Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
gelaufen; er hatte nichts gefunden, als dicht am Schloßgebäude eine schwere Tür von Eichenbohlen, an welcher er bereits beim eisten Rundlauf an dieser verzweifelten Mauer entlang gerüttelt hatte. Sie schien den einzigen Ausgang aus dem Garten zu bilden, mit Ausnahme einer nicht weit davon entfernten, in das Gebäude selbst führenden Glastür, durch welche Hubert jedoch nicht denken konnte zu dringen. In der Nähe dieser Glastür glaubte er jetzt einen dunkeln Gegenstand wahrzunehmen, der mit einem auf der Lauer stehenden menschlichen Wesen eine höchst beunruhigende Ähnlichkeit hatte. Und in der Tat, er hatte sich nicht getäuscht ... Die Gestalt bewegte sich, sie mußte ihn ebenfalls wahrgenommen haben, denn sie kam einige Schritte näher auf ihn zu.
Hubert nahm die Flucht. Er lief davon, er lief so schnell, wie seine Glieder ihn tragen wollten. Leider waren diese Glieder geschwächt von der Krankheit; leider waren sie bald ermattet, um so mehr, als für ohnehin zusammenbrechende Knie der Lauf über weiche, vom Regen durchtränkte Gartenbeete eine höchst lähmende Aufgabe ist. Er hörte mit Schrecken, wie der Verfolger ihm immer näher kam.
»Um Gottes willen,« rief er halblaut hinter ihm, »stehen Sie doch! Ich will Ihnen ja helfen ... stehen Sie doch und vertrauen mir!«
»Wenn das wahr ist, warum sagten Sie es nicht gleich?« versetzte Hubert, der jetzt, an der Stimme zumeist, den jungen Mann erkannte, welcher vorhin mit Frau von Averdonk zugleich in das Zimmer des Freiherrn getreten war.
»Weil ich erst wissen wollte, ob es nicht einer von unsern Leuten sei, der nach Ihnen spähe. Ich habe keine Lust, mich zu verraten, daß ich mich hierhin geschlichen habe, um Ihnen mit einer Leiter über die Mauer zu helfen.
»Mit einer Leiter?«
»Sie steht dort hinten in der Ecke. Kommen Sie, aber machen Sie rasch, ich höre Stimmen, man kommt ...«
In der Tat wurden jetzt jenseit der Mauer, in der Gegend eben jenes Tores Stimmen laut, dazu Geheul und Gekläff von Hunden, und ein Lichtschimmer fiel über die Mauer herüber.
Der Fremde zog Hubert hastig nach dem nächsten Winkel der Gartenmauer fort. »Hier habe ich die Leiter aufgestellt,« sagte er, als sie dort angekommen waren. »Aber warten Sie noch, nehmen Sie dies erst.« Und mit diesen Worten warf der Fremde Hubert einen leichten Radmantel, den er trug, um die Schultern, setzte ihm seine eigene Jagdmütze auf und indem er flüsterte: »In der Tasche des Mantels ist etwas Geld ... flüchten Sie zum Vogt von Elsen, verbergen Sie sich bei dem, bis Sie weiter können, vertrauen Sie sich ihm an«, unterstützte er den Studenten, bis dieser den Mauerrand erklommen hatte; dann schob er ihm die Leiter nach, die, oben von Hubert gefaßt, rasch von ihm nach der äußern Seite hinabgelassen wurde.
»Wohin, sagten Sie, soll ich gehen?« flüsterte Hubert jetzt von oben herunter.
»Zum Vogt von Elsen, Mariens Vater; sagen Sie ihm, das junge Mädchen habe Sie an ihn gewiesen!« antwortete der Fremde und entfernte sich rasch.
Wenn er bei seinem Rettungswerke nicht ertappt sein wollte, so war es freilich hohe Zeit, daß er sich aus dem Staube machte. Durch das Gartentor waren eben mehrere dunkle, von dem Schein einer Laterne beleuchtete Gestalten eingedrungen, und eine Anzahl wüster Rüden stürzte sich in toller Aufregung daher.
Hubert dankte seinem Schöpfer, daß er geborgen sei. Er war die Leiter jenseits hinabgestiegen, er stand am Fuße der Mauer, und jetzt lag zwar eine dunkle Tiefe vor ihm, eine Art Abgrund; als er aber ohne sich lange zu besinnen, diesen Abgrund hinunterstieg, nahm er wahr, daß nichts Gefährliches und Schreckliches an demselben sei; wenn auch der Boden, aus losem Geschiebe und Steingeröll bestehend, unter seinen Füßen wegkollerte, so war doch Gestrüpp und Holzaufschlag genug da, um sich daran festhalten zu können, und so kam der flüchtige Student wohlbehalten in der Tiefe an, übersprang hier einen schmalen Bach, einen höchst bescheidenen Wasserfaden, in welchem er auf keinen Fall hätte ertrinken können, wenn er auch das Unglück gehabt hätte, mitten hineinzufallen, und klomm an der andern Seite eine von Hochwald bedeckte Hügelwand empor.
