Blutrausch. Andreas M. Sturm

Blutrausch - Andreas M. Sturm


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eilte Karin nach Hause. Die letzten Meter rannte sie. Im Konsum, an der Käsetheke, hatte sie zu lange getrödelt und beim Juwelier hatte sie länger als geplant warten müssen, bis sich zwei blutjunge, ständig kichernde Mädchen endlich für zwei identische Halsketten entschieden hatten. Zusätzlich war die Kommissarin eine Haltestelle später aus der Bahn gestiegen, um beim Gemüsehändler auf der Österreicher Straße Blumen zu kaufen.

      »Wäre ich doch nur mit dem Auto gefahren«, schimpfte sie leise und suchte mit ihren Blicken misstrauisch die Straße hinter ihrem Wohnblock ab.

      Erleichtert stieß Karin die Luft aus. Sandras himmelblauer SEAT parkte noch nicht auf der Straße – ihr blieb eine Gnadenfrist.

      Wie von Furien gejagt, hetzte sie die Treppe in das vierte Stockwerk hinauf, schleuderte achtlos ihre Sandaletten von den Füßen, schaltete ihren Rechner an und verstaute Käse und Wein im Kühlschrank. Im Küchenschrank fand sie eine passende Vase für den Blumenstrauß. Der kleine Umweg hatte sich gelohnt. Onkel Vu hatte die schönsten Blumen in der ganzen Gegend.

      Atemlos wählte sie anschließend am Monitor ein hübsches Porträtfoto von Sandra aus, druckte es auf Fotopapier und befestigte die gerade erworbenen Ohrstecker an den Ohrläppchen, die unter den Haaren hervorlugten. Ein kurzer prüfender Blick auf ihr Werk, dann huschte sie ins Wohnzimmer und versteckte das Bild mit dem Schmuck in der Schrankwand hinter den Büchern, damit sie es im passenden Moment zur Hand hatte.

      Jetzt kam die große Ruhe über Karin. Zufrieden lächelnd, zog sie sich aus und marschierte ins Bad. Fünfzehn Minuten später stand sie frisch geduscht vor dem Spiegel und föhnte ihre Haare. Durch das Rauschen des Haartrockners bemerkte sie Sandras Ankunft erst, als sich die Badtür öffnete und zwei große braune Augen sie anstrahlten.

      Karin schaltete den Föhn aus, legte ihn auf der Waschmaschine ab, spitzte ihre Lippen und bot sie Sandra zum Begrüßungskuss. Danach hielt sie der Freundin vor Stolz strahlend ihre Hände entgegen.

      »Wow«, meinte Sandra beeindruckt. »Jetzt sehen deine Nägel nicht mehr aus, als hätte ein besoffener Biber dran rumgeknabbert.«

      Karin holte tief Luft, der Protest erstarb jedoch auf ihren Lippen. Mit all ihren Sinnen spürte sie Sandras Blicke, die jeden Quadratzentimeter ihres nackten Körpers abtasteten.

      Verführerisch lächelnd, trat Sandra nah an sie heran und legte ihr die Hand auf den Po. »Wenn du mich im Evakostüm empfängst, brauchst du dich nicht wundern, wenn ich spitz werde wie Nachbars Lumpi.«

      In Karins Unterleib wuchs ein wohlig warmes Gefühl. »Vor dem Essen?«

      Statt einer Antwort lächelte Sandra, zog ihr Shirt über den Kopf und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich glaube, du hast dich umsonst geduscht. In spätestens einer halben Stunde bist du wieder durchgeschwitzt.«

      In diesem Moment klingelte Karins Telefon.

       Dienstag, 17.10 Uhr

      Glücklich kniff Patricia die Augen zusammen und lächelte. Der Abend versprach wunderschön zu werden. Eigentlich schade, dachte sie ein wenig wehmütig, dass ich mich nicht auf meinen kleinen Balkon setzen und bei einem Glas Roten die Dämmerung genießen kann. Verdient hätte ich es, nach der Schinderei im Fitnesscenter. Doch sie tröstete sich schnell, die Nacht würde auch so lustig werden.

      Mit der Sonne um die Wette strahlend, bückte sie sich zu ihrem Fahrrad, öffnete das Schloss und radelte los. Vor zwei Tagen hatte sie die Annonce im Supermarkt entdeckt, kurzerhand die angegebene Nummer gewählt und war nur wenige Stunden später stolze Besitzerin eines flotten Drahtesels geworden. Patricia lächelte stolz. Drahtesel, was für tolle Vokabeln sie inzwischen beherrschte. Ihr Deutsch wurde von Tag zu Tag besser.

      Sie konnte sich nicht beschweren. Alle Projekte, die sie in den letzten sechs Monaten angepackt hatte, haben sich zu Senkrechtstartern gemausert.

