Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
du bist endlich vernünftig geworden und mußt auch an deine Zukunft denken. Man beschuldigt dich, ein Republikaner zu sein, weil du dumm genug bist, allen Bettlern der Stadt unentgeltlich deinen Beistand zu leihen. Sei offen! Welches sind deine wirklichen politischen Ansichten?
Pascal betrachtete seine Mutter mit unverhohlenem Erstaunen. Dann sagte er lächelnd:
Meine wirklichen Ansichten? Ich weiß es wahrhaftig nicht. Du sagst, man beschuldigt mich, ein Republikaner zu sein; mich beleidigt das ganz und gar nicht. Ich bin es auch, wenn man unter diesen Worten einen Menschen versteht, der aller Welt das Beste wünscht.
Da wirst du zu nichts kommen, unterbrach ihn Felicité lebhaft. Man wird dich niedertreten. Sieh doch deine Brüder an; sie trachten, den richtigen Weg einzuschlagen.
Pascal begriff, daß er sich wegen seiner Eigennützigkeiten als Gelehrter nicht zu verteidigen habe. Seine Mutter beschuldigte ihn einfach, daß er auf die politische Lage nicht spekuliere. Er ließ ein bitteres Lachen vernehmen, und lenkte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Niemals vermochte Felicité ihn zu bewegen, daß er die Aussichten der verschiedenen politischen Parteien erwäge, oder sich derjenigen anschließe, der seiner Ansicht nach der Sieg zufallen mußte. Er fuhr indessen fort, von Zeit zu Zeit im gelben Salon zu erscheinen. Besonders Granoux war es, der ihn interessierte wie ein vorsintflutliches Tier.
Inzwischen nahmen die Ereignisse ihren Fortgang. Das Jahr 1851 war für die Politiker von Plassans ein Jahr der Angst und des Schreckens, was der geheimen Sache der Rougon nur zum Nutzen gereichte. Es kamen die widersprechendsten Nachrichten aus Paris. Bald waren die Republikaner obenauf, bald wieder vernichtete die konservative Partei die Republik. Der Widerhall des Haders, der die gesetzgebende Versammlung zerfleischte, drang bis in die Tiefen der Provinz, an einem Tage vergrößert, am andern Tage verringert, fortwährend wechselnd, so daß selbst die Hellsehenden irre wurden. Doch herrschte das allgemeine Gefühl, daß man vor einer Lösung stehe und die Unkenntnis dieser Lösung war es, die dieses Volk von feigen Spießbürgern in zähneklappernder Besorgnis hielt. Alle sehnten ein Ende herbei. Diese Ungewißheit machte sie krank. Sie wären bereit gewesen, sich dem Großtürken in die Arme zu werfen, wenn der Großtürke geruht hätte, Frankreich vor der Anarchie zu retten.
Das Lächeln des Marquis ward immer spitziger. Des Abends näherte er sich im gelben Salon, wenn der Schrecken das Gebrumme des Herrn Granoux immer unverständlicher machte, Felicité und flüsterte ihr ins Ohr:
Die Frucht ist reif, Kleine. Aber ihr müßt euch nützlich machen.
Felicité, die fortfuhr, die Briefe Eugens zu lesen, und daher wußte, daß die entscheidende Krise von einem Tag zum anderen eintreten könne, hatte die Notwendigkeit, sich nützlich zu machen, oft eingesehen und sich gefragt, wie die Rougon sich nützlich machen würden. Schließlich beriet sie sich hierüber mit dem Marquis.
Alles hängt von den Ereignissen ab, erwiderte der kleine Greis. Wenn der Bezirk ruhig bleibt, wenn keine Erhebung die Stadt umstürzt, wird es euch schwer sein, hervorzutreten und der neuen Regierung Dienste zu erweisen. Ich rate euch daher, ruhig zu Hause zu bleiben und die Nachrichten eures Sohnes Eugen abzuwarten. Allein wenn das Volk sich erhebt und unsere braven Spießbürger sich bedroht glauben, wird es für euch eine hübsche Rolle zu spielen geben. Dein Mann ist ein wenig schwerfällig...
Oh, rief Felicité, ich werde ihn schon geschmeidig machen. Glauben Sie, daß der Bezirk sich erheben wird?
Ich halte es für sicher. Plassans wird vielleicht ruhig bleiben; die Reaktion ist daselbst zu stark. Allein die benachbarten Städte, Dörfer und Weiler werden seit langer Zeit durch geheime Gesellschaften bearbeitet und gehören zur fortgeschrittenen republikanischen Partei. Wenn ein Staatsstreich losbricht, wird man Sturm läuten in der ganzen Gegend, von den Wäldern des Seillegebirges bis zur Hochebene von Sainte-Roure.
Felicité faßte sich.
Sie glauben also, fuhr sie fort, daß eine Erhebung notwendig sei, um unser Glück zu sichern?
Das ist meine Ansicht, erwiderte Herr von Carnavant.
Und er fügte mit ironischem Lächeln hinzu:
Eine neue Dynastie kann nur nach dem Umsturze des Bestehenden errichtet werden. Das Blut ist ein guter Dünger. Es wird ganz hübsch sein, wenn die Rougon wie gewisse berühmte Familien ihren Ursprung von einem allgemeinen Gemetzel herleiten.
