Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
fragte Schilling, auf Hubert deutend.
»Ja, wer ist er? Lise, hast du ihn nicht einmal gefragt, wer er ist? Die Frau ist zu dumm! Wer ist man?« wandte sich der Vogt jetzt plötzlich barsch an Hubert.
Hubert antwortete nicht; er schien in völlige Teilnahmlosigkeit für alles, was um ihn her vorging, versunken.
»Er ist krank, Schilling«, wandte sich der Vogt an seinen Diener.
»Hat er denn die Nachricht gebracht?«
»Ja, die Marie hat ihn hergeschickt.«
»So bringen Sie ihn in ein Bett.«
»Es wird das beste sein; Lise, bringe ihn in die Fremdenkammer; laß ihn sich zu Bett legen.«
Die stille Frau nahte sich Hubert, und seine Schulter berührend sagte sie leise: »Kommen Sie mit mir; Sie müssen sich legen. Ich will für Sie sorgen.«
Hubert erhob sich mühsam und folgte schwankenden Schrittes der Frau. Sie führte ihn durch das Akten- und Geschäftszimmer zu einer Tür im Hintergrunde, die sie öffnete; in einer freundlichen kleinen Kammer, die Hubert dann betrat, stand ein Bett, zwar ohne Vorhänge, mit dunkelm Kattun überzogen, aber für jemand, der sich so todmatt fühlte wie unser Student, immerhin eine Anstalt von unermeßlicher Wohltätigkeit.
»Wollen Sie etwas genießen?« fragte die Frau; »ich will Ihnen Tee bringen und Brot.«
Hubert nickte mit so freundlicher Miene, wie er sie zu machen vermochte, und die Frau verließ die Kammer wieder; der Student aber begann sofort sich zu entkleiden, um möglichst bald der Ruhestätte froh zu werden.
»Schilling,« sagte unterdes der Vogt in der Amtsstube, »können wir den Termin nicht verschieben? Gegen wen steht er an?«
»Geht nicht, Vogt. Er steht gegen den Krämer Reinerz an, der in den herrschaftlichen Weiden gehütet und die alte Schnat weggepflügt hat. Es sind viele Zeugen geladen, und der Reinerz sagt, er wolle jetzt partout ein Ende mit den Geschichten haben... er hat die große Rechnung an Sie, Vogt«, bemerkte Schilling.
Der Vogt schüttelte schweigend den Kopf. »Die Untersuchung gegen den Kirchbauer wegen der Schlägerei im Samterholz werden wir jetzt auch unter den Tisch fallen lassen müssen«, fuhr Schilling fort.
»Weshalb denn, Schilling?« fragte der Vogt.
»Er hat dem Beer-Isaak den Wechsel abgekauft, den Sie dem Juden im vorigen Jahre unterschrieben haben.«
Der Vogt seufzte und trank seine Tasse aus.
»Will Er eine Tasse mittrinken, Schilling?« fragte er dann.
»Danke, ich bin fertig«, versetzte der Amtsdiener, sich auf den Stuhl setzend, den Hubert verlassen hatte, und eine kurze Pfeife hervorziehend, die er sofort, ohne sich durch die Gegenwart seines Vorgesetzten beirren zu lassen, durch eine aus dem Ofen geholte Kohle in Brand setzte.
»Was machen wir aber nun?« fragte der Vogt nach einer stummen Pause.
»Mit dem Reinerz?«
»Mit der Marie!«
Schilling gab keine Antwort. Er setzte seine Füße auf den Ofenrand und begann große Rauchwolken auszustoßen.
»Den Reinerz müssen Sie laufen lassen,« bemerkte er dann nach einer Pause, »er verklagt Sie sonst und bringt Exekution aus – es ist ein rabiates Subjekt.«
»Mit dem Kirchbauer ist auch nicht zu spaßen!« sagte seufzend der Vogt.
»Lassen Sie mich nur machen, Vogt«, flüsterte nach einer Weile Schilling.
»Was will Er tun, Schilling?«
»Wenn er nicht verurteilt sein will, soll er den Wechsel auf Sie herausgeben«, antwortete der Amtsdiener in demselben Tone.
Der Vogt sah mit einem eigentümlichen Blicke, der etwas von der Dankbarkeit eines Geretteten ausdrückte, zu seinem Amtsdiener hinüber, ohne jedoch durch ausdrückliche Worte auf dessen Vorhaben einzugehen. Nach einer Pause sagte er indes mit einem tiefen Seufzer:
»Ist das nun eine Art, die Gerechtigkeit zu handhaben? Ist das Unparteilichkeit? Kann ich so die Obrigkeit in Respekt halten? Schilling, es ist eine Schande!«
Schilling schwieg zu diesem Ausbruch entrüsteten moralischen Gefühls in seinem Vorgesetzten.
