Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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den schließlichen Sieg des Volkstums, ohne indes den Mut zu besitzen, durch seinen Widerstand diesen Sieg zu fördern. Aristides horchte gewöhnlich an den Türen der Unterpräfektur, um genau unterrichtet zu sein. Er fühlte, daß er im Dunkeln tappe, und klammerte sich an die Nachrichten, die er der Verwaltung stahl. Die Ansicht des Unterpräfekten überraschte ihn, aber er blieb nichtsdestoweniger sehr verwirrt und unentschlossen. Er fragte sich: »Weshalb geht er, wenn er des Unterliegens des Prinz-Präsidenten so sicher ist?« Da er indes einen Entschluß fassen mußte, entschied er sich dafür, seinen Widerstand fortzusetzen. Er schrieb einen sehr heftigen Artikel gegen den Staatsstreich und brachte ihn noch am nämlichen Abend zum »Unabhängigen«, um ihn am folgenden Tage erscheinen zu lassen. Er hatte eben den Abzug dieses Artikels durchgesehen und ging nach seiner Wohnung, als er durch die Banne-Straße kommend unwillkürlich den Kopf erhob und nach den Fenstern der Rougon blickte. Die Fenster waren hell erleuchtet.

      Was sie da oben wohl zusammenbrauen mögen? fragte sich der Journalist neugierig und besorgt.

      Eine wahnsinnige Neugierde erfaßte ihn, die Meinung des gelben Salons über die neuesten Ereignisse kennen zu lernen. Er hielt nicht viel von dem Verständnis dieser reaktionären Gruppe; allein er schwankte wieder in seinen Zweifeln; es war eine jener Stunden über ihn gekommen, in denen man bereit ist, sich selbst mit einem vierjährigen Kinde zu beraten. Nachdem er Granoux und alle anderen bekriegt hatte, konnte er nicht daran denken, in diesem Augenblicke bei seinem Vater zu erscheinen. Nichtsdestoweniger ging er hinauf und dachte, daß er ein sonderbares Gesicht machen müsse, wenn ihn jemand auf der Treppe überraschen werde. Vor der Türe der Rougon konnte er nur ein unbestimmtes Gewirre von Stimmen vernehmen.

      Ich bin wahrhaftig ein Kind, sagte er sich; die Furcht raubt mir den Verstand.

      Er war im Begriffe wieder hinabzugehen, als er die Stimme seiner Mutter vernahm, die jemanden hinausgeleitete. Er hatte knapp Zeit, sich unter der kleinen Stiege zu verbergen, die nach dem Dachboden des Hauses führte. Die Türe ging auf und es erschien der Marquis, begleitet von Felicité. Herr von Carnavant ging in der Regel früher nach Hause als die kleinen Rentiers der Neustadt, ohne Zweifel, um nicht auf der Straße Händedrücke austeilen zu müssen.

      Ei, Kleine! sagte der Marquis auf dem Treppenflur, indem er seine Stimme dämpfte, die Leute sind noch mattherziger, als ich gedacht; bei solchen Menschen wird Frankreich immer dem gehören, der den Mut hat, es sich in die Tasche zu stecken.

      Und er fügte bitter hinzu, als rede er mit sich selbst:

      Die Monarchie ist für die heutigen Zeiten entschieden zu rechtschaffen geworden. Ihre Zeit ist vorüber.

      Eugen hatte seinem Vater die Krise angekündigt, sagte Felicité. Der Sieg des Prinzen Louis scheint ihm sicher.

      Oh, ihr könnt kühn vorwärts schreiten; in zwei oder drei Tagen wird das Land erwürgt sein. Auf Wiedersehen bis morgen, Kleine!

      Felicité schloß die Türe. Aristides war in seinem dunkeln Versteck wie geblendet. Wie ein Wahnsinniger stürmte er die Treppe hinab und geraden Weges nach der Druckerei des »Unabhängigen«. Eine Flut von Gedanken wogte in seinem Schädel. Wütend beschuldigte er seine Familie, ihn betrogen zu haben. Wie? Eugen hielt seine Eltern über die Lage auf dem laufenden und seine Mutter hatte ihn niemals die Briefe seines älteren Bruders lesen lassen, dessen Ratschläge er blindlings befolgt haben würde! Zu dieser Stunde erst mußte er zufällig erfahren, daß dieser ältere Bruder den Erfolg des Staatsstreiches als sicher betrachtete. Dies bekräftigte übrigens in ihm nur gewisse Ahnungen, denen er nur wegen dieses schwachköpfigen Unterpräfekten kein Gehör geschenkt hatte. Am meisten war er über seinen Vater erbittert, den er für dumm genug gehalten hatte, um ihn für einen Legitimisten zu halten, während er sich jetzt im geeigneten Augenblicke als Bonapartist entpuppte!

      Wie viele Dummheiten hat man mich begehen lassen! brummte er dahineilend. Ich sitze ordentlich in der Tinte. Ach, welche Lehre! Granoux ist mir überlegen!

