Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Miene, der Herr Bürgermeister sei ohne Nachrichten. Leute wußten zu erzählen, das Blut fließe in den Straßen von Marseille, und eine fürchterliche Revolution sei in Paris ausgebrochen. Der Major Sicardot war entrüstet über die Mattherzigkeit dieser Spießbürger und rief, er sei bereit, an der Spitze seiner Leute zu sterben.
Am 7. Dezember, einem Sonntag, erreichte der Schreck seinen Höhepunkt. Im gelben Salon, wo eine Art reaktionäres Komitee dauernd tagte, versammelte sich von sechs Uhr ab eine Menge schreckensbleicher, angstbebender Menschen, die leise untereinander flüsterten wie in einem Totenzimmer. Man hatte im Laufe des Tages erfahren, daß eine Bande Aufständischer, etwa dreitausend Mann stark, in Alboise, einem drei Stunden entfernten Dorfe, sich angesammelt habe. In Wahrheit wurde nur erzählt, daß diese Bande, Plassans links lassend, nach dem Hauptorte des Bezirks zu marschieren beabsichtige; allein dieser Feldzugsplan konnte ja auch geändert werden und übrigens genügte es diesen feigen Rentenbesitzern, die Aufständischen in einer Entfernung von einigen Kilometern zu wissen, damit sie sich einbildeten, daß rohe Arbeiterfäuste sie schon an der Kehle faßten. Sie hatten schon am Morgen einen Vorgeschmack von der Empörung gehabt; als nämlich die wenigen Republikaner in Plassans sahen, daß sie in der Stadt nichts Ernstliches unternehmen könnten, hatten sie beschlossen, zu ihren Brüdern in La Palud und Saint-Martin-de-Baulx zu stoßen; eine erste Gruppe war gegen elf Uhr, die Marseillaise singend und einige Fensterscheiben einwerfend, durch das römische Tor abgezogen. Herrn Granoux war ebenfalls ein Fenster eingeworfen worden, und er erzählte dieses Ereignis schreckensbleich seinen Gesinnungsgenossen.
Die Gesellschaft des gelben Salons war in lebhafter Angst. Der Major hatte seinen Diener ausgesendet, um genaue Erkundigungen über den Marsch der Aufrührer einzuholen; man erwartete die Rückkehr dieses Mannes und erging sich inzwischen in erstaunlichsten Vermutungen. Die Versammlung war vollzählig; Roubier und Granoux saßen schier regungslos in ihren Sesseln und warfen einander Jammerblicke zu, während hinter ihnen die erschrockene Gruppe der Kaufleute im Ruhestande schwere Seufzer ausstieß. Vuillet schien nicht allzusehr erschrocken und dachte über die Maßregeln nach, die er ergreifen werde, um seinen Geschäftsladen und seine Person zu schützen; er erwog, ob er sich in seinem Speicher oder in seinem Keller verbergen solle, und neigte dem Keller zu. Peter und der Major schritten im Salon auf und ab und tauschten von Zeit zu Zeit eine Bemerkung aus. Der ehemalige Ölhändler klammerte sich an seinen Freund Sicardot, um bei diesem Mut zu schöpfen. Er, der seit so langer Zeit die Krise erwartete, suchte sich jetzt eine feste Haltung zu geben, obgleich die Aufregung ihm die Kehle zuschnürte. Was den Marquis betrifft, so war er geschniegelter und heiterer als je und plauderte in einem Winkel mit Felicité, die sehr aufgeräumt schien.
Endlich ward geläutet. Die Herren erschraken, als hätten sie einen Flintenschuß gehört. Während Felicité hinausging, um zu öffnen, herrschte Grabesstille in dem Salon; die bleichen, angstvollen Gesichter wandten sich der Tür zu. Der Diener des Majors erschien auf der Schwelle; er war völlig außer Atem und rief seinem Herrn zu:
Herr Major! In einer Stunde werden die Aufständischen hier sein!
Das wirkte wie ein Donnerschlag, Alle fuhren schreiend empor und streckten die Hände gen Himmel. Es währte einige Minuten, bis man sich verständlich machen konnte. Man umdrängte den Boten und bestürmte ihn mit Fragen.
Tausend Teufel, jammert doch nicht so! schrie der Major. Ruhe, oder ich stehe für nichts!
Alle sanken auf ihre Sessel zurück und stießen schwere Seufzer aus. Jetzt erst konnte man einige Einzelheiten erfahren. Der Bote war dem Trupp der Aufständischen bei Tulettes begegnet und hatte sich beeilt, zurückzukehren.
Es sind mindestens dreitausend, meldete er. Sie marschieren in Bataillonen wie die Soldaten. Ich glaube, auch Gefangene bei ihnen gesehen zu haben.
