Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Eugen. Er schloß sich dann in seinem Schlafzimmer ein, um diese Briefe zu lesen, die er hernach in einem Schreibpulte verwahrte, dessen Schlüssel er sorgfältig in seiner Westentasche behielt. Wenn seine Frau ihn befragte, begnügte er sich zu antworten: »Eugen schreibt mir, daß er sich wohl befindet«. Schon seit längerer Zeit trachtete Felicité diese Briefe ihres Sohnes in ihre Gewalt zu bekommen. Am folgenden Tage, während Peter noch schlief, erhob sie sich und schlich auf den Fußspitzen zu den Kleidern ihres Gatten, um den Schlüssel des Schreibpultes durch einen andern Schlüssel von gleicher Größe zu ersetzen. Dann, als ihr Gatte ausgegangen war, schloß sie sich ihrerseits ein, leerte das Schubfach aus und las mit fieberhafter Neugierde die Briefe ihres Sohnes.
Herr von Carnavant hatte sich nicht getäuscht, und sie sah auch ihre eigenen Vermutungen bestätigt. Es waren an vierzig Briefe da, in denen sie die große bonapartistische Bewegung verfolgen konnte, die später mit der Errichtung des Kaiserreiches ihren Abschluß finden sollte. Diese Briefe bildeten eine Art Tagebuch, in dem die Ereignisse in der Reihenfolge dargestellt waren, wie sie auftauchten, und aus ihnen wurden Hoffnungen und Ratschläge abgeleitet. Eugen glaubte an den Erfolg der Bewegung. Er sprach seinem Vater vom Prinzen Louis Bonaparte wie von einem unentbehrlichen Manne des Schicksals, der allein die Lage zu entwirren vermöge. Er hatte an ihn schon geglaubt, noch bevor jener nach Frankreich zurückgekehrt war, als der Bonapartismus noch als leerer Wahn behandelt wurde. Felicité begriff jetzt, daß ihr Sohn seit dem Jahre 1848 ein sehr tätiger Geheimagent sei. Obgleich er sich über seine Stellung in Paris nicht deutlich aussprach, war es klar, daß er für das Kaiserreich arbeitete, und zwar auf Befehl von Persönlichkeiten, die er mit einer gewissen Vertraulichkeit nannte. Jeder seiner Briefe stellte die Fortschritte der bonapartistischen Sache fest und ließ eine nahe Abwickelung voraussehen. Die Briefe endigten gewöhnlich mit einem Fingerzeig, wie Peter sich in Plassans zu verhalten habe. Jetzt erst konnte Felicité sich gewisse Worte und gewisse Handlungen ihres Mannes erklären, deren Zweck ihr bisher entgangen war. Peter gehorchte seinem Sohne und befolgte blindlings dessen Weisungen.
Als die alte Frau die Briefe zu Ende gelesen hatte, war sie überzeugt. Jeder Gedanke Eugens stand jetzt klar vor ihr. In dem Umstürze wollte er sein politisches Glück machen und mit einem Schlage seine Schuld an die Eltern abtragen, indem er ihnen in der Stunde der allgemeinen Treibjagd ein Stück von der Beute zuwerfen würde. Wenn sein Vater ihn nur ein wenig unterstützen, der bonapartistischen Sache nützlich sein wolle, werde es ihm ein leichtes sein, ihn zum Steuereinnehmer ernennen zu lassen. Ihm, der zu den geheimsten Verrichtungen der Bewegung herangezogen ward, werde man nichts versagen können. Seine Briefe waren nichts als Warnungen, um der Familie Rougon Dummheiten zu ersparen. Darum empfand auch Felicité eine lebhafte Dankbarkeit für ihren Sohn; sie las wiederholt gewisse Stellen des Briefes, in denen Eugen in unbestimmten Ausdrücken von der Endkatastrophe sprach. Diese Katastrophe, deren Natur und Tragweite ihr entgingen, wurde für sie eine Art Untergang der Welt. Bei dieser Gelegenheit würde Gott die Auserwählten rechts und die Verdammten links stellen und sie würde sich unter den Auserwählten befinden.
Als sie in der folgenden Nacht den Schlüssel des Schubfaches wieder in die Westentasche ihres Mannes eingeschmuggelt hatte, nahm sie sich vor, sich desselben Mittels zu bedienen, um alle folgenden Briefe ihres Sohnes zu lesen. Auch war sie entschlossen, die Nichtswissende zu spielen. Diese Taktik war eine ausgezeichnete. Von diesem Tage an war sie ihrem Gatten eine um so wirksamere Stütze, als sie es unwissentlich zu sein schien. Wenn Peter allein zu arbeiten glaubte, war sie es, die am häufigsten das Gespräch auf das gewünschte Gebiet leitete und Anhänger für den entscheidenden Augenblick warb. Sie kränkte sich wegen des Mißtrauens ihres Sohnes und nahm sich vor, nach errungenem Erfolge ihm zu sagen: »Ich wußte alles und anstatt etwas zu verderben, habe ich den Sieg herbeiführen helfen.« Niemals hatte eine Mitschuldige weniger Geräusch gemacht und mehr Arbeit verrichtet. Der Marquis, den sie zu ihrem Vertrauten gemacht hatte, war von Bewunderung erfüllt.
