Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de Maupassant
des alten Wagens ein.
Ihr Gatte weckte sie:
»Sieh dir das an!« sagte er.
Sie hatten etwa zwei Drittel der Steigung überwunden und machten an einem berühmten Aussichtspunkt halt, wohin alle Fremden geführt wurden. Man übersah von hier das weite Tal, das der breite Fluß in vielen Windungen durchströmte. Man sah ihn in der Ferne mit seinen vielen Inseln, bis er kurz vor Rouen einen weiten Bogen machte. Weiterhin ragte die Stadt am rechten Ufer etwas verschwommen im Morgennebel, in der Ferne blitzten die Sonnenflecke auf den Dächern und den tausend feinen gotischen Kirchentürmchen, überragt von der häßlichen, seltsamen und unproportionierten Bronzespitze der Kathedrale.
Auf der anderen Flußseite ragten rund und oben ausgebaucht die noch zahlreicheren, dünnen Fabrikschornsteine der großen Vorstadt Saint-Sevère und spien aus den Ziegelsäulen ihren schwarzen Kohlenqualm in den blauen Himmel hinauf.
Der Kutscher wartete geduldig, bis seine Fahrgäste sich hinreichend entzückt hatten. Aus seiner langjährigen Erfahrung wußte er ziemlich genau die Dauer der Bewunderung bei Reisenden jedes Schlages.
Als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte, bemerkte plötzlich Duroy ein paar hundert Schritt von ihm entfernt zwei alte Leute, die ihnen entgegenkamen; er sprang aus dem Wagen und rief:
»Da sind sie; ich erkenne sie.«
Es waren zwei Bauern, ein Mann und eine Frau, die mit unregelmäßigen Schritten daherkamen und sich dann und wann mit den Schultern anstießen. Der Mann war klein, rot und untersetzt, mit etwas dickem Bauch, aber kräftig trotz seines hohen Alters. Die Frau war groß, mager, dürr, etwas gekrümmt und sah mürrisch und vergrämt aus, wie eine richtige Feldarbeiterin, die von Kindheit auf nur Mühe und schwere Arbeit gekannt und nie gelacht hatte, während der Mann mit seinen Genossen trank und schwatzte.
Madeleine war gleichfalls ausgestiegen und betrachtete die beiden armen Leutchen mit bedrücktem Herzen und einer Schwermut, auf die sie nicht vorbereitet war.
Zuerst erkannten sie ihren Sohn, diesen schönen, eleganten Herrn nicht, und nie hätten sie geahnt, daß diese schöne Dame im hellen Kleid ihre Schwiegertochter sei.
Schweigend und hastig gingen sie ihrem erwarteten Kind entgegen, ohne auf die Stadtmenschen, hinter denen ein Wagen fuhr, achtzugeben. Sie gingen vorüber. Da rief Georges Duroy lachend:
»Guten Tag, Papa Duroy!«
Sie blieben beide stehen, zuerst verblüfft, dann ganz blöde vor Überraschung. Die Alte faßte sich zuerst und stammelte, ohne sich zu rühren:
»Das bist du, unser Sohn?«
Der junge Mann antwortete:
»Aber natürlich bin ich das, Mutter Duroy.«
Und er ging auf sie zu und gab ihr auf beide Backen einen herzlichen Sohneskuß. Dann drückte er seine Schläfen gegen die des Vaters, der seine Mütze abgenommen hatte, eine seidene, sehr hohe Kappe, wie die Viehhändler in Rouen sie zu tragen pflegen.
Dann stellte Duroy vor:
»Das ist meine Frau.«
Und die beiden Bauersleute starrten Madeleine wie ein Wunder mit einer verborgenen Furcht an. Der Vater schien ziemlich befriedigt, während in den Augen der Mutter eine feindselige Eifersucht funkelte.
Der Mann war von Natur lustig und fröhlich und durch den Genuß des süßen Apfelweines und Alkohols wurde sein Frohsinn noch gesteigert. Er wurde kecker und fragte mit listigem Augenzwinkern:
»Darf ich ihr wohl auch einen Kuß geben?«
»Aber natürlich!« antwortete der Sohn; und Madeleine, der es unbehaglich wurde, reichte beide Wangen den schallenden Küssen des Bauern, der daraufhin sich seine Lippen mit der Rückseite seiner Hand abwischte. Auch die Alte küßte ihre Schwiegertochter, doch mit feindseliger Zurückhaltung. Nein! das war nicht die Schwiegertochter, von der sie träumte, die dicke, frische Pächterstochter, rot wie ein Apfel und rund wie eine Zuchtstute. Die Dame da sah nicht recht geheuer aus mit ihrem Putz und ihrem Moschusgeruch. Für die Alte gab es nur ein Parfüm, und das war Moschus.
