Blutrausch. Andreas M. Sturm

Blutrausch - Andreas M. Sturm


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Gedanken kaum vollendet, als er erneut das merkwürdige Rascheln hörte. Jetzt war das Geräusch hinter ihm und so nah, dass sein Körper vor Panik zu beben begann.

      Erschrocken wirbelte er herum.

      Doch es dauerte einige Sekunden, bis sein Gehirn den Anblick verarbeitete, der sich seinen entsetzten Augen bot. Als er endlich realisierte, was da auf ihn zukam, begriff Norbert, wodurch das Geraschel ausgelöst wurde.

      »Was zum Teufel …«, brachte er gerade noch heraus, bevor ein grässlicher, reißender Schmerz in seinem Bauch all das, was er dachte und fühlte, gegenstandslos werden ließ.

       Dienstag, 15. Juli, 13.10 Uhr

      Erst nachdem Kriminalhauptkommissarin Karin Wolf sich nicht mehr in Sichtweite des Nagelstudios befand, blieb sie stehen, setzte ihre Lesebrille auf und musterte erfreut ihre Nägel. »Wow«, entfuhr es ihr und sie strahlte. »Das sieht ja richtig geil aus. Hätte ich viel früher machen lassen sollen.«

      Den Gutschein für die exklusive Maniküre mit allem Drum und Dran hatte ihr Sandra, ihre Partnerin, anlässlich des fünfjährigen Jahrestags ihres Kennenlernens geschenkt. Beim Weiterlaufen überlegte Karin, womit sie ihrer Geliebten eine Freude machen könnte. Aber das war kein großes Problem für sie. Sie hatte Sandras Elsterblick, den diese neulich vor einem Juwelierladen aufgesetzt hatte, sehr wohl zu interpretieren gewusst.

      Von ihrem spontanen Einfall total begeistert, machte Karin kehrt und marschierte in Richtung Elbe. Sie würde an ihrem freien Nachmittag am Fluss entlang zum Schillerplatz laufen, dort in aller Ruhe durch die Geschäfte stöbern und auf dem Rückweg dem Konsum, einem Einkaufsmarkt im alten Straßenbahnhof, einen Besuch abstatten. Wenn sie an das reichhaltige Käseangebot dachte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Baguette und Wein würden ihren Einkauf abrunden und den romantischen Abend mit Sandra perfekt machen.

      Voller Vorfreude vor sich hin summend, kehrten ihre Gedanken zu Frau Schubert zurück, bei der sie die letzte Stunde verbracht hatte. Während sich die Dame an Karins Händen zu schaffen gemacht hatte, hatte ihr Mund keine Sekunde stillgestanden. Die kurze Zeitspanne hatte der Nageldesignerin gereicht, ihr gesamtes Leben vor ihrer neuen Kundin auszubreiten. Karin kannte jetzt die Stärken und Schwächen von Frau Schuberts Gatten, konnte sich im Haus und Garten der Familie heimisch fühlen, wusste um deren Interessen, von dem Stress mit der Steuererklärung und dem Mehraufwand, den das Renovieren ihres Kosmetik- und Nagelstudios mit sich gebracht hatte.

      Es war Karin schleierhaft, wie jemand sich vor einer wildfremden Frau derart öffnen konnte. Die unfassbare Menge an Informationen, welche die Kosmetikerin freiwillig preisgegeben hatte, fand sie besorgniserregend. Mit Sicherheit hatte diese Frau noch nicht mit den dunklen Abgründen der Gesellschaft Bekanntschaft gemacht, war in ihrem Leben dem Hinterhältigen und Bösen noch nie begegnet.

      Beneidenswert, dachte Karin. Aber auf der anderen Seite quälte sie der kleine Stachel des Neides, weil sie selbst nicht in der Lage war, mit fremden Menschen eine so lockere Unterhaltung zu führen. Dazu war sie viel zu verschlossen und misstrauisch. Sie versteckte sich lieber hinter ihrem selbst geschaffenen Panzer.

      »Was sollʼs«, murmelte sie leicht frustriert. »Ich muss kein Charmebolzen sein, schließlich ist ein hoher Prozentsatz meiner Kunden mausetot und denen ist es völlig egal, dass ich ein Muffel bin.«

      Ganz konnte sie die Befürchtung jedoch nicht unterdrücken, dass sie durch ihr abweisendes Schweigen einen negativen Eindruck hinterlassen haben könnte.

      Hoffentlich erzählt die nette Kosmetikerin Sandra nicht, was ich für ein Stinkstiefel gewesen bin. Schnell unterdrückte Karin diesen Gedanken und dachte an etwas Schönes, an den bevorstehenden Abend mit Sandra.

       Dienstag, 13.30 Uhr

      Melanie Bergmann machte sich Sorgen um ihren Chef, in erster Linie aber um sich selbst.

      Als sie vor fünf Jahren ihr Jurastudium beendet hatte, war es schwer gewesen, einen Job zu finden. Nicht wegen ihres Abschlusses, auf ihrem Bachelor-Zeugnis prangten immerhin elf Punkte, doch die Tatsache, dass sie eine alleinerziehende Mutter war, hatte alle potenziellen Arbeitgeber zurückschrecken lassen, als hätte sie offene Tuberkulose.

