkörper war mit einem eng ihn umspannenden und hoch bis zum Halse hinauf schließenden Jäckchen mit Schößen bekleidet, aus schwarzem Stoffe mit oben engen, an den Ellenbogen weit offenen Ärmeln. Ein weiter Rock von grüner Serge vollendete das Kostüm eines Kölner Bürgerkindes aus den neunziger Jahren – von der schauderhaft geschmacklosen Modetracht von damals war der ehrsame Bürgerstand von Köln noch nicht entstellt.
Traudchen Gymnich hatte eigentlich einige Ähnlichkeit mit dem einzigen Zuhörer des Professors Bracht. Auch er hatte solch eine offene kluge Stirn, solch helle Augen, auch er hatte einen Mund mit aufgeworfenen Lippen; dieses war aber bei ihm so stark der Fall, und harmonierte so mit dem ganzen kecken Ausdruck seiner Züge, daß in seinem von den dichten schwarzen Locken umschatteten Gesicht etwas Leidenschaftliches, fast Wildes lag, was aus den Zügen Traudchen's durchaus nicht hervortrat. Daß er stark und kräftig gebaut, haben wir schon gesagt. Man wurde dadurch verleitet, ihn für älter zu halten, als er in der Tat war. Auch er mochte höchstens 22 bis 23 Jahre haben.
Der Professor spann seine Vorlesung ab und schloß, als es auf der nahen Kirche von Groß-Sankt-Martin halb acht Uhr schlug. Während er ging, seine Tafeln an ihren alten Platz zu bringen, trat der Student sofort zum Ofen, als ob er schon lange danach verlangt, seine Füße an dem Untersatz zu wärmen.
»Traudchen, sind Sie denn gar nicht ängstlich?« fragte Bender, indem er »seine Blicke über sie fort auf den Gliedermann hinter ihr warf.
Traudchen blickte nachlässig nach rückwärts.
»Vor dem?« fragte sie gleichgültig.
»Und den Schädeln, die danebenstehen? Wissen Sie nicht, daß der eine, der große dicke Schädel dort, von einem blutdürstigen Räuberhauptmann herstammt?«
»Ein Räuberhauptmann?« fragte Traudchen – jetzt etwas scheu sich umblickend. »Ich habe das alles so oft hier gesehen, daß ich gar nicht daran denke.«
»Sie haben recht, Traudchen, daß Sie sich nicht fürchten. Es ist sehr töricht, sich vor Toten zu fürchten, die Lebenden sind viel schlimmer. Vor Gespenstern habe ich auch nie Angst gehabt, aber wissen Sie, wann ich mich fürchten würde?«
»Nun?«