Blutrausch. Andreas M. Sturm
die Haustür möge bitte nicht verschlossen sein, drückte sie kräftig gegen diese und hätte beinah aufgeheult, weil ihr Wunsch nicht erhört worden war.
Erneut riss sie sich zusammen und lief um das Haus herum. Dabei klopfte sie an die Fensterscheiben und versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Zurück an der Vorderseite hob sie ihre Faust und donnerte mit aller Kraft gegen die Haustür. Als das nichts brachte, griff sie sich ihr Handy und rief einen Schlüsseldienst. Der Mann am anderen Ende der Leitung versicherte ihr, Hilfe sei unterwegs, aber da alle Leute im Einsatz waren, müsste sie sich auf eine Wartezeit von mindestens einer Stunde einrichten.
Melanie überlegte kurz, ob sie lieber gleich die Polizei verständigen sollte, ließ es dann aber. Wenn Weise nicht krank oder verletzt in seinem Haus lag und sie blinden Alarm auslöste, stünde sie wie eine hysterische Idiotin da.
Um die Wartezeit mit halbwegs heilen Nerven zu überstehen, drehte sie eine Runde in der Nachbarschaft und erkundigte sich unauffällig in der Apotheke nach Weise. Dort hatte man jedoch noch nie von dem Mann gehört. Über diese Auskunft verwundert, denn ihres Wissens lebte der Anwalt seit mehreren Jahren in diesem Viertel, setzte sich Melanie auf einen Stein vor dem Haus ihres Chefs. Und obwohl sie nicht an Gott glaubte, ließ sie ein weiteres Stoßgebet los. Inständig bat sie darum, dass der Mann vom Schlüsseldienst jung war. Immerhin musste sie den Handwerker um den Finger wickeln, damit der ihr die Tür öffnete, obwohl sie zu diesem Haus keine Zugangsberechtigung hatte. Käme ein älterer und erfahrener Mann oder gar eine Frau, hätte Melanie ein Problem.
Traurig blickte sie in den Vorgarten, der mehrere gepflegte Rosenstöcke beherbergte, bis endlich das Auto des Schlüsseldienstes um die Ecke bog. Diesmal wurde ihr Gebet erhört. Der Handwerker war Anfang dreißig, so kostete es Melanie nur ein paar laszive Blicke und dahingeschnurrte Bemerkungen über die muskulösen Schultern des jungen Mannes und der öffnete ihr die Tür in wenigen Augenblicken. Zähneknirschend beglich sie die gepfefferte Rechnung, unterdrückte mühsam ihre Ungeduld und winkte dem Monteur fröhlich nach. Kaum war das Fahrzeug außer Sicht, stürzte Melanie durch die Tür ins Haus. Mit ihrem ersten Schritt stand sie bereits im Wohnzimmer, in Weises Heim gab es keinen Flur.
Ihren Chef entdeckte sie auf Anhieb. Sein Körper lag ausgestreckt auf dem Boden. Melanie lief zu ihm. Mit viel Glück konnte sie das Verhängnis vielleicht noch abwenden, Norbert Weise retten und ihre Zukunft sichern.
Doch der Anblick, der sich ihrem entsetzten Blick bot, war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Tränen der Verzweiflung schossen in ihre Augen, als sie erkannte, dass sie zu spät kam.
Benommen wandte sie sich ab und taumelte durch den Raum hinaus ins Freie. Dort reaktivierten die glühende Sonne und das grelle Licht ihre Lebensgeister.
Melanies Verzweiflung schlug in wütende Empörung um. »Lässt der Idiot sich einfach umlegen«, schimpfte sie laut. »Hätte der nicht wenigstens noch sechs Jahre warten können?«
Dienstag, 16.10 Uhr
Nachdem sich die Tür hinter der letzten Kundin für heute geschlossen hatte, dachte Marleen Schubert noch einmal an Frau Wolf zurück. Die Frau war zur Mittagszeit bei ihr gewesen und obwohl bereits mehrere Stunden vergangen waren, ging ihr die neue Kundin nicht aus dem Kopf.
Eine außergewöhnliche Frau, so höflich und bescheiden. Schade, dass nicht alle meine Kunden so sind, dachte Marleen.
Sie warf einen Blick auf das ausgefüllte Datenblatt, rechnete kurz nach und machte vor Erstaunen große Augen. Die muss sich verschrieben haben, schoss es ihr durch den Kopf. Diese Frau ist niemals neunundvierzig. Die sieht ja knuspriger aus als ich und ich bin neun Jahre jünger.
Marleen schüttelte fassungslos den Kopf. Für das Aussehen dieser Frau würde sie, ohne zu zögern, zehn Jahre ihres Lebens hergeben. Na ja, fünf – vielleicht?
