Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
Dabei kam ihr der Gedanke, daß es noch einen Zugang zu dem geheimnisvollen Hause gebe. Er lag seitwärts an einer der nach dem Georgsplatz führenden Gassen. Zwei Häuser standen dort, die, mit den Hinterseiten an den alten Bau stoßend, ein ganz schmales Gäßchen zwischen sich freiließen. Das Gäßchen aber war mit einer Holzplanke, die nie geöffnet wurde, verschlossen. Doch eilte Traudchen dorthin. Sie fand, wie sie erwartet hatte, von dem verwitterten alten Brett den Zugang zum Gäßchen gesperrt. Durch eine Ritze an der Seite konnte sie jedoch wahrnehmen, daß der Gang, der eigentlich nur eine Gasse zwischen den beiden Häusern war, auf eine kleine spitzbogige Tür zulief, die in das Gebäude, in welches sie so gern eingedrungen wäre, führte. Draußen, da, wo sie jetzt spähend stand, befanden sich, dem Schmutze der Straße eingedrückt, Fußstapfen, auch Wagenspuren genug. Sie konnten aber von den Vorübergehenden, die an den vergleichungsweise trocknern Seiten der Straße ihren Weg gesucht hatten, gemacht sein. Im Innern der schmalen Gasse, die gepflastert war, suchte Traudchen vergeblich Fußstapfen zu erspähen. Nun wäre sie gern zu dem Hause gegangen, in welchem, wie sie wußte, Hubert Bender wohnte. Sie dürstete nach der Gewißheit, daß er nicht heimgekommen. Aber eine eigentümliche Scheu hielt sie ab. Es war ihr, als würde man den unglücklichen jungen Mann von ihr verlangen, als würde man sie verantwortlich machen für sein Mißgeschick! – –
Es war um diese Zeit oder etwas früher, daß der Professor Anatomiae et Chirurgiae practicae D. Bracht von seinem gewöhnlichen ersten Morgengange aus der Messe in der Minoritenkirche nach Hause heimkehrte. Professor Brachts äußeres Erscheinen in der Öffentlichkeit war stets von einem gewissen Dekorum begleitet, und das Gepräge bürgerlicher Stattlichkeit, welches den Ehrenmännern des verflossenen Zeitabschnittes eigen war, wurde von diesem würdigen Mitglied einer gelehrten Zunft mit jenem Maße von Selbstbewußtsein zur Schau getragen, das freilich mehr Gelegenheit hatte, sich auf der Straße zu entwickeln, als in der mannigfach bedrängten Häuslichkeit.
So sehen wir denn den Professor in sein Museum treten, auf dem gelehrten Haupt eine schöne Mütze von Fuchspelz, von der der lange weichhaarige Schwanz in anmutiger Bewegung auf den Rücken niederhängt; ein kurzer Radmantel von blauem Tuch fließt faltig von seinen schmalen Schultern herab und bedeckt den braunen Tuchrock mit großen Knöpfen von Glasguß; ein graues Beinkleid umhüllt seine bescheidene Lende und hält sich vorsichtig um die Breite einer Hand von den ledernen Teilen des Anzugs entfernt, welche die nicht beneidenswerte Bestimmung haben, den zunächst auf die Berührung mit dem Erdenschmutz angewiesenen Teil des Menschen zu schützen – beim Professor Bracht sind sie geschmückt mit schön glänzenden, gelblackierten Klappen.
So, wie gesagt, tritt der gelahrte Herr durch den Laden in seinen Hörsaal und sieht sich alsbald umringt von einer kleinen Schar Kinder, die aus des Professors Studierstüblein hervorstürzt, das, hinter dem Museum oder Auditorium liegend, die eigentliche Tempelzella ist, welche Zeuge und Schauplatz seiner Anstrengungen im Priestertum der Wissenschaft. Die kleine Bande – es sind zwei Mädchen, so dünn und lang aufgeschossen wie wasserblaue Winden, und ein desto derber aussehender Knabe von sieben Jahren – beginnt damit, den Papa seiner überflüssigen Kleidungsstücke zu entledigen, und während Nieschen und Billchen ihm den Mantel von den Schultern ziehen, hat Drickeschen sich seines spanischen Rohrs bemächtigt; und nach des Vaters Hauptzierde begierig, jedoch nicht imstande, bis da hinaufzureichen, schiebt dies sinnreiche Kind von hinten her so ungestüm mit dem Stocke daran, daß die schöne Pelzmütze dem Papa auf die Nase rutscht.
»Drickeschen, do Lotterbov!« ruft der Professor einigermaßen unwillig aus – »wat mähß do?« Und während Nieschen dem Kleinen den Stock zu entreißen sucht, den dieser mit lautem Schreien verteidigt, fragt der Papa Billchen, weshalb sie überhaupt hier und nicht oben bei der Mama seien.
