Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
Ich muß dich für geisteskrank erklären lassen und für deine Unterbringung in einer Anstalt, wo man die Narren zu bändigen weiß, Sorge tragen. Du weißt, daß ich leider seit langem habe vorbereitet sein müssen auf das Eintreten eines solchen Ereignisses ...«
Statt über diese Worte in neue Entrüstung zu geraten, verlor der Freiherr bei ihnen plötzlich seine hochrote Farbe; er ließ seine Arme schlaff niedersinken und sah mit Blicken, die anfingen, nur noch Schrecken und Furcht auszudrücken, seine Gattin an.
»Dein Verstand hat offenbar gelitten«, fuhr diese fort. »Du begreifst die einfachsten Dinge nicht mehr. Gestehe es, in deiner Seele verwirrt sich das Klarste und Offenbarste, und du vergissest, was du noch am vorigen Tage hörtest, oder läßt es aufs abenteuerlichste mit deinen kranken Träumereien sich vermengen.«
»Nein, nein!« rief Lactantius entsetzt dazwischen, »ich begreife alles ...«
»Tu vergaßest, daß ich diesen Menschen dort auf meiner letzten Reise verwundet, bewußtlos, im heftigsten Fieber unter einer Hecke am Wege liegend fand und ihn mit mir nahm, aus bloßer Barmherzigkeit, um ihn zu pflegen, daß ich ihn abgesperrt halten ließ, weil seine Krankheit eine ansteckende sein konnte ...«
»O nein, nein, ich weiß es, ich weiß es, Gebharde«, rief der Reichsfreiherr, sich matt auf einen Stuhl werfend und dann flehentlich seine Hände erhebend, aus.
»Du vergaßest aber, daß ich deshalb verboten hatte, sich ihm zu nähern und sich um ihn zu kümmern ... er ist hier ... du mußt ihn aufgesucht haben!«
»Ja, das vergaß ich allerdings, Gebharde; ich führte ihn hierher, um einen Spielpartner an ihm zu haben ...«
»Ist Marie Stahl nicht bei dir? ...«
»Marie Stahl ... ja, aber du willst sie von hier fortsenden ... willst sie wegschicken, damit ...«
Frau Gebharde fiel ihm ins Wort. »Beginnt dein Wahnsinn wieder?«
»Er sagt's«, wagte Lactantius schüchtern mit einer Kopfbewegung nach Hubert hin einzuwerfen.
»Also ein Wort dieses auf der Straße aufgelesenen Menschen, der die Phantasien seiner Fieberträume hier für Wahrheit auszugeben scheint, reicht hin, dich glauben zu lassen ...«
»Nichts, nichts ...«, rief der Reichsfreiherr dazwischen, »du hast recht, Gebharde, er hat phantasiert und geträumt, du hast recht. Vergib mir!«
»Dir will ich vergeben,« versetzte Frau von Averdonk, »aber nicht denen, die dich in diesen Zustand versetzt haben, die dir Dinge vorschwatzten, welche bei dir zu so verhängnisvollen Anfällen führen ... Marie Stahl!« wandte sie sich an das junge Mädchen, »ich weiß nicht, welchen Anteil du daran hattest, wieviel du tatest, diese abscheuliche Szene hervorzurufen, aber damit ich sicher bin, daß so etwas nicht wiederkehret, verlässest du morgen mein Haus!«
»Tante ... ich bitte Sie, Tante ...« fiel hier entsetzt der junge Mann ein, der sich während des Vorigen Marien genähert und, wie nur Hubert bemerkt, dieser rasch ein paar Worte zugeflüstert hatte.
Die zürnende Frau wandte sich zu ihm; sie maß ihn von oben bis unten mit einem stolzen und kalten Blicke, der die volle Gewalt zu haben schien, jedes weitere Wort auf seiner Lippe ersterben zu machen. Dann richtete sie ihr drohendes, gebieterisches Antlitz Hubert zu.
»Er«, sagte sie, »wird sich sofort dahin zurückbegeben, wohin ich Ihn habe weisen lassen. Für die Lügen, welche Er hier vorgebracht zu haben scheint, werde ich Ihn strafen zu lassen wissen ...«
»Lügen ... strafen?« rief jetzt Hubert mit von Zorn flammendem Gesichte aus und trat der hochmütigen Frau kühn einen Schritt entgegen.
Diese aber wandte ihm den Rücken, und mit den Worten an ihren Neffen: »Franz, rufe augenblicklich Baptist und den Jäger herbei ... augenblicklich ... du, Lactantius, folgst mir!« rauschte sie stolz und heftig zur Tür hinaus. Der junge Mann folgte ihr, um ihren Befehl zu erfüllen, der lange Freiherr aber schritt gebeugt und wie gebrochen hinter ihr drein.
Nur noch Marie Stahl und Hubert standen im Zimmer.