Mein Gott, und was für schöne Hände die Frau hat. Makellos schlanke lange Finger und so zarte Haut.
Marleen hielt ihre Hände hoch und betrachtete sie kritisch. Dann seufzte sie tief, doch bevor sie sich groß Gedanken machen konnte, riss sie ein leises Rascheln, das nach dem Zusammenknäulen von Folie klang, aus ihren Gedanken.
Sie erhob sich und wollte in den hinteren Raum gehen, aus dem das merkwürdige Geräusch zu ihr gedrungen war, da sah sie aus den Augenwinkeln den weißen Octavia mit ihrem Mann Dirk am Steuer auf den Parkplatz fahren.
Pünktlich wie immer, freute sie sich und verschob auf der Stelle ihren Erkundungsgang auf den nächsten Tag. Eine Tüte mit Kosmetikpads wird heruntergefallen sein, darum kümmere ich mich morgen, sagte sie zu sich selbst.
Schnell warf Marleen Schlüssel, Telefon und Portemonnaie in ihre Handtasche, nahm die Tageseinnahmen aus der Geldkassette, verließ den Laden, verschloss gründlich die Tür hinter sich und eilte zu ihrem Mann.
Dienstag, 16.30 Uhr
Er empfand weder Enttäuschung noch Wut. Inzwischen hatte er sich an dieses Gefühl gewöhnt. In gewissen Situationen hatte er gar den Eindruck, wie ein unbeteiligter Beobachter neben sich selbst zu stehen, so wenig brachten ihn die Vorgänge und das Leben in der Stadt aus dem Gleichgewicht. Dabei war er weder phlegmatisch noch an seiner Umwelt desinteressiert. Zurückschauend musste er sich eingestehen, dass das nicht immer so gewesen war. In der Kindheit und Pubertät hatte ihn nichts von seinen Klassenkameraden unterschieden. Er hatte mit ihnen gelacht und war über Ungerechtigkeiten ebenso empört gewesen wie die anderen.
Jetzt, mit einem gewissen Abstand, glaubte er, dass die Ereignisse, die sein Leben verändert hatten, kein Zufall gewesen waren und ihn neu geformt hatten.
Es war Schicksal.
Er war auserwählt worden und hatte Macht in die Hände gelegt bekommen. Dieser Macht musste er sich würdig erweisen und furchtlos den neuen Weg beschreiten.
Natürlich war die Veränderung nicht von heute auf morgen über ihn hereingebrochen. Es war ein langwieriger Prozess gewesen, voller Selbstzweifel, Angst und Wut. Ein schwächerer Mensch wäre mit Sicherheit an dieser Metamorphose zugrunde gegangen – er jedoch war wie ein Phönix aus der Asche gestärkt ins Leben zurückgekehrt.
So machte es ihm heute nicht das Geringste aus, dass die Kosmetikerin nicht die ihr zugewiesene Rolle gespielt hatte. Dabei kostete es endlose Mühe einen Plan auszuarbeiten und wenn dann wegen einer Kleinigkeit das Vorhaben scheiterte, wäre es nur natürlich, wenn die Emotionen in ihm hochkochen würden.
Warum musste die Frau ausgerechnet heute ihr Geschäft überpünktlich verlassen? Für gewöhnlich machte sie sich noch einen Kaffee und räumte auf. Er wüsste zu gern, was sie zu der ungewöhnlichen Hast getrieben hatte. Vermutlich würde er das nie erfahren und eigentlich kümmerte ihn das auch nicht. Wenn er in sich hineinhorchte, stellte er fest, dass er die Sache entspannt sah. Morgen war auch noch ein Tag.
Genieße deine vierundzwanzig geschenkten Stunden, Mädchen!
Gerade als er das Kosmetikstudio verlassen wollte, fiel ihm im letzten Moment ein, dass Frau Schubert ihn gehört haben könnte. Es war nicht erforderlich, ihr Misstrauen zu wecken. Unnötiges Grübeln gräbt Falten in die Haut und schadet dem guten Aussehen und schließlich wusste er, mit welcher Sorgfalt die Kosmetikerin ihr Äußeres pflegte.
Über seinen Witz grinsend, nahm er eine Tüte mit Kosmetikpads aus einem offenstehenden Schrankfach und ließ sie zu Boden fallen.
Das gelegentliche Rascheln, das sich bei seiner Arbeit trotz größter Vorsicht nicht vermeiden ließ, war ein Ärgernis. Aber eine andere Möglichkeit, sauber und diskret zu arbeiten, sah er nicht.
Nach einem letzten prüfenden Blick, dass er auch keine Spuren hinterließ, verließ er das Studio durch die Hintertür, durch die er es zuvor betreten hatte. Dabei versäumte er es nicht, den Schlüssel zweimal im Schloss umzudrehen. Genauso, wie es Frau Schubert stets tat.