Was sie beunruhigte, war das Schicksal ihres lieben Aristides. Seitdem sie die Hoffnungen ihres Ältesten teilte, verursachten die Wütenden Artikel des »Indépendant« ihr einen noch größeren Schrecken. Gerne würde sie den unglücklichen Republikaner zu den Napoleonischen Ideen bekehrt haben. Allein sie wußte nicht, wie sie es in vorsichtiger Weise anfangen sollte. Sie erinnerte sich, wie eindringlich Eugen ihnen gesagt hatte, dem Aristides zu mißtrauen. Sie legte die Sache dem Marquis vor, der ganz derselben Ansicht war wie sie.
Mein Kind, sagte er, in der Politik muß man selbstsüchtig sein. Wenn Sie Ihren Sohn bekehren würden und der »Indépendant« anfinge, den Bonapartismus zu verteidigen, so wäre das ein harter Schlag für die Partei. Über den »Indépendant« ist das Urteil gesprochen; sein Titel allein genügt, um die Spießbürger von Plassans gegen ihn aufzubringen. Lassen Sie den lieben Aristides sich herumschlagen, das bildet die jungen Leute. Er scheint mir ganz von dem Holze geschnitzt, um nicht lange die Rolle des Märtyrers zu spielen.
In ihrem Feuereifer, den Ihrigen den richtigen Weg zu zeigen – jetzt, da sie die Wahrheit zu kennen glaubte – ging Felicité so weit, daß sie selbst ihren Sohn Pascal belehren wollte. Der Arzt, der sich mit dem Eigensinn des Gelehrten in seine Forschungen versenkt hatte, kümmerte sich sehr wenig um Politik. Während er ein Experiment machte, konnten Kaiserreiche in Trümmer gehen, ohne daß er auch nur den Kopf umgewandt hätte. Indes hatte er endlich den Bitten seiner Mutter nachgegeben, die ihm mehr als je vorwarf, daß er als Werwolf lebe.
Wenn du mehr in Gesellschaft kämest, sagte sie ihm, würdest du Patienten aus den vornehmen Kreisen bekommen. Komm doch zu uns, um die Abende in unserem Salon zuzubringen, da wirst du die Bekanntschaft der Herren Roudier, Granoux, Sicardot machen, lauter wohlhabende Leute, die dir einen ärztlichen Besuch mit vier und fünf Franken bezahlen werden. Die armen Leute werden dich nicht reich machen.
Der Gedanke, ans Ziel zu kommen, ihre ganze Familie reich werden zu sehen, war bei Felicité zu einer Sucht geworden. Um sie nicht zu kränken, kam Pascal einige Abende in den gelben Salon. Er langweilte sich daselbst weniger, als er befürchtet hatte. Das erstemal war er erstaunt über den Grad von Dummheit, zu dem ein sonst gesunder Mensch herabsinken kann. Die ehemaligen Öl- und Mandelhändler, der Marquis und der Major selbst schienen ihm interessante Geschöpfe, die er bisher zu studieren keine Gelegenheit hatte. Er betrachtete mit dem Interesse eines Naturalisten ihre Gesichter, die gleichsam in einer Grimasse gestockt waren und aus denen er ihre Beschäftigungen und ihre Bestrebungen herauslas. Er hörte ihr leeres Geschwätz mit demselben Interesse, als ob er den Sinn des Katzengewinsels und des Hundegebells hätte erforschen wollen. Zu jener Zeit beschäftigte er sich viel mit vergleichender Naturgeschichte, indem er die Wahrnehmungen, die er über die Art der Vererbung bei Tieren machte, auf das menschliche Geschlecht anwandte. Wenn er sich im gelben Salon befand, machte es ihm Spaß zu glauben, daß er in eine Menagerie geraten sei. Er suchte Ähnlichkeiten zwischen jedem dieser spaßigen Kerle und irgendeinem Tiere, das er kannte. Der Marquis erinnerte ihn an eine große, grüne Grille, er hatte ihre Magerkeit, ihren schmalen Kopf. Vuillet machte auf ihn den Eindruck einer grauen Kröte. Freundlicher war sein Urteil über Roudier; dieser schien ihm ein fettes Schaf, der Major eine alte, zahnlose Dogge. Der merkwürdige Granoux war ein Gegenstand seines fortwährenden Staunens. Er verbrachte einen ganzen Abend damit, seinen Gesichtswinkel zu messen. Wenn er ihn irgendeinen unbestimmten Schimpf gegen die Republikaner, diese Bluthunde, ausstoßen hörte, war er immer gefaßt, ihn blöken zu hören wie ein Kalb, und wenn er ihn sich erheben sah, bildete er sich immer ein, Granoux werde sich auf alle vier werfen und dann den Salon verlassen.
So rede doch etwas, sagte leise die Mutter. Trachte die Kundschaft dieser Herren zu gewinnen.
Ich bin kein Tierarzt, erwiderte er ungeduldig.
Eines Abends nahm Felicité ihn beiseite und versuchte ihm ins Gewissen zu reden. Sie war glücklich darüber, ihn jetzt mit einer gewissen Regelmäßigkeit bei ihr erscheinen zu sehen. Sie glaubte ihn für die Gesellschaft gewonnen, während sie keinen Augenblick das seltsame Vergnügen voraussetzen konnte, das er darin fand, die reichen Leute lächerlich zu machen. Sie nährte die geheime Hoffnung, aus ihm den beliebtesten Arzt in Plassans zu machen. Zu diesem Zwecke werde es genügen, daß Männer, wie Granoux und Roudier ihn in ihren Schutz nahmen. Vor allem wollte sie ihm die politischen Ideen der Familie beibringen, weil sie einsah, daß ein Arzt alles zu gewinnen habe, wenn er ein eifriger