»Dem ist die Komödie, die er aufführen wollte, schlecht bekommen!« rief Hubert mit einem bittern Lächeln des Hohns und der Verachtung aus, als der Freiherr verschwand. »Adieu, Demoiselle Marie – ich hoffe, es ist dies erste nicht das letzte Mal, daß wir uns sehen – ich wäre glücklich, wenn ich denken dürfte, wir sind Freunde von nun an, nach dieser Szene, die wir zusammen erlebten! Daß meine Warnung für Sie nur zu begründet war, haben Sie jetzt gesehen. Adieu, Adieu!« »Wohin wollen Sie?« fragte zitternd vor Aufregung das junge Mädchen.
»Irgendwohin, wo ich vor der Rachsucht dieses gereizten Weibes sicher bin – zu irgendeiner Tür oder einem Fenster hinaus ...«
Hubert eilte bei diesen Worten zum nächsten Fenster und öffnete es hastig, um einen Blick hinauszuwerfen; Regen und Nachtwind schlugen ihm entgegen; dunkle Wolkenmassen, die über den Mond fortgepeitscht wurden, verdoppelten die Schatten der Nacht; es war weiter nichts zu erkennen, als daß unter dem Fenster sich ein Garten befinde. »Läuft nicht ein Spalier an der Wand hinauf, mir scheint es!« flüsterte er Marien zu, die hinter ihn getreten war.
»Ein Spalier läuft allerdings an der Mauer entlang; aber es reicht nicht bis an diese Fenster.«
Hubert antwortete nicht; er trat an den Tisch zurück und riß die lange grüne Tuchdecke, welche darauf lag, herab, während Marie rasch genug herbeisprang, um einen der beiden brennenden Leuchter zu retten, daß er nicht fortgeschleudert werde, wie die Trümmer des Kronleuchters fortgeschleudert wurden, die auf der Decke lagen. Dann eilte Hubert ans Fenster zurück, wo er in dem geschlossen gebliebenen Flügel eine Scheibe einstieß, sodaß er den Zipfel der Decke an diesen Flügel festknoten konnte.
Er schwang sich ins Fenster.
»Mein Gott, mein Gott, was tun Sie?« rief Marie Stahl aus. »Sie werden umkommen ... nehmen Sie sich in acht ... nehmen Sie sich Zeit... ich werde die Tür schließen«, und zugleich flog sie der Flügeltür zu, um den Nachtriegel vorzuschieben.
Hubert hing bereits mit seinem ganzen Körper frei in der Luft. Er ließ sich an der Decke niedergleiten; sie war lang genug, daß er, ans Ende gekommen, immerhin sich hätte fallen lassen können, ohne sicher zu sein, den Hals zu brechen. Daß seine Füße jedoch in diesem Augenblick die Latten eines Spaliers berührten, war desto beruhigender und erfreulicher für ihn. Er konnte daran niederkletternd den Boden erreichen, ohne sich irgend verletzt zu haben. Die Folgen seiner Flucht trafen bloß einen Spalierbaum, dessen Äste er zerbrach. Als er sicher auf festem Boden stand, blickte er empor. Er sah, wie Marie die Decke wieder hereinzog, das Fenster schloß und dann die Vorhänge dicht vorzog.
»Das schöne Geschöpf hat Geistesgegenwart«, sagte er sich dabei. »Sie will mir den Rücken decken; vielleicht ist sie auch so klug, die Verfolger auf eine unrichtige Fährte zu schicken. Desto besser. Aber nun – wohin?«
Die Frage war allerdings nicht leicht zu beantworten, in einer Nacht, so dunkel wie diese.
Hubert entfernte sich fürs erste mit langen Schritten durch den nächsten Gartenpfad, den er auffand, von dem Schlosse, das bald in breiter umfangreicher Masse hinter ihm lag. Als er ein paar hundert Schritte weit gekommen war, sah er plötzlich eine hohe Mauer vor sich. Die Mauer wollte nicht aufhören; umsonst schaute Hubert ängstlich zu den Obstbäumen auf, welche ihr zunächst standen und deren Kronen sich am Nachthimmel abzeichneten; aber es war keiner da, der einen starken Ast so über die Mauer gestreckt hätte, daß er dem Studenten eine Möglichkeit geboten, den Mauerrand zu erreichen. Und doch wurde es mit jeder Minute dringlicher, da hinüberzukommen.
Sicherlich suchte man Hubert Bender jetzt noch im Gebäude selbst – es irrten Lichter hastig an den Fenstern vorüber, in dem Gebäudeflügel, an dessen Ende seine Krankenstube lag. Wenn man jedoch von dem vergeblichen Suchen, da oben abließ, wenn man anfing, die Umgebung des Schlosses zu durchsuchen und dazu die Hunde entfesselte – Hubert hörte jetzt schon vom Hofe und von den Vordergebäuden her Hunde anschlagen und es klang ihm durch Mark und Bein ... er hatte vor diesen Bestien einen ganz eigentümlichen Respekt bekommen