Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
eigenen Ohren gehört«, versetzte Hubert.
»Marie ... wenn man Sie von hier fortsendet, wenn ich niemand, gar niemand mehr habe, der mit mir spielt und mir diese langen Winterabende, die jetzt kommen, vertreiben hilft, dann halte ich es hier nicht mehr aus, dann bin ich ein unglücklicher Mensch!« wehklagte der Reichsfreiherr, indem er plötzlich in eine Tonart des tiefsten Jammers überging.
Hubert sah ihn mit einem Gesicht an, von dem es schwer zu sagen war, ob sich darin mehr Verwunderung oder mehr Zorn malte. Ein so naiver, so unglaublicher Egoismus war ihm noch nicht vorgekommen. »Aber zum Teufel, mein Herr von Averdonk,« rief er aus, »es handelt sich hier viel darum, wer Ihnen die Abende verkürzt und sich von Ihnen im Kartenspiel übers Ohr hauen läßt! es handelt sich um schändliche Frevel, die in Ihrem Hause, unter Ihren eigenen Augen vorgehen und denen Sie entgegentreten würden, wenn Sie ein Mann wären!«
Statt sich über diese derbe Apostrophe beleidigt zu zeigen, blickte der Freiherr mit melancholischen Blicken Marie Stahl an und sagte: »Es ist wahr, es ist wahr – ich muß der Sache ein Ende machen! Was meinen Sie, wenn ich einen meiner Wutanfälle bekäme, Marie? Sollte es nicht das Beste sein? Sie wissen, das letzte Mal ... nein, Sie wissen es nicht; Sie waren damals noch nicht hier; aber es schlug durch; sie bekam Angst vor mir und zitterte wie ein Espenlaub; ja, sie zitterte, Marie, sie zitterte vor Schrecken; sie wurde ganz kreideweiß; oh, es war eine Freude, es anzusehen, eine wahre Freude ... Ich hätte sie um den kleinen Finger wickeln können, damals; wenn Sie dabei gewesen wären, würde es Ihnen noch sein, als ob es gestern gewesen wäre!«
Und dabei schritt der lange Freiherr im Zimmer auf und ab, rieb sich die Hände vor Vergnügen bei dieser Erinnerung und rief einmal über das andere: »Ich will einmal wieder in Wut geraten, ich will sofort in Wut geraten ... in eine schreckliche Wut!«
Hubert sah fragend nach dem jungen Mädchen hin, diese aber hatte ihren Kopf auf die Lehne des Sofas gelegt, verbarg ihr Gesicht daran und schien zu weinen.
Lactantius von Averdonk blieb jetzt mitten im Zimmer stehen: er sah sich nach allen Seiten wie suchend um; endlich fuhr er hastig nach dem Holzkasten hinter dem Ofen und holte einen Arm voll großer Scheite daraus, die er einzeln mit einem schrecklichen Gepolter gegen die Möbel in dem Räume, warf. Dann nahm er einen Stuhl und schleuderte ihn wider den an der Wand hängenden Spiegel; mit einem furchtbaren Krachen und Klirren stürzten die Glasscherben, der Rahmen, die Bruchstücke des zerschmetterten Stuhls auf eine darunterstehende Kommode mit chinesischen Porzellanvasen nieder, und von dort, durch die Trümmer der Vasen vermehrt, auf den Boden. Dann ging er dazu über, mit den Holzscheiten ein lebhaftes Bombardement gegen den Kristallustre, der von der Decke niederhing, zu eröffnen, daß die Scherben davon nach allen Seiten stoben, klirrten und rasselten.
»Wir wollen einmal in Wut geraten!« schrie Lactantius von Averdonk dabei in einem fort, mit den Zähnen knirschend, mit puterrot aufflammendem Gesicht und immer lauter und toller, und mit den Waffen, welche er ergriffen hatte, um sich fahrend, daß im ersten Augenblick weder Hubert noch viel weniger Marie es wagte, in seinen Bereich zu treten, um ihn an diesem unsinnigen Benehmen zu hindern. Doch sammelte Hubert sich bald und wollte ihm von hinten her den Arm festhalten. Es wurde ihm dazu aber keine Zeit gelassen. Denn während der lange Freiherr so im besten Zuge war, sich mit außerordentlicher Anstrengung in eine gehörige Wut hineinzuarbeiten, und als er just durch einen wohlgezielten Wurf den Kronleuchter so getroffen hatte, daß die Scherben und Splitter wie ein Hagelschauer niederrasselten und nach allen Seiten umhersprühten – wählend das zu Tode erschrockene junge Mädchen sich zu flüchten im Begriff stand und, um nicht von den herumfliegenden Holzscheiten getroffen zu werden, sich an die Mauer drückte: währenddessen öffnete sich plötzlich und rasch aufgerissen eine Flügeltür in der dem Sofa gegenüberliegenden Wand und zwei Personen traten mit einer Hast und den Zeichen von Aufregung herein, welche allerdings in hohem Grade gerechtfertigt waren, wenn sie, wie nicht anders möglich, in irgendeinem nahen Räume des Hauses den Hexensabbat vernommen hatten, den Freiherr Lactantius anstellte.