Man ging nun weiter und folgte der Droschke, auf der das Gepäck des jungen Paares stand.
Der Alte nahm den Sohn beim Arm, zog ihn etwas zurück und fragte neugierig:
»Nun, und wie gehen die Geschäfte?«
»Gut, sehr gut!«
»Nu’, das genügt. Um so besser. Sag’ mal, und deine Frau, hat sie Geld?«
»Vierzigtausend Francs!«
Der Vater stieß vor Überraschung und Bewunderung einen leisen Pfiff aus und brachte nichts weiter hervor als: »Donnerwetter!«, so starr war er über die Summe. Dann setzte er mit ernster und ehrlicher Überzeugung hinzu:
»Wahrhaftig, es ist eine schöne Frau!«
Er fand sie nach seinem Geschmack, und seinerzeit hatte er für einen Kenner gegolten.
Madeleine und die Mutter gingen nebeneinander, ohne ein Wort zu sprechen. Die beiden Männer holten sie ein.
Das kleine Dorf, wohin sie nun gelangten, zog sich längs der Straße hin, etwa zehn Häuser auf jeder Seite, teils aus Ziegeln, teils aus Lehm gebaut, die einen mit Stroh, die anderen mit Schiefer gedeckt. Links, am Dorfeingang befand sich das Wirtshaus des alten Duroy »Zur schönen Aussicht«, eine kleine Hütte, die aus einem Erdgeschoß und einigen Bodenkammern bestand. Über der Tür war ein Kiefernzweig angebracht, er zeigte nach altem Brauch, daß durstige Leute eintreten können.
Der Tisch war in der Wirtsstube gedeckt oder vielmehr waren zwei Tische nebeneinander geschoben und mit einer Serviette bedeckt. Eine Nachbarin, die zur Aushilfe gekommen war, grüßte mit tiefer Verbeugung, als sie eine so schöne Dame eintreten sah, dann erkannte sie Georges und rief:
»Herr Jesus! Bist du es, Kleiner?«
Er antwortete fröhlich:
»Aber gewiß bin ich es, Mutter Brulin!«
Und er umarmte sie, wie er vorher seine Eltern umarmt hatte.
Dann wandte er sich zu seiner Frau:
»Komm in unser Zimmer, da kannst du deinen Hut ablegen.«
Er führte sie rechts durch eine Tür in ein kaltes, viereckiges Zimmer mit kalkgeweißten Wänden, in dem ein Bett mit baumwollenen Vorhängen stand; über einem Weihwasserbecken hing ein Kruzifix; zwei kolorierte Bilder, die Paul und Virginie unter einem blauen Palmenbaum und Napoleon I. auf einem gelben Pferd darstellten, bildeten den einzigen Schmuck dieses sauberen, öden Zimmers. Sobald sie allein waren, küßte er Madeleine:
»Guten Tag, Made; ich freue mich wirklich, die Alten wiederzusehen. In Paris denkt man nicht an sie, und wenn man wieder beisammen ist, macht das einem doch Freude.«
Aber der Vater rief, indem er mit der Faust an die Tür schlug:
»Kommt! Vorwärts! Die Suppe ist fertig!«
Sie mußten zu Tisch gehen.
Es war eine lange, schlecht zusammengestellte Bauernmahlzeit: eine Wurst nach der Hammelkeule und ein Eierkuchen nach der Wurst. Vater Duroy war durch den Apfelwein und ein paar Gläser Schnaps angeheitert, und packte seine alten Geschichten und Lieblingsscherze aus, die er für besonders festliche Gelegenheiten aufbewahrte, allerlei schlüpfrige, unsaubere Abenteuer, die angeblich seinen Freunden begegnet waren. Georges, der sie alle kannte, grinste trotzdem, denn die Luft der Heimat und die angeborene Liebe zum Lande und zu den vertrauten Winkeln seiner Kindheit, berauschten ihn ebenso wie all die Erinnerungen, die wieder in ihm lebendig wurden, all diese Kleinigkeiten, die er wieder sah: ein Messerschnitt in der Tür, ein lahmer Stuhl, der ihn an eine jugendliche Untat erinnerte, der Erdgeruch und der kräftige Harzduft, der aus dem nahen Walde kam und selbst der Geruch des Hauses, des Baches und des Düngerhaufens.
Die Mutter Duroy sprach gar nicht; sie blieb immer traurig und ernst. Haßerfüllt beobachtete