Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking

Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe - Levin Schücking


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bloßen Füßen wies ihm den Weg zum Hause des Vogtes. Erst ging es eine verwitterte Treppe hinan; dann durch einen Torbogen in einer zerfallenden Mauer, die einen hochliegenden, von alten Linden beschatteten Kirchhof umschloß; dann vorüber an einer anscheinend uralten Kirche mit grauen Bruchsteinmauern und einem dicken stumpfen Turme, der es vorzuziehen schien, sein altersgraues Haupt in die Lindenwipfel zu bergen, statt darüber hinaus auf die elenderfüllten Hütten seiner Gemeinde rings um seinen Fuß zu blicken. Hinter dem alten Gotteshause lag ein großes Gebäude, das mit dem Chore der Kirche zusammenstieß; es sah herrschaftlich aus, große Wappen prangten über dem Portal, aber es zeigte Vernachlässigung und Verfall wie alles ringsumher.

      »Da wohnt der Vogt«, sagte der Junge und lief dann spornstreichs davon, als ob der Vogt hinter einem der Leichensteine auf dem Kirchhofe lauere und nun hervorspringen und ihn grimmig strafen werde, daß er seine Wohnung einem Fremden verraten.

      Hubert schritt eine Treppe hinan; die Tür war halb geöffnet und ließ unsern Wanderer in einen breiten Flur treten, auf den rechts und links Türen gingen, während im Hintergrunde eine breite hölzerne Stiege nach oben führte. An der ersten Tür links trug eine Karte die groß geschriebenen Worte: Vogtei Elsen. Die Tür ihr gegenüber zur Rechten war bezeichnet: Parteienstube. Hubert zog vor, an beiden vorüberzuschreiten; hinten, unterhalb der Stiege öffnete sich eben eine dritte Tür, aus der eine große blasse Frau in ziemlich anständigem, reinlichem Morgenkostüm trat; sie trug eine Platte mit Kaffeegeschirr und schritt quer über den Flur, offenbar in der Absicht, die »Vogtei Elsen« in ihrer obrigkeitlichen Tätigkeit durch ein kleines Frühstück zu unterstützen.

      »Wir geben nicht an der Tür; geht mit Gott!« sagte die Frau, als sie den Studenten erblickte; sie sprach auffallend leise und hielt ihre Augen auf die Platte in ihren Händen gerichtet.

      »Ich möchte den Vogt sprechen«, versetzte Hubert, »oder seine Frau ... ich komme nicht zu ›fechten‹, wie Sie vorauszusetzen scheinen!«

      »So kommen Sie herein«, antwortete die Frau, ohne aufzublicken, mit derselben leisen Stimme.

      Sie öffnete die Tür, hinter welcher sich die Vogtei Elsen befinden sollte, und Hubert folgte ihr hinein. Es war ein großes, von der Hand des Tünchers geweißtes und von der Hand der großen Farbenkünstlerin Zeit braungrau überzogenes Zimmer; Aktengestelle erhoben sich an den Wänden, ein langer Tisch stand in der Mitte, und in einem Armstuhl zwischen dem Tische und dem Ofen, aber das Gesicht dem Ofen und den Rücken dem Tische mit seinen Aktenbündeln und Tintenfässern zugewandt, saß ein kleiner dicker Mann in einer gestrickten Jacke, ein schwarzes Käppchen auf dem Kopf. Er stieß aus einer langen Pfeife dicke Rauchwolken von sich, die das ganze Gemach mit einer keineswegs duftigen und angenehmen Atmosphäre füllten.

      »Bringst du nun endlich den Kaffee, Lise?« sagte der Mann mit einem mürrischen Tone. »Ist Schilling da?«

      »Es ist nicht Schilling, es ist ein Fremder!« antwortete schüchtern die Frau.

      »Ein Fremder? Was will der denn jetzt schon?«

      »Er will dich sprechen.«

      Erst jetzt wandte der Vogt sich so viel, daß sein Profil über seiner rechten Schulter auftauchte. Das Gesicht war das eines ältlichen Mannes mit kleinen grauen Augen, einer Flaschennase und sehr dicken Lippen, von denen die untere wie ein breites Symbol ewigen Mißvergnügens tief herniederhing.

      »Kommt hierhin, an den Ofen,« sagte der Vogt, »soll ich mir Euretwegen den Hals verrenken? Was wollt Ihr mir sagen?«

      Hubert trat ihm näher und warf sich dann, ohne eine Einladung abzuwarten, auf einen in der Nähe des Ofens stehenden Stuhl.

      »Erlauben Sie, daß ich mich setze,« sagte er tief aufatmend; »ich kann nicht mehr! Ich bin müde wie der Ewige Jude!«

      Der Vogt heftete eine Weile seine kleinen grauen Augen auf ihn; das Resultat seiner prüfenden Beobachtung schien kein sehr günstiges zu sein; wenigstens erhellten sich seine mürrischen Züge nicht.

