Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Tagen des Monats November das Gerücht in Umlauf kam, daß ein Staatsstreich vorbereitet werde und daß der Prinz-Präsident sich zum Kaiser ausrufen lassen wolle, rief Granoux:
Gut! Wir werden ihn ausrufen, wenn er diese Lumpenkerle von Republikanern über den Haufen schießen läßt.
Dieser Ausruf Granoux', von dem man glaubte, daß er eingeschlafen sei, rief eine große Bewegung hervor. Der Marquis tat, als habe er nichts gehört; die Spießbürger aber stimmten sämtlich dem gewesenen Mandelhändler zu. Roudier, der nicht Anstand nahm, ganz laut seine Zustimmung zu geben, weil er reich war, erklärte sogar – wobei er Herrn von Carnavant von der Seite anblickte – daß die Lage unhaltbar geworden sei und daß Frankreich »durch welche Hand immer« so bald wie möglich wieder »eingerichtet« werden müsse.
Der Marquis schwieg noch immer und sein Schweigen ward als Zustimmung gedeutet. Der Heerbann der Konservativen ließ denn die Sache der Legitimität im Stich und wagte ganz laut, seine guten Wünsche für das Kaiserreich zu äußern.
Meine Freunde! sagte der Major Sicardot sich erhebend, ein Napoleon allein vermag heute die bedrohte Sicherheit der Person und des Eigentums zu schützen. Seien Sie ohne Sorge! Ich habe die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, damit in Plassans Ordnung herrsche.
In der Tat hatte der Major im Einvernehmen mit Rougon eine beträchtliche Anzahl von Gewehren samt entsprechendem Schießbedarf in einer Art von Stall in der Nähe der Stadtmauern verborgen; gleichzeitig hatte er sich des Beistandes der Nationalgarden versichert, auf die er zählen zu können glaubte. Seine Worte brachten eine sehr günstige Wirkung hervor. Als die friedfertigen Bürger vom gelben Salon an diesem Abend auseinandergingen, sprachen sie davon, »die Roten« zu massakrieren, wenn sie sich zu rühren wagen sollten.
Am 1. Dezember empfing Peter Rougon einen Brief von seinem Sohne Eugen; mit gewohnter Vorsicht begab er sich in sein Schlafzimmer, um den Brief daselbst zu lesen. Felicité bemerkte, daß er sehr aufgeregt war, als er wieder heraustrat. Den ganzen Tag trieb sie sich um den Schreibtisch herum. Als die Nacht hereinbrach, vermochte sie ihre Ungeduld nicht länger zu meistern. Kaum war ihr Gatte eingeschlafen, als sie den Schlüssel aus seiner Westentasche nahm und, alles Geräusch vermeidend, sich des Briefes bemächtigte. In kurzen zehn Zeilen verständigte Eugen seinen Vater, daß man vor dem Ausbruche der Krise stehe, und riet ihm, die Mutter in die Sachlage einzuweihen. Die Stunde sei gekommen, sie von allem zu unterrichten; er könne ihrer Ratschläge bedürfen.
Am folgenden Tage erwartete Felicité eine vertrauliche Mitteilung ihres Gatten, die aber nicht kam. Sie wagte es nicht, ihre Neugierde zu gestehen, fuhr fort, die Nichtwissende zu spielen und schalt im stillen auf das dumme Mißtrauen ihres Gatten, der sie ohne Zweifel für geschwätzig und schwach hielt wie die anderen Weiber. Mit jenem ehemännlichen Stolze, der einem Gatten den Glauben einflößt, daß er im Hause der Überlegene sei, hatte Peter allmählich sich an den Gedanken gewöhnt, alles Mißgeschick der Vergangenheit seiner Frau in die Schuhe zu schieben. Seitdem er sich einbildete, daß er allein die Angelegenheiten seines Hauses leite, schien ihm alles nach seinem Wunsche zu gehen. Darum war er entschlossen, des Rates seiner Gattin sich ganz zu entschlagen und trotz der Empfehlungen seines Sohnes ihr nichts zu vertrauen.
Felicité war hierüber dermaßen erbittert, daß sie imstande gewesen wäre, dem Unternehmen Hindernisse in den Weg zu legen, wenn sie nicht den Sieg ebenso glühend herbeigesehnt hätte wie ihr Gatte. Sie fuhr also fort, für den Erfolg tätig zu sein, suchte aber sich zu rächen.
Ach, möchte er doch nur ordentlich Angst bekommen und einen bösen Fehler begehen! ... sagte sie sich. Dann möchte ich ihn wohl sehen, wie er demütig um Rat zu mir kommt ... dann würde ich ihm meine Gesetze diktieren.
