Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
Marie Stahls doch eins von denen, die, wenn man sie einmal im Leben erblickt hat, sich unauslöschlich dem Gedächtnis einprägen. Als Franz von Ardey eintrat, erhob sie das Haupt, welches sie auf ihren Arm gestützt gehalten; ein Blick voll tiefer Trauer und Wehmut flog ihm entgegen und senkte sich dann wieder; der junge Mann trat an sie heran, reichte ihr die Hand und sagte: »Gottlob! daß ich Sie allein finde, Marie!«
Allein war sie nun freilich nicht; es war noch ein ganz stattliches, in seinen äußern Umrissen keineswegs derart und also, daß man es hätte allenfalls übersehen können, angelegtes weibliches Wesen da; und dieses Wesen zögerte auch keinen Augenblick, seine Gegenwart geltend zu machen.
»Baron Franz,« sagte es, »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie voraussetzten, wir wären vielleicht nicht allein? Gott soll mir beistehen, Baron Franz, wenn ich ihn jemals abends spät noch hier in meine Stube kommen lasse, den gottlosen Menschen, den Baptist; bei Tage, wenn er einen Auftrag von der gnädigen Frau hat, kann ich ihm meine Schwelle nicht verbieten, dann kommt er freilich ab und zu ...«
»Und macht Ihnen den Hof, Frau Eckenscheid ... räumen Sie's nur ein ...«
»I du liebe Zeit,« versetzte die korpulente Dame, »darauf bin ich nicht stolz – na, genieren Sie sich nicht und reden Sie nur mit der Marie, was Sie ihr noch zu sagen haben, vielleicht ist sie aufrichtiger gegen Sie, wie sie es gegen mir war, denn gegen mir war sie es nicht, und wenn ich eine Silbe davon verstehen tue, was das eigentlich für Geschichten sind, die da oben beim Baron Lactantius vorgefallen und wo die Marie doch dabei war, als es ausgebrochen ist, und wo der kranke Student, wie Baptist sagte, die gnädige Frau mit einem Holzscheid hat schlagen wollen, und wo der verwegene Mensch geblieben sein kann, wenn er nicht wie 'n Rauch zum Schornstein hinausgeflogen ist, so will ich nie nicht selig werden; aber ich bin eine alte Frau, Baron Franz, und Eckenscheid seliger sagte immer: »Deine Eltern haben dir einfach erzogen, Margareth, schlicht und recht, und viel gelernt, außer was das Hauswesen und die Kindererziehung und was die Leinewand angeht, hast du nicht, aber dir bescheiden stille halten, Margareth, das kannst du«, und was das anbetrifft, so hatt' er wohl recht, und wenn Sie jetzt der Marie noch etwas anzubefehlen haben, da sie ja morgen am Tage nach Hause reisen soll, weil ihr Vater, der arme Mensch, krank geworden ist, was immer eine Schickung des Himmels ist, besonders wenn einer mit die Getränke und die Herzstärkungen einen unvorsichtigen Lebenswandel führt, so will ich mir in meinen Eckstuhl setzen, und dann sind Sie ungeniert, Baron Franz.«
»Tun Sie das, gute Eckenscheid«, sagte der Baron Franz, und ließ sie unbehindert ihren Vorsatz ausführen, sich mit einem wollenen Wamsungeheuer, an dem sie strickte, in eine Ecke zurückzuziehen, er hatte unterdes Mariens Hand in die seine gefaßt und seine Blicke tief in die ihren gesenkt.
»Was tun wir, Marie?« sagte er jetzt mit einem tiefen Seufzer.
»Was tun!« versetzte sie mit zitternder Lippe. »Was tun ... wie können Sie noch so fragen, Franz ... Wir müssen scheiden und uns vergessen!«
Dabei barg das junge Mädchen ihr schönes Antlitz in ihren Händen und helle Zähren perlten durch ihre schmalen weißen Finger hindurch.
»Marie,« sagte Franz, indem er eine ihrer Hände von ihrem Antlitz zog und einen leisen Kuß auf die rosigen Fingerspitzen drückte, »Marie, ich bitte Sie, sprechen Sie nicht so ... Vergessen – das ist ein frevelhaftes, sündliches Wort, das gegen Ihre Pflicht ist, denn Sie haben Pflichten gegen mich, Marie, Sie sind meine Braut, und Ihre heiligste Pflicht ist, niemals von mir zu lassen!«
Marie schüttelte den Kopf.