      In der Tat sah Hubert Bender nicht sehr vertrauenerweckend aus. Die Flucht durch den nächtlichen Wald hatte seinen Anzug ebenso gründlich ruiniert, wie die Krankheit und die jetzige Erschöpfung seine Züge entstellt hatten, die auffallend bleich und leidend aussahen; dazu kam, daß sein jugendlicher Bart seit mehreren Tagen nicht geschoren war und daß sein dichtes Haupthaar einem unzivilisterten wilden Gestrüpp so ähnlich sah, wie nur irgend nötig, um den Eindruck einer vollständigen Verwilderung hervorzubringen.

      »Nun, schenk doch den Kaffee ein, Lise ... die Frau ist zu dumm!« sagte der Vogt, seine Blicke von dem Fremdling abwendend, und zwar mit einem Ausdruck, der andeutete, als habe er vollständig begriffen, wie er mit diesem Menschen daran sei, »schenk den Kaffee ein, und dann sende hinüber zu Schilling, er solle kommen.« Nachdem er dann schweigend einige Züge aus seinem Pfeifenrohr getan, wandte er sich wieder an Hubert mit der Bemerkung: »Sie sind aus irgendeinem Gefängnisse entwischt! Was wollen Sie bei mir?«

      »Es geht doch nichts über den richtigen Instinkt eines Polizeibeamten!« erwiderte Hubert mit mattem Lächeln. »Es ist in der Tat beinahe so, mit dem Unterschiede nur, daß mein Gefängnis bis jetzt eine Krankenstube war. Eine Krankenstube auf Haus Dudenrode. Ich bin am gestrigen Abend daraus entflohen. Ihre Tochter Marie hat mir dabei geholfen; sie hat mich hierhin gewiesen.

      Der Vogt schlürfte, während Hubert so sprach, seinen Kaffee und schaute über den Rand der Tasse fort den Fremden mit höchst bedeutsamen Blicken an. Hubert hatte seinen Mantel zur Erde niedergleiten lassen; er stützte den Arm auf die Stuhllehne und das blasse Haupt auf die Hand; in der stark geheizten Stube fühlte er sich in der Tat plötzlich ganz unsäglich matt und elend, und jedes Wort, welches er sprechen mußte, kostete ihm eine Anstrengung.

      »Also meine Tochter hat Sie hierher geschickt?« fragte der Vogt.

      »Ja, sie wird selbst kommen, vielleicht heute noch, und es Ihnen bestätigen. Sie wird das Haus der Frau von Averdonk verlassen. Sie wird zu Ihnen zurückkehren.«

      »Zurückkehren?« rief der Vogt aus. »Und weshalb?«

      Hubert schwieg, er machte nur eine Handbewegung, wie um anzudeuten, daß er keine Rechenschaft darüber geben könne.

      »Frau, hörst du das?« wandte sich der Vogt an die stille blasse Frau, die schweigend an der andern Seite des Tisches stand und zuhörte, »Marie soll zurückkommen ... da haben wir die Bescherung!«

      »Dann will ich ihr Zimmer in Ordnung bringen,« sagte die blasse Frau leise.

      »Ihr Zimmer in Ordnung bringen! Als ob damit alles gut sei! Die Frau ist zu dumm!« setzte der Vogt murmelnd hinzu, und die Hände ineinander verschränkend, den Oberkörper vorbeugend, blickte er mit einem zornigen Gesicht den Ofen an.

      »Ich werde sogleich nach Dudenrode gehen müssen«, hub er nach einer Weile wieder an; »ich werde der gnädigen Frau Raison beibringen. Sie muß die Marie bei sich behalten. Was soll das geben, wenn die Marie hierher kommt! Es gibt ein Unglück, Lise ,.. nein, ich meine Schilling – da ist endlich Schilling, ja – es gibt ein Unglück, Schilling!«

      Diese letzten Worte waren gerichtet an ein grobknochiges, langes, mageres Individuum, das ein abgeschabter Rock mit stehendem, hellblauem Kragen und ein rundes, silbernes Schild auf der linken Brust als irgendein Anhängsel und dienendes Glied der vogteilichen Gewalt in dem Dorfe Elsen bezeichneten.

      »Was ist denn vorgefallen, Herr Vogt?« fragte Schilling, der eine scharfe Diskantstimme und ein Leichenbittergesicht mit tiefeingefallenen Wangen hatte.

      »Schilling, meine Tochter soll zurückkommen!«

      »Das geht nicht, Vogt«, sagte Schilling sehr bestimmt, den Kopf schüttelnd.

      »Freilich geht es nicht. Darum will ich sogleich nach Dudenrode und es der Frau von Averdonk vorstellen. Er kann mitgehen, Schilling.«

      »Das geht auch nicht, Vogt. Es ist heute morgen Termin.«

      »Termin, ja, es ist Termin; und vor drei Uhr ...«

      »Werden wir nicht fertig«, fiel Schilling ein.


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