Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
war so vollständig, daß sie die unbescheidensten Anforderungen, welche ein romantisches Gemüt an eine poetische Waldesnacht machen kann, zu befriedigen imstande war. Man sah auf vier Schritt Entfernung die Stämme der Tannen und Buchen nicht mehr. Man sah überhaupt nichts, gar nichts, mit Ausnahme der Umrisse der Wipfel, die, wenn Hubert in die Höhe blickte, sich allerdings am Nachthimmel abzeichneten, und mit Ausnahme fürchterlich schwarzer, gigantenhaft über denselben Nachthimmel daherziehender Wolken, die mit einer entsetzlichen Eile einander jagten.
Lebende Geschöpfe schien der Wald nicht zu beherbergen. Es waren weder Wölfe, noch Räuber, noch Bären darin – diese Beruhigung konnte unser Flüchtling sich geben. Nur ein paarmal schien etwas wie ein Wild vor ihm aus dem Gestrüpp aufzubrechen und sich angstvoll zu flüchten ... das arme Tier lief offenbar ebenso erschrocken vor dem Studenten davon, wie dieser vor Frau Gebharde von Averdonk davonlief. Und dann war eine Eule da, die ganz entsetzlich hohle, dumpfe und unangenehme Interpellationen an den einsamen Wanderer richtete und immerzu von Wipfel zu Wipfel vor ihm herflog; Hubert glaubte darin seine alte Freundin zu entdecken, die ihn vor dem Fenster seiner Krankenstube so angenehm unterhalten hatte – es mußte dieselbe sein, denn unmöglich konnte es noch ein zweites Wesen in der Welt geben, das imstande, so fürchterliche Töne auszustoßen. Es war, als sei sie die Hüterin des Waldes und wolle den Studenten durchaus nicht weiter hineinlassen, sondern lieber alle Toten aus ihren Gräbern aufschreien, als zugeben, daß solch ein Menschenkind in ihren stillen Forst dringe.
Der Weg durch den Wald – wenn von Weg die Rede sein konnte, wo Hubert nur immer aufs Geratewohl vorwärts eilte, bald durch Hochwald, bald durch Unterholz, doch zumeist unter hohen Stämmen her – der Weg also führte anfangs eine gute Strecke aufwärts; dann in ebener Richtung fort; dann bergab.
Hubert überfiel, als er so weit gekommen war, das Gefühl einer fürchterlichen Ermüdung. Es ging nämlich bergab über steile Hänge, über Geröll und Geschiebe, das unter seinen Füßen wegkollerte – mehr als einmal fiel er rückwärts nieder und rutschte eine Strecke hinab; mehr als einmal geriet er in eine unentwirrbare Wildnis von Geisblatt- und Brombeerranken und anderm Gestrüpp; und dann waren da scharf zutage tretende Felskanten; feuchte moosige Stellen, wo der Fuß wie in einen Morast einsank. Mit einem Wort, es war eigentlich eine völlige Unmöglichkeit, den Berg hinunterzukommen. Niemand wäre auch hinuntergekommen, der nicht so gewichtige Gründe, vorwärts zu eilen, gehabt hätte wie unser armer flüchtiger Student.
Zum Glücke waren an dieser Seite des Berges die Bäume viel dünner und sparsamer gestellt als vorher jenseits; sie wechselten ab mit niederm Holzaufschlag, und deshalb war die Dunkelheit nicht von so ganz verzweifelter, den Aberglauben eines Türken beschämender Schwärze; Hubert sah jetzt wenigstens so weit, wie sein Arm reichte, ja wohl einige Schuh darüber hinaus; und so erblickte er endlich einen breiten hohen Gegenstand, der für einen Baum zu breit, für ein Haus zu schmal und für einen Haufen aufgeklaftertes Holz zu hoch war. Indem er ihm so nahe trat, um tastend die Hand danach ausstrecken zu können, überzeugte er sich, daß er ein kleines Mauerwerk vor sich habe, welches hier einsam auf dem Bergabhange stand, Hubert nahm an, daß es etwas wie ein Heiligenhaus, ein Kapellchen sei, und als er um die Ecke bog, sah er wirklich eine runde Bogenöffnung vor sich: er trat darunter und befand sich in einem geschützten, gedeckten Raume; mit dem Fuße stieß er an eine Kniebank, todmüde setzte er sich darauf, wickelte sich in den ihm geschenkten Mantel und lehnte sich mit dem Rücken an die nächste Wand. Es war in der Tat eine kleine Kapelle, hier in der verlassenen Waldeinsamkeit vielleicht zum Andenken an irgendein Jagdunglück, einen beim Baumfällen erschlagenen Bauer, einen Raubmord, oder doch sonst als Denkmal eines Unglücklichen errichtet ... aber Hubert kümmerte sich wenig um die Toten, die ihn hier etwa stören konnten, vorausgesetzt, daß ihn der Wind, der Regen und die Lebendigen in Ruhe ließen.