      Wie ein Wirbelwind stürmte er in die Büros des »Unabhängigen« hinein und forderte mit erregter Stimme seinen Artikel zurück. Der Artikel war schon in Spalten geordnet. Er ließ die Form auseinandernehmen und war nicht eher beruhigt, als bis er selbst den Artikel vernichtete, indem er die Lettern durcheinanderwarf wie die Dominosteine. Der Verleger sah diesem Treiben mit verblüffter Miene zu. Im Grunde war es ihm recht, denn der Artikel hatte ihm gefährlich geschienen. Aber er brauchte Stoff, wenn er wollte, daß der »Unabhängige« erscheine.

      Werden Sie mir statt dessen etwas anderes geben? sagte er.

      Gewiß, erwiderte Aristides.

      Er setzte sich an einen Tisch und begann eine begeisterte Lobrede auf den Staatsstreich zu schreiben. Gleich in den ersten Zeilen schwor er, daß Prinz Louis die Republik gerettet habe. Doch kaum hatte er eine Seite geschrieben, als er innehielt und die Fortsetzung zu suchen schien. Sein Mardergesicht drückte lebhafte Unruhe aus.

       Ich muß nach Hause gehen, sagte er endlich; ich werde Ihnen den Schluß bald schicken; im schlimmsten Falle werden Sie morgen etwas später erscheinen.

      Zu Hause ging er in Gedanken verloren lange hin und her. Die Unentschlossenheit hatte sich seiner wieder bemächtigt. Warum sollte er sich ihnen so rasch anschließen? Eugen war allerdings ein gescheiter Junge, aber es war immerhin möglich, daß seine Mutter die Tragweite eines Satzes in Eugens Briefe überschätzt hatte. In jedem Falle war es besser, zu warten und zu schweigen.

      Eine Stunde später kam Angela in die Druckerei gelaufen; sie schien in großer Aufregung zu sein.

      Mein Mann hat sich arg verletzt, sagte sie. Als er heimkam, klemmte er sich vier Finger in der Türe ein. Unter den schrecklichsten Schmerzen hat er mir diese kleine Notiz diktiert, die er Sie im Morgenblatte zu veröffentlichen bittet.

      Am folgenden Tage erschien der »Unabhängige« fast ganz mit »vermischten Nachrichten« angefüllt; an der Spitze des Blattes aber war folgende Notiz zu lesen:

      »Ein bedauerlicher Unfall, der unserem ausgezeichneten Mitarbeiter Herrn Aristides Rougon zugestoßen, wird uns durch einige Zeit seiner Artikel berauben. Es wird ihm schwer fallen, unter den augenblicklichen ernsten Verhältnissen Stillschweigen zu beobachten; doch wird sicherlich keiner unserer Leser an seinen patriotischen Wünschen für das Wohlergehen Frankreichs zweifeln.«

      Diese vieldeutige Notiz war von Aristides reiflich erwogen worden. Der letzte Satz konnte zugunsten einer jeden Partei ausgelegt werden. In dieser Weise sicherte sich Aristides nach dem Siege einen ungetrübten Wiedereintritt in sein Blatt durch eine Lobrede auf die Sieger.

      Am folgenden Tage zeigte er sich in der ganzen Stadt mit dem Arm in der Binde. Infolge der Notiz eilte seine Mutter erschrocken herbei; doch weigerte er sich, ihr seine Hand zu zeigen und sprach zu ihr mit einer gewissen Bitterkeit, die die alte Frau sogleich aufklärte.

      Es wird nichts sein, sagte sie, indem sie ihn beruhigt verließ. Du bedarfst nur der Ruhe, fügte sie einigermaßen spöttisch hinzu.

      Der »Unabhängige« hatte es ohne Zweifel diesem vorgeblichen Unfall seines Redakteurs und der Abreise des Unterpräfekten zu danken, daß er nicht behelligt wurde wie die meisten demokratischen Blätter der Provinz.

      Der 4. Dezember verlief in Plassans in verhältnismäßiger Ruhe. Am Abend fand eine Kundgebung des Volkes statt; doch das bloße Erscheinen der Gendarmen genügte, die Ansammlung zu zerstreuen. Eine Gruppe von Arbeitern hatte von Granoux die Mitteilung der aus Paris eingelangten Depeschen gefordert; doch dieser weigerte sich hochmütig. Die Leute zogen ab und riefen: »Es lebe die Republik! Es lebe die Verfassung!« Dann wird wieder alles ruhig. Der gelbe Salon besprach lange diesen harmlosen Spaziergang des Volkes und erklärte sich schließlich mit dem Gange der Dinge hoch befriedigt.

      Beunruhigender ließen sich die Tage vom 5. und 6. Dezember an. Man bekam allmählich Nachricht von dem Aufstande der benachbarten kleinen Städte. Der ganze Süden des Bezirks griff zu den Waffen; La Palud und Saint-Martin-de-Vaulx hatten sich zuerst erhoben und die Dörfer Chavanos, Nazères, Poujols, Valqueyras, Vernoux mitgerissen. Der gelbe Salon erschrak ernstlich. Die Leute ängstigte vornehmlich die Tatsache, daß Plassans vereinsamt inmitten dieses Herdes der Empörung


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