Die eine dieser beiden Personen war Hubert nur zu wohl bekannt; ja, er kannte dieses Frauenantlitz mit den scharfen Zügen, den harten Blicken unter wimperlosen Lidern her; diese hohe zurückliegende Stirn, gelbfleckig und von leichten Runzeln durchfurcht; diese gebogene Nase, dieses ganze von ergrauenden Locken umrahmte Gesicht; aber freilich, als er es zum ersten Male sah, lag ein anderer Ausdruck, ein Gepräge von Leiden und Kummer und einer gewissen bittern Ergebung darauf; und während sie dann später im Wagen ihm gegenübergesessen, hatte dieses Antlitz nichts verraten als eine eisige Fassung, welche durch nichts in der Welt schien erschüttert werden zu können. Heute aber, in diesem Augenblicke zeigten diese Züge einen andern Ausdruck, den hellsten Zorn. Zorn funkelten diese Augen, Zorn sprach aus den zuckenden Mundwinkeln.
Ihr zuvorgeeilt war ein kräftiger, hochgebauter junger Mann, der Huberts Alter, vielleicht etwas mehr haben mochte; er hatte ein schönes, aristokratisches Gesicht, dem der Dame ähnlich, freiwallende und ungepuderte braune Locken, und trug eine bequeme Haustracht, ein grünes Wams mit kurzen Schößen – man sah, daß er zur Intimität der Dame vom Hause gehörte. Das erste, was er tat, als er den Schauplatz der Wutanstrengungen des Freiherrn erreichte, war, an diesen dicht heranzutreten und den Versuch zu machen, die Arme des tobenden Mannes festzuhalten. Aber Freiherr Lactantius schien nicht gewillt, sich in seinem Vorhaben stören zu lassen, das dahin ging, durch einen grenzenlosen Lärm unzweifelhaft zu beweisen, daß er in Wut geraten sei ... er suchte den jungen Mann abzuschütteln, während er zugleich das Holzscheit, welches er in der Rechten gefaßt hielt, schwang, als wolle er damit seinem Angreifer den Schädel zerschmettern.
»Lactantius! Lactantius!« rief in diesem Augenblick eine Stimme dazwischen – eine helle, schneidende Stimme, in der zwar genug Zorn, Entrüstung, Staunen und Verachtung, zu ganz gleichen Teilen gemischt, lag, deren plötzliche Wirkung auf den Wütenden jedoch darum nicht weniger merkwürdig und zauberhaft war.
Der Reichsfreiherr ließ den erhobenen Arm sinken; es war, als habe der Ruf seines Namens von den Lippen dieser Frau ihn durchzittert von dem Scheitel bis zur Sohle, als habe er seine Kraft gelähmt und ihn gebändigt wie die Hand eines Tierbändigers, die sich auf die Mähne eines brüllenden Löwen legt, wie das Flüstern eines »Wisperers« der ein unbändiges Roß sich dienstbar macht.
Es war eine seltsame Erscheinung, welche der Freiherr in diesem Augenblicke darbot. Sein Gesicht flammte, seine Augen glühten rotunterlaufen, sein Haar sträubte sich in dünnen weißen Strängen um den entblößten Schädel, von dem die hohe Zipfelmütze gefallen war. So stand er wie völlig bezwungen und bezähmt da – aber nicht lange; er schien sich ermannen zu wollen, er erhob die Hand geballt seinem Weibe gegenüber und dann beide Hände und schrie, ihr um einen Schritt entgegentretend: »Ich bin in Wut, Gebharde! Ich bin in Wut ... Wut ... Wut!«
»Und du glaubst, du könntest mir Furcht einjagen mit dem, was du deine Wut nennst? Du glaubst, ich würde fliehen vor deiner ›Wut‹!« erwiderte die Frau mit einer unsäglichen Verachtung und einer verzweiflungsvollen Kaltblütigkeit. Und dabei schritt sie, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken, auf den Tisch vor dem Sofa zu, stützte ihre Hand darauf und blickte mit drohendem Stirnrunzeln auf Hubert, der als stummer Zeuge dieser Szene mit untergeschlagenen Armen zur Seite stand. »Wie kommt dieser Mensch hierhin?« sagte sie, und Hubert glaubte annehmen zu dürfen, daß die gleichmütige Ruhe, womit sie diese Frage stellte, etwas Erheucheltes habe; er bemerkte, daß ihre Stimme ein klein wenig zitterte, ihre Farbe um ein kaum Merkliches bleicher wurde, als sie ihn erblickte und fragte.
»Das wirst du dir am besten selbst beantworten, wie er hierhin kommt«, schrie der Freiherr fast freudig auf, als ob er durch diese Frage wieder einen neuen Strom Wassers auf das Mühlwerk seiner »Wut« bekommen, als ob er es nun plötzlich wieder tosend und brausend von neuem in Gang setzen könne. »Warum hast du diesen Menschen verwunden, überwältigen und gefangen hierher schleppen lassen ... Warum verfolgst du ihn und willst ihn in die Fremde, ins Elend hinausjagen? Warum belügst du mich und gibst an, du habest ihn ...«
Frau Gebharde wandte sich zu ihm. Sie legte ihre Hand um seinen Unterarm, und, wie es schien, mit festem, wie eisernem Griff. »Lactantius!« sagte sie mit ihrer schneidenden Ruhe.
»Was willst du mir?« entgegnete der Freiherr, indem er