Er suchte zu schlafen, und seine Ermüdung kam ihm dabei so zu Hilfe, daß sich bald der Schlummer seiner Glieder bemächtigte. Er hörte den Wind um die Mauerkanten und das Dach der Kapelle noch eine Zeitlang fortheulen und so melancholisch pfeifen, als ob er ihm eine alte, ganz entsetzlich klägliche Geschichte von dieser Kapelle erzählen wollte; er hörte noch, weit aus der Ferne jetzt, die große Eule wehklagen, als ob sie zum Abschiede ihm ein ganz erschrecklich jammervolles Schicksal in dieser trübseligen Zeit prophezeien wolle; und dann hörte er das alles nur noch ganz gedämpft, wie aus immer größerer Ferne, und endlich hörte er nichts mehr.
Die Sonne stand am Himmel, als er erwachte. Er fühlte sich durch und durch fröstelnd und sprang auf, sobald der Anblick seiner Umgebung ihn zum vollen Bewußtsein zurückgerufen hatte. Die Kapelle, in welcher er sich geborgen, lag, wie er jetzt wahrnahm, nicht über hundert Fuß hoch über einem schmalen Tale, in welchem ein ziemlich wasserreicher Bach dahinschoß und ein betretener Fußweg, den Bach entlang, sich abwärts wand. Hubert stieg zu ihm hinab und folgte dem Wege nach links hin; denn hier wurde, weitab in der Ferne, eine breite Tallandschaft sichtbar, zwischen der Wand des Berges, an welchem er in der Nacht heruntergeklettert war, und der nächsten, ihr jenseit der Schlucht gegenüber aufsteigenden. Nach einer Viertelstunde Gehens lag diese Ebene, von Bergzügen nach allen Seiten umgeben, offen vor ihm. Der Weg führte jetzt beständig abwärts. In der Ebene wurden einige Dörfer sichtbar; auch ein paar schloß- oder kastellartige Gebäude auf den Vorsprüngen der jenseitigen Bergzüge. Aber vergebens blickte Hubert aus nach irgendeinem Menschen, bei dem er sich durch Fragen Rats erholen konnte, wo in der Welt eigentlich er sich befinde. Zu seiner Freude hörte er endlich zu seiner Rechten auf einer waldbedeckten Halde die regelmäßigen Schläge einer arbeitenden Axt. Es war eine unangenehme Aufgabe für einen Menschen, der sich so ermüdet und noch mehr innerlich matt als ermüdet fühlte wie Hubert, aufs neue einen Hang hinanklettern zu sollen – aber er hatte keine Wahl und arbeitete sich langsam empor, bis er der Stelle, woher die Axtschläge schallten, nahe war. Niederes Unterholz verdeckte ihm den Stand des Holzfällers. Er brach sich einen Weg hindurch und sah nun auf einer Lichtung einen Mann im grauen Zwillichkittel, die Axt hoch über seinem Haupt erhoben, um einen mächtigen Schlag zu führen – aber in demselben Moment auch ließ der Mann die Axt zu Boden fallen und griff nach einem neben ihm im dürren Laub liegenden Etwas, das er mit Blitzesschnelle in eine höchst beunruhigende Lage an seiner rechten Schulter brachte; Hubert sah die Mündung eines Flintenlaufs auf sich gerichtet.
Der Student machte unwillkürlich eine Bewegung zur Seite. Dann winkte er mit beiden Händen, um seine friedliche Absicht an den Tag zu legen, und sah zu seiner großen Genugtuung, daß der Holzfäller seine Flinte sinken ließ.
Hubert schritt ihm näher.
»Weshalb wollt Ihr mich denn totschießen?« sagte er, »ich will weiter nichts, als Euch nach dem Wege fragen.«
»So ... nach dem Wege fragen?« versetzte der andere aufatmend, »ich glaubte, es sei der Averdonksche Jäger, und war teufelsmäßig erschrocken. Wohin wollt Ihr? Woher kommt Ihr so früh?«
»Ihr stehlt wohl Holz?« fragte Hubert, statt zu antworten, den Mann, einen Burschen von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit einem schmalen intelligenten Gesicht und kleinen, pfiffig blinzelnden schwarzen Augen darin.
»Wenn man's nicht hat, muß man's eben nehmen, wo man's findet!« antwortete er, sich auf den Lauf seiner Flinte stützend. Aber wohin will der Herr eigentlich?«
»Nach Elsen.«
»Elsen ... ja, das liegt da unten – eine Stunde Wegs, nach Ruppenstein zu.«
»Gottlob!« sagte Hubert, »ich bin also in der Richtung geblieben.« Der Bursche schritt vor ihm her über die Lichtung und durch das Gebüsch, um einen Punkt zu erreichen, wo man den Weg und das Tal überblicken konnte.
»Da unten liegt Elsen!« bemerkte er nach einer Weile, auf einen Ort nach der Mitte des Tales deutend.
»Ich danke Euch«, versetzte Hubert; dann reichte er dem Burschen von dem sehr bescheidenen Sümmchen, das er in seiner Manteltasche gefunden, eine kleine Münze als Trinkgeld und begann den Hang vor ihm hinabzuschreiten.
Er war bald unten, wieder auf demselben Fußwege, den er gekommen und der in ziemlich gerader Richtung durch Ackerfluren auf den Ort zuführte. Elsen lag hoch, auf einer Hügelwellung, und überragte so einen Teil der Talsohle. Es war allerdings nicht viel weiter als eine Stunde; aber der