Gefangen! schrien die entsetzten Spießbürger.
Ohne Zweifel, sagte der Marquis mit seiner dünnen Stimme; man hat mir erzählt, daß sie die Leute verhaften, die wegen ihrer konservativen Gesinnungen bekannt sind.
Bei dieser Nachricht erreichte die Bestürzung des gelben Salons ihren Höhepunkt. Einige Bürger erhoben sich und erreichten verstohlen die Türe; sie dachten wohl, es sei die höchste Zeit, ein sicheres Versteck zu suchen.
Die Kunde von den Verhaftungen, welche die Aufständischen bewerkstelligten, schien Felicité zu erschrecken. Sie zog den Marquis beiseite und fragte ihn:
Was machen denn diese Leute mit ihren Gefangenen?
Sie schleppen sie als Geiseln mit sich, erwiderte Herr von Carnavant.
Ah! rief die Alte mit eigentümlicher Betonung.
Sie beobachtete mit nachdenklicher Miene die seltsame Schreckensszene in ihrem Salon. Allmählich drückten sich die Spießbürger; bald blieben nur Vuillet und Roudier, denen die Nähe der Gefahr einigen Mut wiedergab. Auch Granoux blieb in seinem Winkel sitzen; seine Beine wollten ihn nicht tragen.
Meiner Treu, mir ist's lieber so, sagte der Major, als er die Flucht der übrigen Anhänger sah. Diese Feiglinge ärgerten mich schon zu sehr. Seit zwei Jahren reden sie davon, daß sie alle Republikaner der Gegend erschießen lassen wollen und würden heute nicht den Mut haben, eine Rakete um zwei Sous vor ihnen abzubrennen.
Er nahm seinen Hut und wandte sich zur Türe.
Kommen Sie, Rougon, die Zeit drängt! sagte er.
Felicité schien auf diesen Augenblick gewartet zu haben. Sie warf sich zwischen die Türe und ihren Gatten, der sich übrigens nicht sonderlich beeilte, dem schrecklichen Major zu folgen.
Ich will nicht, daß du gehest! schrie sie, eine tiefe Verzweiflung heuchelnd. Ich werde niemals zugeben, daß du mich verläßt. Die Halunken würden dich töten!...
Der Major blieb verwundert stehen.
Verdammt! brummte er; jetzt fangen gar die Weiber an zu winseln... Kommen Sie, Rougon!
Nein, nein! fuhr die Alte fort, eine immer größere Angst zur Schau tragend; er soll Ihnen nicht folgen: ich werde mich an seinen Rock klammern.
Sehr überrascht von dieser Szene, beobachtete der Marquis neugierig Felicité. War das dieselbe Frau, die soeben so heiter geplaudert hatte? Welche Komödie spielte sie? Peter aber tat, als wolle er trotz dem Widerstände seines Weibes mit aller Gewalt gehen.
Du sollst nicht gehen! wiederholte die Alte und faßte ihn am Arme.
Dann sagte sie zum Major:
Wie können Sie an Widerstand denken? Jene sind dreitausend und Sie bringen nicht hundert mutige Männer zusammen! Sie werden sich ganz unnütz abschlachten lassen.
Das ist unsere Pflicht, sagte Sicardot ungeduldig.
Felicité brach in Tränen aus.
Wenn sie ihn töten, wenn sie ihn zum Gefangenen machen, fuhr sie fort, indem sie ihren Gatten fest anschaute; mein Gott, was soll denn aus mir werden, allein in dieser verlassenen Stadt?
Aber glauben Sie denn, rief der Major, daß wir weniger eingesperrt werden, wenn wir den Aufständischen gestatten, ruhig in die Stadt einzudringen? Ich schwöre Ihnen, daß nach Verlauf von nur einigen Stunden der Bürgermeister und alle städtischen Beamten im Loch sitzen werden, von Ihrem Gatten und den regelmäßigen Gästen dieses Salons nicht zu reden.
Der Marquis glaubte ein flüchtiges Lächeln auf den Lippen Felicités zu sehen, während sie mit entsetzter Miene entgegnete:
Sie glauben?...
Bei Gott, ja, fuhr Sicardot fort; die Republikaner sind nicht so dumm, daß sie ihre Feinde in ihrem Rücken lassen. Morgen sind alle Beamten und gutgesinnten Bürger aus Plassans verschwunden.
Bei diesen Worten, die sie in sehr geschickter Weise herbeigeführt hatte, ließ Felicité den Arm ihres Gatten fahren. Peter machte Miene, wegzugehen. Dank seiner Gattin, deren geschickte Taktik ihm übrigens entging und von deren geheimem Einverständnis er keine Ahnung hatte, war ihm plötzlich ein ganzer Feldzugsplan enthüllt worden.
Wir müssen die Sache überlegen,