»Es war ein kindischer Traum, dem wir uns hingaben, welche Kraft haben Sie, Franz, die Welt anders zu machen wie sie ist? Der Graf ist unser Herr, und mein Vater ist sein Beamter, der ihm gehorchen muß, will er nicht den Hungertod sterben. Wenn ich heimkehre, wird er mich an seinen Hof bringen müssen, weil der Graf es befohlen hat, daß ich eine Dienststelle dort einnehme; und wenn mein Vater nicht gehorcht, so wird er seinen Willen mit Gewalt durchsetzen. Und bin ich dort gewesen, dann ist mein guter Ruf dahin! Ein Asyl habe ich nicht, keins, keins in der Welt! So bleibt mir nichts übrig, als ohne Ziel und Hoffnung die Flucht zu ergreifen. Und Sie, Franz, was können Sie wider den Willen Ihrer Tante? Sie sind so arm wie ich, so verlassen wie ich, wenn die harte, herrschsüchtige Frau ihre Hand von Ihnen abzieht. Sie sind ihr Geschöpf; sie hat Sie erziehen, studieren, reisen lassen. Sie haben kein Recht auf ihr reiches Erbe; Ihrer Tante freier Entschluß wird es Ihnen, dem Sohne einer Halbschwester, die keine Ansprüche hatte, nur übertragen, wenn Sie ihren Willen tun. Wollen Sie sich in traurige, unermeßliche Kämpfe, in Not und Elend stürzen meinethalb?«
»Ja, Marie,« rief Franz, die Hände ballend und aufspringend, leidenschaftlich aus, »ja, das will ich; mit allen diesen bösen Mächten, mit diesen verhärteten Herzen, diesen Seelen, die der Dämon der ruchlosesten Selbstsucht treibt, will ich kämpfen. Trotz wider Trotz und Härte wider Härte. Bleiben uns nicht Wege zur Rettung? Ich will dich zu deinem Vater begleiten. Wir werden ein Mittel ausfindig machen, dich zu verbergen. Wir werden diesen Studenten dort finden, dem ich auf deine Bitte den Weg zur Flucht wies. Es waltet ein Geheimnis über den Beziehungen meiner Tante zu ihm; weißt du, welche Macht es uns verleihen wird, wenn wir uns dieses Geheimnisses bemächtigen? Es liegt ein Dunkel über der Vergangenheit meiner Tante, das ich nie habe ergründen können; es muß eine Geschichte voll Leidenschaft und vielleicht auch Schuld und strafbarer Verirrung sein. Wer weiß es, ob nicht dieser fremde Mensch, den ich zu deinem Vater gewiesen habe, den Faden dazu in der Hand hält? Es ist zwar nichts, was mich berechtigt, es zu glauben; und doch ist es möglich.«
Aber auf das junge Mädchen schienen seine Worte keinen ihre Trauer lindernden Eindruck zu machen.
Laß mich büßen,« sagte Marie nach einer Pause, »büßen, daß ich töricht war. Daß ich meine Augen verschloß wider das, was sie sehen mußten und nicht sehen wollten. Daß ich hörte, was du mir sagtest, und meinem Herzen nicht gebot, als es begann, in einer wahnsinnigen unglücklichen Leidenschaft zu schlagen. Es ist zu spät; ich kann es mir nicht aus dem Busen reißen; aber vielleicht kann ich es ersticken nach und nach; vielleicht besiegen es meine Vorsätze; vielleicht auch bricht mein Herz darüber, und darum will ich zu Gott bitten!«
»Marie,« fuhr hier Franz von Ardey fast zornig auf, »du brichst mir das Herz durch deine Reden; du bist feig, Marie; du bist kleinmütig; du betrachtest mich wie einen schmachvollen Menschen, der seine Schwüre vergessen und treulos fortwerfen kann, was einst sein Höchstes und Heiligstes war. Du hängst selbstsüchtig deinem Kummer nach, und an meinen denkst du nicht ...«
In diesem Augenblick wurde das Zwiegespräch der beiden Liebenden durch einen Ausruf der Frau Eckenscheid unterbrochen. Die würdige alte Dame hatte ihre Behauptung, daß sie es verstehe, bescheiden still zu sitzen, aufs glänzendste gerechtfertigt. Sie war nämlich, wenn es anders nicht die barste Verstellung und Heimtücke war, was jedoch bei einer so harmlosen Seele nicht im entferntesten wahrscheinlich, über ihrem großen wollenen Wams eingenickt, und in ihrem Schlummer hatte sie allerhand Töne gemurmelt und gegurgelt, die man mit dem nächtlichen Raunen und Gackern bekannter Wasservögel, wenn sie schlummern, hätte vergleichen können. In diesem Augenblicke aber wachte sie auf und rieb sich die Augen, und dann rief sie verwundert aus:
»Aber, Baron Franz, Sie bringen ja das arme Kind, die Marie, zum Weinen! Sie machen ihr das Herz schwer, Baron Franz, und das sollen Sie nicht, denn das leide ich nicht, und jetzt weise ich Ihnen, mit allem Respekt zu sagen, die Tür, daß Sie sich schlafen legen, und die Marie auch, die es nötig hat, von wegen der Reise morgen, wo noch so viel zu tun ist, und die Kragen und Röcke noch nicht einmal gebügelt sind, und es alleweile elf Uhr ist ...«
»Ich gehe schon, ich gehe schon, Frau Eckenscheid«, unterbrach Franz von Ardey die Springflut von Worten, welche ihn bedrohte; und nachdem er Marien die Hand gedrückt und nachdem Marie zu ihm aufgeblickt mit einem Blick voll unbeschreiblicher Innigkeit und Trauer, verließ er rasch das Zimmer.
Achtes Kapitel
Der Vogt zu Elsen und seine Häuslichkeit