Was sie beunruhigte, war jene Haltung eines allmächtigen Herren, die er notwendigerweise annehmen würde, wenn er ohne ihren Beistand triumphieren würde. Als sie diesen Bauernsohn – lieber als irgendeinen Notarsgehilfen – zum Gatten nahm, gedachte sie, sich seiner wie eines stark gebauten Hampelmannes zu bedienen, dessen Schnüre sie nach Belieben handhaben würde. Und siehe! jetzt, da der entscheidende Tag gekommen, wollte der Hampelmann in seiner blöden Schwerfälligkeit allein gehen. Die ganze Hinterlistigkeit, die ganze fieberhafte Tätigkeit der kleinen Alten lehnte sich dagegen auf. Sie wußte, daß Peter eines gewalttätigen Entschlusses fähig sei, gleich jenem, den er faßte, als er seine Mutter eine Empfangsbestätigung über fünfzigtausend Franken unterschreiben ließ. Das Werkzeug war gut, weil wenig gewissenhaft; aber sie fühlte das Bedürfnis, es zu leiten, besonders unter den gegenwärtigen Umständen, die viel Geschmeidigkeit erforderten.
Die amtliche Nachricht von dem Staatsstreiche traf in Plassans erst am Nachmittag des 3. Dezember, einem Donnerstag ein. Schlag sieben Uhr war die ganze Gesellschaft des gelben Salons versammelt. Obgleich man die Krise sehnsüchtig herbeigewünscht hatte, malte sich eine unbestimmte Unruhe in den meisten Gesichtern. In endlosem Geschwätz wurden die Ereignisse erörtert. Bleich und erregt wie die anderen glaubte Peter in einem Übermaße von Vorsicht den entscheidenden Akt des Prinzen Louis Napoleon vor den Legitimisten und Orleanisten entschuldigen zu sollen.
Man spricht von einer Berufung an das Volk, sagte er; die Nation wird die Freiheit haben, eine ihr beliebige Regierung zu wählen; ... der Präsident ist der Mann dazu, daß er vor dem Gebote seiner rechtmäßigen Herren sich zurückzieht.
Der Marquis allein, der seine ganze vornehme Kaltblütigkeit bewahrt hatte, nahm diese Worte mit einem Lächeln auf; die anderen waren von dem Fieber des Augenblicks ergriffen und kümmerten sich nicht darum, was nachher kommen werde. Alle Meinungen gingen in die Brüche. Roudier vergaß der Zuneigung, die er als ehemaliger Krämer für die Orleans hatte, und unterbrach Peter mit plötzlichen Ausrufungen. Alle schrien durcheinander:
Nicht reden jetzt; denken wir nur daran, die Ordnung aufrecht zu erhalten!
Die braven Leute hatten eine heillose Furcht vor den Republikanern. Indes war die Stadt durch die Nachricht von den Parisern Ereignissen nur mäßig erregt worden. Es fanden einige Ansammlungen statt vor den Ankündigungen, die am Tore der Unterpräfektur angeschlagen waren; auch wurde erzählt, daß einige hundert Arbeiter ihre Beschäftigung im Stich gelassen hatten, um den Widerstand zu organisieren. Das war alles. Keine ernste Ruhestörung schien zu drohen. Mehr Sorge verursachte die Frage, welche Haltung die benachbarten Städte und Dörfer annehmen würden, doch war noch unbekannt, in welcher Weise diese den Staatsstreich aufgenommen hatten.
Gegen neun Uhr traf Granoux atemlos ein; er kam aus einer dringlich einberufenen Sitzung des Stadtrates. Mit einer vor Erregung zitternden Stimme erzählte er, der Bürgermeister, Herr Garçonnet, habe unter mannigfachen Vorbehalten sich entschlossen gezeigt, mit den energischsten Mitteln die Ordnung aufrecht zu erhalten. Doch die Nachricht, die den gelben Salon am meisten in Aufregung brachte, war, daß der Unterpräfekt abgedankt hatte. Dieser Beamte hatte sich stracks geweigert, die vom Minister des Innern empfangenen Depeschen der Bevölkerung von Plassans mitzuteilen; er habe soeben die Stadt verlassen, versicherte Granoux weiter, und die Depeschen seien nur auf Anordnung des Bürgermeisters angeschlagen worden. Dies sei vielleicht der einzige Unterpräfekt in Frankreich gewesen, der den Mut einer demokratischen Überzeugung hatte.
Waren die Rougon über die feste Haltung des Herrn Garçonnet im geheimen beunruhigt, so konnten sie andererseits nur schwer ihre Freude über die Flucht des Unterpräfekten verhehlen, der ihnen in dieser Weise das Feld geräumt hatte. In dieser denkwürdigen Zusammenkunft wurde beschlossen, daß die Gruppe vom gelben Salon den Staatsstreich annehme und sich offen für die vollzogenen Tatsachen erkläre. Vuillet wurde beauftragt, einen Artikel in diesem Sinne zu schreiben, den die Zeitung am folgenden Tage veröffentlichen solle. Er und der Marquis machten keinerlei Einwendung. Sie hatten ohne Zweifel ihre Weisungen von geheimnisvollen Persönlichkeiten erhalten, auf die sie manchmal eine ehrfurchtsvolle Anspielung machten. Die Geistlichkeit und der Adel waren schon bereit, den Siegern ihren Beistand zu leihen, um die Republik, diese gemeinsame Feindin, zu zertreten.
Während der gelbe Salon an diesem Abend über seine künftige Haltung beriet, litt Aristides eine Höllenangst. Nie hatte ein Spieler, der sein letztes Goldstück auf eine Karte setzte, in solcher Aufregung gelebt. Der Rücktritt seines Vorgesetzten hatte ihm schon im Laufe dieses Tages viel zu denken gegeben.