      Vor drei Jahren war Patricia von Brighton nach Dresden gezogen. Hatte ihr Architekturstudium begonnen und es vor einem halben Jahr abgebrochen. Sie weinte dem Campus keine Träne nach. Das Entwerfen von Gebäuden hatte ihr nicht wirklich Spaß gemacht, ihr zu Beginn als Nebenerwerb geplantes Kellnern dagegen schon. Jeden Abend lernte sie in der Bar neue Leute kennen, jeden Abend neues Leben, neue Geschichten. Patricia fühlte sich wie geschaffen für diese bunte Welt. Die Trinkgelder, die sie allabendlich einstrich, waren okay und von der Aushilfe war sie zur fest angestellten Kellnerin aufgestiegen. Sie konnte sich eine eigene Wohnung leisten, der WG den Rücken kehren und obwohl ihr Nest noch nicht fertig eingerichtet war, fühlte sie sich pudelwohl.

      Ein ihr mit Blaulicht entgegenkommender Wagen ließ sie am Straßenrand anhalten. Sie blickte verwundert hinterher. Tatsächlich, die Polizei bog in ihre Straße ein. Was können die in dem friedlichen Viertel nur wollen? Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und nachgesehen. Aber das konnte sie vergessen, sie war ohnehin viel zu spät.

      Den Muskelkater ignorierend, trat sie kräftig in die Pedale, rief einer Nachbarin ein fröhliches »Hallo« zu und vergaß den Streifenwagen. Es gab wichtigere Dinge, bekam sie doch heute endlich die Gelegenheit, der Welt ihren neuen Sommeroverall zu präsentieren. Auch gab ihr die lange Fahrt zur Arbeit die Möglichkeit, ein wenig ihren Träumen nachzuhängen. Und davon hatte Patricia jede Menge. Sobald sie genügend Geld auf die hohe Kante gelegt hatte, wollte sie eine Ausbildung zum Sommelière beginnen. Patricia schmunzelte vergnügt. Später war vielleicht, mit einem Spritzer Glück, ein eigenes feines Weinrestaurant für sie drin.

      Ja, das Leben meinte es gut mit ihr und Patricia war sich sicher, sollte eine Wahrsagerin zu ihrer Zukunft eine Kristallkugel befragen, würde diese rosarot aufglühen.

       Dienstag, 18.20 Uhr

      Hauptkommissarin Karin Wolf stieg aus ihrem Ford Fiesta und schaute missmutig in die Runde. Dabei streifte ihr Blick eine Harley-Davidson, die aufgebockt am Straßenrand stand. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und sie schnaufte empört. Zum wiederholten Mal hatte sie das Wettrennen gegen das schwere Motorrad des Rechtsmediziners verloren.

      Während sie versuchte, ihre Niederlage zu vergessen, musterte sie die Umgebung. Der Tatort lag im Nordosten von Dresden, im Stadtteil Weißig. Die Bautzner Landstraße war einen halben Kilometer entfernt und die einzigen Geräusche wurden von den Kollegen der KTU beim Entladen ihrer Gerätschaften verursacht.

      Der Nachmittag mit seinen hochsommerlichen Temperaturen war einem milden Sommerabend gewichen. Ideal für ein gemütliches Abendessen, für Käse, Baguette und Wein. Idylle pur. Karin seufzte tief. Sie war müde und sehnte sich nach einem schönen Abend mit Sandra. Warum zum Teufel mussten die Leute sich umbringen lassen, wenn sie gerade auf Wolke sieben schwebte?

      Natürlich war Sandra gleichfalls enttäuscht gewesen, hatte ihre gute Laune inzwischen aber wiedergefunden. Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte die Hauptkommissarin ihre Kollegin Oberkommissarin Heidelinde Grün. »Bist du schon mal mit Karin gefahren, wenn sie mies drauf war?«

      »Ja, und bei diesen Gelegenheiten habe ich eine Menge neuer Schimpfworte gelernt.«

      Karin tat, als hätte sie nichts gehört und kam zur Sache. »Und? Wer versaut uns diesen Abend?«

      Da Heidelinde aufgrund ihres fotografischen Gedächtnisses kein Notizbuch benötigte, fasste sie die bisherigen Erkenntnisse aus dem Kopf zusammen. »Norbert Weise, vierundvierzig. Anwalt mit eigner Kanzlei.«

      »Oh Gott.« Sandra verdrehte die Augen. »Da gibt es sicher eine Million Verdächtige.«

      Ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, fuhr Heidelinde in ihrem Telegrammstil fort: »Wohnhaft war Norbert Weise hier. Haus und Grundstück gehören ihm. Ob er noch andere Immobilien, Grundstücke, Wohnwagen oder dergleichen besitzt, weiß ich noch nicht. Bringe es aber in Erfahrung. Gefunden hat ihn Melanie Bergmann, die er in seiner Kanzlei als Assistentin beschäftigte.« Heidelinde wies mit einem knappen Nicken zu einer jungen Frau, die ruhelos neben dem Haus auf und ab tigerte. »Die dort mit dem sauren


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