      Nach einem quälend langen und zutiefst deprimierenden Bewerbungsmarathon stand Melanie schließlich kurz vor der Privatinsolvenz und begrub allmählich ihre Hoffnungen, eine Anstellung entsprechend ihrer Qualifikation zu finden. Ein Vorstellungsgespräch stand noch aus, danach würde sie sich artfremd bewerben und versuchen, über die Runden zu kommen. Jedenfalls hatte sie sich das fest vorgenommen.

      Doch sie schien bei Justitia einen Stein im Brett zu haben, denn die Göttin des Rechts führte sie in die Kanzlei von Norbert Weise. Von ihrer fachlichen Kompetenz äußerst angetan, versicherte ihr Weise, dass die Aufgaben, die sie täglich zu erledigen hätte, bequem innerhalb der Arbeitszeiten zu schaffen wären. Allerdings, und auf diesem Punkt bestand er nachdrücklich, sei Diskretion das wichtigste Kriterium für eine Einstellung.

      Bereits an ihrem ersten Arbeitstag verstand Melanie, weshalb dieser Fakt für ihren neuen Chef so maßgeblich war. Seine Geschäfte bewegten sich zwar im Rahmen der Legalität, waren moralisch jedoch mehr als fragwürdig. Als sie begriff, dass sie sich zur Gehilfin in einem dreckigen Spiel machte, focht Melanie mit ihrem Gewissen einen harten Kampf aus. Ihre prekäre finanzielle Situation, verbunden mit der Aussichtslosigkeit in einer anderen Kanzlei eine Beschäftigung zu finden, trug den Sieg über die mahnende Stimme in ihrem Inneren davon.

      Seit dieser Zeit war sie für Norbert Weise als Fachangestellte tätig. Er war ein angenehmer Chef, der stets ein freundliches Wort und jedes halbe Jahr eine Gehaltserhöhung für sie bereithielt. Zudem hatte er sein Versprechen gehalten, Überstunden waren die absolute Ausnahme. Und so konnte sie Arbeit und Kindererziehung ohne Probleme managen. Melanie fand, dass es ein annehmbarer Ausgleich für die Tatsache war, dass sie sich manchmal nicht im Spiegel anschauen konnte.

      Heute, um 13 Uhr, stand ein wichtiger Termin an. Als Norbert Weise, der ein Pünktlichkeitsfanatiker durch und durch war, zur Mittagszeit noch nicht erschienen war, stieg ein erster Anflug von Panik in Melanie auf. Sie hatte ihn auf dem Festnetz und auf dem Handy angerufen. Keine Reaktion, außer der Mailbox. Hektisch sagte sie im letzten Augenblick den Termin ab, dabei überkam sie das Gefühl, in einem Auto zu sitzen, das ohne Bremsen auf einen Abgrund zuraste.

      Zu gut klangen ihr die einmal im Scherz gesagten Worte ihres Chefs noch in den Ohren: »Wenn ich mal einen Termin nicht einhalte, bin ich entweder tot oder so krank, dass ich mich nicht fortbewegen kann.«

      Das wäre eine Katastrophe. Ihre Tochter war erst zehn und da Melanie Bergmann eine pragmatisch denkende Frau war, wusste sie, dass sie wenigstens noch sechs Jahre bei Weise durchhalten musste. Erst dann würde ihre Tochter der mütterlichen Fürsorge entwachsen sein und sie könnte sich nach einem anderen Tätigkeitsfeld umschauen. Doch bis dahin brauchte sie die Anstellung in Weises Kanzlei, anderenfalls würde sich die entspannte und sorglose Zweisamkeit mit ihrem süßen Mädchen schnell in eine ferne Utopie verwandeln.

      Nachdem eine weitere Stunde ohne jedes Lebenszeichen von Weise verstrichen war, hatte Melanie seine Eltern kontaktiert. Die hatten das letzte Mal am Wochenende mit ihrem Sohn telefoniert und konnten ihr nicht weiterhelfen. In ihrer Verzweiflung fragte sie bei Weises Tennispartner Heiko Klügel nach. Da der ebenfalls ratlos war, wählte sie nacheinander die Nummern sämtlicher Krankenhäuser von Dresden und Umgebung. Weder wurde ein Norbert Weise noch ein unbekannter Mann in den letzten Tagen eingeliefert.

      Eine letzte Möglichkeit gab es noch: Weise könnte in seiner Wohnung liegen, zu krank, um selbst Hilfe zu rufen.

      Melanie setzte sich gerade hin, atmete mehrmals tief durch und massierte ihre Schläfen. Ruhiger geworden, gelang es ihr, das Bild einer düsteren Zukunft in den hintersten Winkel ihres Seins zu verbannen. Entschlossen packte sie ihre Sachen zusammen, verließ das Büro und fuhr nach Weißig, wo ihr Chef ein Haus besaß.

      Nach zehn Minuten Sturmklingeln schaute


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