»Da soll ich mit zweihundert Talern Gehalt jährlich, freier Wohnung und acht Klaftern Holz, und was das bißchen Sporteln ausmacht, hier den Vogt spielen und die Gerechtigkeit verwalten. Was ist das für eine Gerechtigkeit, die ich für zweihundert Taler Gehalt liefern kann! Es ist eine jämmerliche Gerechtigkeit, es ist gar keine Gerechtigkeit, Schilling!«
Schilling begnügte sich damit, den Ofen anzuspucken.
»Der Pastor hat auch nicht mehr!« bemerkte er nach einer Pause.
»Der Pastor – was braucht der viel? Und wenn der tauft, so ist's getauft, dabei ist kein Unterschied; wenn ich aber ein Urteil spreche – dabei ist immer ein Unterschied!«
»Leider!« sagte Schilling.
»Zu seinem Vergnügen, für seinen Champagner, für seine Soldaten hat unser Gnädigster Geld,« fuhr der Vogt fort, »aber für seine Beamten nicht, die hungern. Wir sollen die Herren machen; sollen die ersten sein im Ort; sollen Recht sprechen ohne Ansehen der Person – und zweihundert Taler Gehalt – Die Frau ... wollte sagen: die Welt ist zu dumm!«
»Lassen Sie die Marie doch in Gottes Namen in den Hofdienst nach Ruppenstein gehen,« bemerkte Schilling mit einem sarkastischen Lächeln, »eine Gehaltserhöhung werden Sie dann schon mit der Zeit herausbringen, Vogt!«
Ich will's nicht, und ich will's nicht«! rief der Vogt aus. »Ich habe nur das eine Kind, Schilling!«
»Sie sind mitunter recht gern da«, fuhr der Amtsdiener, ohne sich durch des Vogts Beteuerungen stören zu lassen, fort, »Sie haben allerlei Kurzweil! Es wird Ihnen auch, wie es scheint, der Abschied jedesmal recht schwer. Ich habe noch keine gekannt, die zurückgekommen wäre, ohne recht verweint und recht erbärmlich traurig auszusehen!«
Schillings langes Totengräbergesicht nahm bei diesen Worten einen Ausdruck boshaften Hohns an. Der Vogt seufzte, wandelte auf und ab und stieß qualmige Rauchwolken aus.
»Ich kann noch immer nicht glauben, daß die Frau von Averdonk sie von sich läßt,« sagte er nach einer Weile. »Der alte Freiherr hatte ja recht einen Narren gefressen an der Marie; der Mann konnte ja nicht ohne sie sein. Es muß doch einer sein, der für den alten Narren sorgt und ihm die Zeit vertreibt.«
»Er kann ja endlich mal seine Bücherkasten aufschlagen, um Zeitvertreib zu haben«, sagte Schilling spöttisch.
Der Vogt wandte sich, ohne zu antworten, jetzt mißmutig seinen Akten zu; Schilling klopfte seine Pfeife aus und ging, um noch vor Beginn des Termins eine Ladung, die ihm der Vogt übergab, fortzubringen. Daß unterdes in der Angelegenheit Mariens nichts von dem Vogt ohne ihn, Schilling, beschlossen werden würde, darüber konnte er beruhigt sein: der Vogt liebte es, höchst energische Entschlüsse zu verkünden; zur Ausführung pflegte es aber nicht zu kommen.
Unterdes hatte Hubert ein wenig von dem Tee und dem Brot genossen, welches ihm die Hausfrau gebracht hatte. Sie stand dabei und sah mit einem Ausdruck von gutmütigem Mitleid zu, wie er sich daran erquickte. Fragen richtete sie nicht an ihn. Aber sie bemerkte, daß es kaltes und stürmisches Wetter sei, daß die Wege sehr schlecht seien, daß Tee eine rechte Herzstärkung sei, wenn man sich unwohl fühle, daß sie seine Kleider trocknen und reinigen lassen werde. Das alles brachte sie in ihrer stillen sanften Weise, mit einer wahren Duldermiene als seien es höchst bedauerliche Dinge, vor. Hubert wäre, wenn ihm sein Zustand viel Teilnahme für andere Gegenstände übriggelassen hätte, imstande gewesen, darüber gerührt zu werden; so aber erinnerte er sich nur an des Vogts Refrain: die Frau ist zu dumm; und dann dachte er an Marie, deren schönes Gesicht allerdings das ihrer Mutter widerspiegelte, aber so merkwürdig idealisiert und verklärt und vergeistigt; und dann umschwebte ihn dieses Gesicht,