Siebentes Kapitel
Frau Gebharde und ihr Neffe
Der Retter Huberts trat nach einer Weile, wie von einer ganz andern Seite des Gartens herkommend, den heraneilenden Leuten mit den Hunden und der Laterne entgegen.
»Ihr werdet nichts von ihm entdecken,« sagte er zu den Leuten, »im Garten ist er nicht, ich habe überall gesucht – ist das Baptist, der da die Laterne trägt? Leuchte Er mir, Baptist, ich will ins Haus zurück.«
Er stieg die Treppe hinauf und ging oben über einen Korridor; dann öffnete er eine Flügeltür und trat in ein ovalrundes großes Zimmer, das mit einem hohen Schirm an der Tür vor dem Luftzug geschützt war. Als der junge Mann um den Schirm herum trat, sah er die Freifrau Gebharde vor sich, die in einem bequemen Lehnsessel ruhte, zwischen dem Ofen und einem großen Tische, der mit Büchern, Papieren, Aktenheften und allerlei andern auf eine männliche Beschäftigung deutenden Gegenständen bedeckt war. Im Hintergrunde des Zimmers schritt der lange Freiherr auf und ab, bewehrt mit einer frischen, steilrecht in die Luft ragenden Zipfelmütze, welche, da der große Raum von einer Schirmlampe nur sehr unvollständig beleuchtet war, bald in den dunkeln Hintergründen des Gemachs wie ein untergehender Mond erblich, bald, wenn die lange Figur sich dem Lichtkreise der Lampe wieder nahte, aufs neue blendend auftauchte.
Dame Gebharde fixierte den Eintretenden eine Weile; sie sah ihm scharf und mißtrauisch forschend ins Gesicht. Der junge Mann zeigte alle Spuren, daß dieser Blick ihm drückend und unangenehm sei; er wechselte unter demselben die Farbe und warf seine Augen im Zimmer umher, als ob er irgendeinen Gegenstand suche, auf dem er sie mit einem wenn auch nur schwachen Anschein von Interesse haften lassen könne.
»Franz!« sagte die gestrenge Freifrau endlich.
»Meine Tante?«
»Solltest du denn nicht recht gut wissen, wer eigentlich Marie Stahl von hinnen sendet? Solltest du in der Tat verblendet genug sein, mir Vorwürfe darüber zu machen, daß ich etwas tue, was ich keinen Tag länger aufschieben darf? Soll ich Marie Stahl etwa hier lassen und still zusehen, wie sie meinem Neffen den Kopf verdreht, wie die stille Unschuld ihn mit kleinen koketten Manövern in ihr Netz einfängt, bis er umstrickt ist und ...«
»Meine Tante, was sagen Sie da ... welche Behauptung, welcher Vorwurf ...«
Der lange Freiherr Lactantius hatte seinen maschinenhaften Wandelgang im Gemache auf und ab unterbrochen; er stand hinter dem Rücken des Neffen still, schaute ihm mit seinem langen blassen Gesicht, seinen runden Augen, seiner hohen Zipfelmütze wie ein Gespenst über die Schulter, und warf einen Blick auf seine Gattin, in welchem diese etwas von schadenfroher Schlauheit hätte aufblitzen sehen können, wenn sie überhaupt es der Mühe wert gefunden, nach ihm zu sehen. So aber würdigte sie keinen der beiden einer weitern Beachtung, weder den bleichen Gatten noch den hochroten Neffen, und fuhr mit derselben eisigen Kälte fort:
»Sie soll mir nicht die Pläne zunichte machen, welche ich für deine Zukunft habe und in kurzer Zeit ausgeführt sehen will!«
Der Neffe wandte sich mit einem Achselzucken des Unwillens ab und warf sich wieder in seinen Sessel, ohne ein Wort zu entgegnen.
»Darf ich fragen, welches die Entschlüsse sind, welche meine gnädige Tante, wie Sie eben andeuteten, für meine Zukunft gefaßt hat?« bemerkte er dann mit großer Bitterkeit.
»Es ist kein Grund da, sie dir vorzuenthalten«, versetzte die Dame. »Lactantius,« wandte sie sich an diesen, »es wird gut sein, wenn du dich in dein Schlafzimmer begibst. Nach deinem Anfall von vorhin haben deine aufgeregten Nerven der Ruhe nötig. Begib dich zu Bett.«
Lactantius von Averdonk nahm schweigend wie ein wohlerzogener Knabe, den man zum Zimmer hinausschickt, einen Leuchter von einem Spiegeltisch und zündete ihn an der Schirmlampe seiner gestrengen Gebieterin an. Dann murmelte er ein demütiges »Gute Nacht« zwischen den Zähnen und verschwand durch eine Nebentür.
»Ich