Blutrausch. Andreas M. Sturm
Freitag, 12.30 Uhr
Sonnabend, 26. Juli, 11.00 Uhr
Montag, 14. Juli, 21.15 Uhr
Heute Nacht würde er eine gute Jagd haben, davon war Norbert Weise felsenfest überzeugt. Beide Hände auf das Fensterbrett gestützt, weidete er sich am Schauspiel der heraufziehenden Dämmerung. Der Mond war zu einer kümmerlichen Sichel geschrumpft, doch für das, was er vorhatte, genügte das fahle Licht vollkommen.
Die schnell dahinziehenden Wolkenfetzen verrieten Norbert, dass in den oberen Luftlagen ein kräftiger Wind wehte. Eigentlich erstaunlich, dachte er, in Anbetracht der absoluten Stille hier am Boden. Da er kein Meteorologe war, hatte er nicht die geringste Ahnung, was der Grund dafür sein könnte. Es interessierte ihn auch nicht sonderlich, stattdessen betrachtete er weiter die im wechselhaften Grau des Himmels zerfasernden Wolken. Wie bizarre Gestalten aus einem Fantasyfilm zogen sie über das Firmament.
»Gut so«, flüsterte er nickend. »Licht und Schatten.«
Verdeckten die Wolkengebilde den Mond, würden ihn die Schatten der Nacht vor neugierigen Blicken verbergen. Lag der Mond frei, half ihm das Licht, die Beute zu beobachten.
Norbert konnte es deutlich spüren, die kommende Nacht würde ergiebig werden, neue Trophäen würden in seine Sammlung Einzug halten. Die Vorfreude ließ sein Herz vor Erregung schneller schlagen. Nur mühsam gelang es ihm, die aufsteigende Ungeduld zu zügeln. Er hob den Arm und schaute zur Uhr. Nach einem weiteren Blick zum Himmel nickte er erneut. In einer knappen Stunde könnte er mit der Pirsch beginnen. Schwungvoll löste er sich von der Fensterbank, diese Zeitspanne galt es zu nutzen.
Mit größter Sorgfalt packte er sein Equipment in den Rucksack. Seine Anforderungen an diesen Rucksack waren hoch und er hatte lange suchen müssen, ehe er den richtigen gefunden hatte. Zuallererst musste der Rucksack dunkel sein. Bei einer Jagd zu leuchten wie ein Straßenbauarbeiter mit Warnweste, war tabu. Das Teil war gerade so groß, dass Norbert alles, was er für seine nächtlichen Pirschgänge benötigte, darin transportieren konnte. Mehr passte nicht hinein, musste auch nicht. Schließlich unternahm er keine ausgedehnten Wanderungen, die Proviant und Wasser erforderlich machten. Sein Revier war überschaubar und die zwei bis vier Stunden hielt er ohne Nahrung durch. Zusätzlich musste der Rucksack robust sein und fest schließen. An die Orte seiner Tätigkeit zurückzukehren, um verloren gegangene Dinge einzusammeln, verbot sich von selbst.
Nachdem Norbert sämtliche Teile verstaut und sich überzeugt hatte, dass sie keine Geräusche verursachten, stellte er den Rucksack griffbereit neben die Haustür.
Die Vorfreude löste ein so heftiges Glücksgefühl in ihm aus, dass er sich nicht zurückhalten konnte, die Tür öffnete und gierig die Luft einsog. Begeistert rieb er sich die Hände. Der Wettergott meinte es gut mit ihm. In dieser Nacht würde kein Tropfen Wasser vom Himmel fallen.
Mit wenigen Schritten war er in der Küche, suchte den Müll zusammen und lehnte den gut gefüllten Plastikbeutel an seinen Rucksack. Wenn er später das Haus verließ, konnte er gleich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
Abermals konsultierte er seine Uhr. Er musste nicht hetzen. Dreißig Minuten reichten für seine Vorbereitungen aus, aber ablenken lassen durfte er sich nicht mehr. Wenn Norbert in seinem Leben eins gelernt hatte, war es, dass Hast zu Fehlern führte, und die konnten bei seinem Vorhaben verhängnisvolle Folgen haben.
Er stieg ins Obergeschoss, zog sich nackt aus, legte seine Hauskleidung ordentlich auf einem Stuhl ab, lief ins Bad und wusch sich sorgfältig mit einer parfümfreien Seife. Während seiner Jagden war er bereits in Situationen geraten, bei denen er nur durch sofortiges Abtauchen einer Katastrophe entgangen war. Und Norbert war schlau genug, potenzielle Verfolger nicht durch eine Duftwolke auf sein Versteck hinzuweisen.
Im Schlafzimmer nahm er sich frische Unterwäsche aus dem Schrank. Schlüpfte anschließend in seine Camouflage Hose und in das ebenfalls tarnfarbene Sweatshirt. Diese Kleidungsstücke wusch Norbert gewissenhaft nach jedem seiner Einsätze und lüftete sie auf seinem Balkon gründlich durch. Als Letztes griff er sich seine Sturmhaube und steckte sie in eine der Beintaschen.
Norbert öffnete das Fenster und der Kontrollblick zum Außenthermometer sagte ihm, dass eine Jacke heute Nacht nicht notwendig war. Seiner Erfahrung nach würde die Temperatur bis in die frühen Morgenstunden nicht unter 17 Grad fallen und ohne Jacke war er beweglicher. Zusätzlich würde das Fieber der Jagd in ihm pulsieren und seinen Körper aufheizen.
In dem Moment, als er das Fenster schloss und der Riegel einrastete, drangen Geräusche an seine Ohren. Zuerst ein dumpfer Ton und dann das Rascheln von Plastik.
Mist, fluchte Norbert in sich hinein, mein Rucksack ist umgefallen. Hoffentlich ist der Müllbeutel nicht aufgegangen.
Unerwartete Verzögerungen mochte er überhaupt nicht. Er kannte die Gewohnheiten seiner Zielobjekte und bei einigen von ihnen war das Zeitfenster für einen guten Fang relativ klein.
Eilig stieg er die Treppe zu seinem Wohnzimmer hinab und blickte in Richtung Tür. Müllbeutel und Rucksack lehnten unversehrt an der Wand.
Erleichtert und schulterzuckend tat Norbert die Angelegenheit ab. Einer der Schränke wird geknarrt