Bei diesen von einem höhnischen Gekicher begleiteten Worten überlief ein Frösteln Felicités Rücken. Allein sie war ein kluges Weib, und der Anblick der schönen Fenstervorhänge des Herrn Peirotte, die sie jeden Morgen mit einer gewissen andächtigen Regelmäßigkeit betrachtete, hielt ihren Mut aufrecht. Wenn sie sich schwach werden fühlte, trat sie ans Fenster und betrachtete das Haus des Steuereinnehmers. Dies waren ihre Tuilerien. Sie war zu den äußersten Handlungen entschlossen, um in der Neustadt ihren Einzug zu halten, in diesem gelobten Lande, an dessen Schwelle sie seit so vielen Jahren von Begierden verzehrt wurde.
Die Unterredung, die sie mit dem Marquis gehabt, hellte ihr die Lage vollends auf. Einige Tage später las sie einen Brief Eugens, in dem dieser Helfershelfer des Staatsstreiches gleichfalls auf eine Erhebung zählte, die seiner Ansicht nach seinem Vater zu einer Bedeutung verhelfen würde. Eugen kannte seine Heimat. Alle seine Ratschläge gingen dahin, in den Händen der Reaktionäre des gelben Salons soviel Einfluß wie möglich zu vereinigen, damit die Rougon im kritischen Augenblicke die Herren der Stadt seien. Nach seinen Wünschen mußte der gelbe Salon im November des Jahres 1851 Herr von Plassans sein. Roudier repräsentierte daselbst das reiche Bürgertum. Seine Haltung würde sicherlich diejenige der ganzen Neustadt bestimmen. Noch wertvoller war Granoux: er hatte den Gemeinderat hinter sich, dessen einflußreichstes Mitglied er war, was leicht eine Vorstellung von den übrigen Mitgliedern dieses Gemeinderates zu geben vermag. Durch den Major Sicardot endlich, den der Marquis zum Befehlshaber der Nationalgarde gemacht hatte, verfügte der gelbe Salon über die bewaffnete Macht. Den Rougon, diesen übel beleumdeten armen Schluckern, war es endlich gelungen, die Werkzeuge ihres Glückes um sich zu vereinigen. Jeder sollte, sei es aus Feigheit, sei es aus Dummheit, ihnen gehorchen und blindlings an ihrer Erhebung tätig sein. Sie hatten nichts zu fürchten als andere Einflüsse, die in demselben Sinne handeln würden wie sie selbst und ihnen so einen Teil an dem Verdienste des Sieges entreißen würden. Das war der Gegenstand ihrer großen Angst, denn sie hatten sich allein die Rolle der Retter zugedacht. Sie wußten im voraus, daß der Adel und die Geistlichkeit sie eher unterstützen als behindern würden. Allein in dem Falle, daß der Unterpräfekt, der Bürgermeister und die übrigen Beamten sich vordrängen und die Erhebung im Keime ersticken würden, wären die Rougon in ihren Verdiensten verkleinert, in ihren Zielen behindert; sie würden weder Zeit noch Mittel finden, sich nützlich zu machen. Was sie wünschten, war die vollständige Zurückhaltung, ein allgemeiner Schreck der Beamten. Wenn die ordentliche Verwaltung vollständig verschwand und sie dann eines Tages die Herren der Geschicke von Plassans waren, dann war ihr Glück fest begründet. Glücklicherweise für sie gab es in der Stadtverwaltung nicht einen einzigen Mann, der überzeugt oder arm genug gewesen wäre, um das Spiel zu wagen. Der Unterpräfekt war ein Freigeist, den die vollziehende Gewalt in Plassans vergessen hatte, ohne Zweifel, weil die Stadt einen guten Ruf hatte; von ängstlichem Charakter, wie er war, und unfähig, seine Macht zu einer Gewalttat zu gebrauchen, mußte dieser Mann angesichts einer Empörung allen Halt verlieren. Die Rougon, die da wußten, daß er der Sache der Demokratie günstig gesinnt sei und die daher von seiner Seite keinen besonderen Eifer zu besorgen hatten, waren nur neugierig, welche Haltung er annehmen werde. Der Stadtrat machte ihnen keine Sorge mehr. Der Bürgermeister, Herr Garçonnet, war ein Legitimist, den das Sankt-Markus-Viertel im Jahre 1849 durchgesetzt hatte; er verachtete die Republikaner und behandelte sie sehr geringschätzig; allein er war mit gewissen Mitgliedern der Geistlichkeit zu eng verbunden, um einem bonapartistischen Staatsstreiche seine tätige Mithilfe zu leihen. Die anderen Beamten befanden sich in demselben Falle. Der Friedensrichter, der Postdirektor, der Stadtkassierer, der Steuereinnehmer Herr Peirotte, hatten ihre Stellen sämtlich von der klerikalen Reaktion erhalten und konnten daher das Kaiserreich nicht mit großer Begeisterung hinnehmen. Ohne noch genau zu wissen, wie sie sich dieser Leute entledigen würden, um sich allein in den Vordergrund zu stellen, gaben sich die Rougon großen Hoffnungen