»Die Mama«, antwortet Billchen, »wollte Ruhe haben und hat uns herabgeschickt in dein Zimmer, da sollen wir bleiben und gut auf dich achtgeben, Papa, daß du das Zeug hängen lässest, das die Magd gestern gewaschen und um deinen Ofen aufgehängt hat.«
Der Professor schreitet in sein Stüblein, aus welchem ihm ein Qualm von Hitze und Wäschedunst entgegenquillt; und in der Tat ist sein getreuer Freund, sein wärmespendender Kachelofen, mit einer Fülle weißer Leinwand umgeben, die an Anzahl der Quadratellen wetteifern kann mit der, womit ein Rangschiffer alle seine Masten bekleidet, wenn er mit günstigem Winde rheinabwärts gegen Emmerich fährt.
Nieschen und Billchen wissen jedoch durch diese nassen Zeugwolken zu schlüpfen, um dem Papa seinen warmgehaltenen Kaffee aus dem Ofenloch zu holen; während Nieschen ihm einschenkt und Billchen die Milch in die Tasse gießt, reitet Drickeschen, die eroberte Pelzmütze auf dem blonden Kopf, das spanische Rohr zwischen den Beinen, in dem engen Stüblein mit einem ganz unnützen Aufgebot von Kräften und Geschrei umher.
»Papa, do solls nit zo vill Zucker nemme, hät de Mama gesaht,« bemerkt Nieschen mit einigem nicht ganz kindlichem Vorwitz.
»Nä, no süch enß, Niesche,« sagt Billchen, »no hät der Papa widder de Sonntagsstievvelen angetrocke, un nit de ahle!«
»Et eß nicks met dem Mann anzofange!« bemerkt Nieschen, mit altklugem Schütteln des Kopfes eine Lieblingsredensart der Mama echoend, und setzt sich auf einen Stuhl ans Fenster, wo sich die fleißige Kleine mit einem Strickstrumpf beschäftigt.
»Papa,« erzählt Billchen nun, »der Drickes well nit en de Schull gonn.«
»Do unadige Jung ... wat geihß do nit en de Schull?«
»Gangk en de Schull«, rät auch Nieschen dringend dem kleinen Mann.
»Ich mag nit!« antwortet Drickes.
»Maach dich av un fang de Möschen em Hohf!« schlägt Billchen nun resigniert dem tobenden Bruder vor.
Aber Drickes ist nicht gewillt, das Feld, welches er zum Schauplatz seiner kindlichen Spiele erkor, zu räumen; im Gegenteil, wie um auch diejenigen Teile des Raums, in welchem sein holdes Selbst nicht weilt, mit dem Nachhall seines Daseins zu füllen, beginnt er jetzt eines jener sinnigen Sankt-Martins-Lieder:
De Drifoß, wi heisch dat Huus,
Et kohm ene Mann met Küchen eruus
Uus dem selvige Mannshuus.
Am Zint Määtens Ovend
Dann maachen de Wiever de Woosch:
Wann meer Geld em Rippet han,
Dann läsche mer uns der Doosch!
Der Professor hält sich vor Verzweiflung die Ohren zu bei den von gellendem Diskant vorgetragenen Ausbrüchen dieser gemütlichen Volkspoesie, als ihm plötzlich eine unerwartete Hilfe für seine gequälten Kopfnerven kommt. Die Tür des Stübleins öffnet sich, rasch aufgerissen, zwei entschlossene Arme fassen den geräuschvollen Drickes an den Schultern und spedieren ihn mitten in seiner Äußerung harmloser Lebensfreude zum Zimmer hinaus; und als Billchen und Nieschen mit dem frohen Ausruf: »Tante Traud – guten Morgen, Tante Traud!« dem jungen Mädchen entgegenhüpfen, werden auch sie jede an einem der respektiven Ärmchen gefaßt und Drickes nach in das Auditorium geschoben, wo sie lärmend protestieren mögen, solange sie wollen – denn Jungfer Traud ist so vorsichtig, sogleich die Tür zu verriegeln.
»Jungfer Traud,« sagte Professor Bracht, erleichtert aufatmend, »setzen Sie sich, Traud, Sie sieht ja ganz aufgeregt aus ..., ist die Sache gestern nicht gut abgelaufen?«
Traudchen erzählte ihm mit geflügelten Worten das ganze Abenteuer der vorigen Nacht.
Der alte Mann sank bestürzt in seinen Sessel zurück.
»Der arme junge Mensch, der arme Bender! Und das mitten in seinen Studiis, eben im neuen Semester!«
Wir wissen nicht, ob es für Hubert angenehmer gewesen wäre, erst nach absolviertem Semesterkursus den Hals zu brechen – für den Professor schien die Tatsache von Erheblichkeit, denn er wiederholte:
»Mitten aus seinen Studiis fort! Es ist ja entsetzlich, Traudchen! Sie müssen zum Gewaltrichter gehen und sich ein Paar Stockknechte mitgeben lassen und dann mit Gewalt in das Haus dringen ...«
Traudchen machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Nur keinen