Blutrausch. Andreas M. Sturm
wusste, ob du sie noch befragen willst«, sagte sie an Karin gewandt.
Die schüttelte nur den Kopf und gähnte ausgiebig. »Wenn du mit ihr gesprochen hast, ist alles okay. Mir erzählt sie auch nicht mehr. Lass sie gehen, wir melden uns morgen bei ihr. Hat der Mann Angehörige?«
»Nur die Eltern. Ich habe Brückner zu ihnen geschickt.«
Karin zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.
»Du musst nicht so kritisch gucken. Mit älteren Herrschaften kann er sehr gut umgehen.«
Karin, die wusste, dass Oberkommissar Brückner bei seinen Eltern lebt, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und segnete Heidelindes Entscheidung ab.
»Da Weise in seiner Kanzlei keinen Partner hat, sich also niemand querstellen kann«, Heidelindes Wangen überzogen sich mit einer zarten Röte, »und ich nicht abwarten konnte, bis ihr hier auftaucht, habe ich deiner Entscheidung vorgegriffen, Karin.«
Obwohl Karin wusste, was jetzt kommen würde, und sie mit Heidelindes Vorgehen einverstanden war, konnte sie es wieder mal nicht lassen, ihre Kollegin an der Nase herumzuführen. Sie unterdrückte ein Grinsen und setzte eine strenge Miene auf.
Verunsichert sprach Heidelinde weiter: »Da ich hoffe, dass wir in seinen Unterlagen relevante Informationen finden, habe ich Jan mit Frau Bergmanns Schlüssel losgeschickt, damit er sich in der Kanzlei umsieht.«
Karin holte tief Luft, doch Sandras Faustschlag auf ihren Oberarm stoppte sie. »Quäl die arme Heidi nicht so. Siehst du nicht, wie sehr es sie mitnimmt, dass sie sich nicht an die Vorschriften gehalten hat? Du hättest es genauso gemacht, allerdings hättest du im Gegensatz zu Heidi kein schlechtes Gewissen.« Sandra trat zu der blonden Kommissarin und legte ihre Hand auf deren Arm. »Du hast alles richtig gemacht, Heidi. Und du musst auch nicht unbedingt mit Karin sprechen. Ich habe denselben Dienstgrad und vielleicht werde ich die Leitung der Morduntersuchung übernehmen.«
Jetzt lächelte Heidelinde. Zum Teil aus Erleichterung, aber auch weil sie Sandras Gedanke amüsierte. Allen war klar, dass nur außergewöhnliche Umstände ihren Chef, Kriminalrat Haupt, davon abhalten würden, Karin mit der Ermittlungsleitung zu betrauen.
»Eigentlich wollte ich nur sichergehen«, setzte Heidelinde ihren Bericht fort, »vermutlich hat das Verbrechen nichts mit der Arbeit des Anwalts zu tun. Alle Indizien deuten darauf hin, dass Weise einen Einbrecher überrascht hat und ihm das zum Verhängnis wurde. Doch ich will nicht vorgreifen. Am besten ihr seht euch die Bescherung selbst an.«
Karin und Sandra ließen sich von einem Kriminaltechniker Schutzanzüge geben, schlüpften hinein und betraten das Haus. Sie sahen auf den ersten Blick, dass Heidelindes Theorie nicht aus der Luft gegriffen war. Die Kabel für den Fernseher und den DVD-Player lugten traurig hinter dem gläsernen Rack hervor und eine leere Laptop-Tasche neben der Couch sprach Bände. Die Fächer und Schubladen der Wohnwand zeigten ebenfalls Anzeichen einer gründlichen Suche.
Karin blieb in der Mitte des Raumes stehen und ließ die Atmosphäre des Zimmers auf sich wirken. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft. Süßlich und leicht metallisch. Der Geruch des Todes. Obwohl sie die Leiche ausblendete, glaubte sie einen kalten Hauch auf ihrer Haut zu spüren. So, als würde der Geist des Toten neben ihr stehen. Augenblicklich stellten sich die Härchen auf ihren Unterarmen auf. Ein Verbrechen verändert einen Ort, fuhr es ihr durch den Kopf. Nicht nur äußerlich, in Form von Blut und dem Chaos einer Durchsuchung, sondern auch in der Ausstrahlung. Die Wände, der Fußboden, alles sandte bedrohliche Signale aus. Sie schüttelte die Empfindung ab und ging zu Sandra, die gerade zu dem Opfer getreten war.
Dr. Bretschneider, der Rechtsmediziner, widmete sich mit Hingabe der Leiche. Karin nickte dem Doktor knapp zu, Sandra dagegen beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte – laut genug, dass es alle Anwesenden hören konnten – in sein Ohr. »Hallo Mario, hast du Karins Zähne knirschen gehört, als du uns kurz nach Bühlau überholt hast?«
»Gehört nicht, gedacht habe ich es mir allerdings. Hallo, Karin.« Er winkte der schwarz gekleideten Hauptkommissarin fröhlich zu.
Die klappte mental die Ohren zu und das vertraute Gefühl von Frustration überkam sie bei der Erinnerung an Dr. Bretschneider, der mit einem eleganten Schlenker an ihnen vorbeigezogen war. Was konnte sie dafür, dass ihr Fiesta keine Chance gegen eine Harley hatte?
Ohne die beiden Scherzkekse eines Blickes zu würdigen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Toten. Das schmerzverzerrte Gesicht und die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen holten Karin auf der Stelle in die Realität einer Mordermittlung zurück. Das Bild schockierte sie in seiner Brutalität so sehr, dass sie ihre Augen abwenden musste. Sie hatte in ihrer langen Dienstzeit viele schrecklich zugerichtete Leichen sehen müssen, aber ein derart gewaltsames Vorgehen war nicht alltäglich. Dieser Mann war einen qualvollen Tod gestorben. Die Blutlache neben dem Körper und die verkrampften Hände, die der Anwalt im Todeskampf an seinen Bauch gepresst hatte, verrieten der erfahrenen Kommissarin eine Menge über die Art seines Todes.
Mühsam löste Dr. Bretschneider die Finger des Opfers und unterzog die großflächige Wunde einer näheren Betrachtung. »Es sieht so aus, als hätte ihm der Täter das Messer in den Unterbauch gerammt und es anschließend nach oben gerissen. Anders kann ich mir die starke Blutung nicht erklären. Näheres erfahrt ihr morgen.«
»Kannst du schon sagen, wann er ermordet wurde?«
»Dass ihr es nie abwarten könnt.« Bretschneider wiegte nachdenklich den Kopf. »Festlegen will ich mich nicht, aber da die Totenstarre voll ausgeprägt ist, liegt er mindestens zwölf Stunden hier – wahrscheinlich sogar länger. Anhand der Körper- und Umgebungstemperatur tippe ich auf zwanzig bis fünfundzwanzig Stunden. Morgen kann ich es euch genau sagen.«
Von Sandra war sämtliche Fröhlichkeit abgefallen. Bedrückt starrte sie auf den Toten und hatte nur den Wunsch, sich fest an Karin zu klammern. Bei den vielen Kollegen im Raum verbot sich das jedoch von selbst. Dass Karin und sie ein Paar waren, wusste außer ihren engsten Mitarbeitern niemand. Wenn die Polizeiführung von ihrer Beziehung erfahren würde, dürften sie nicht mehr in derselben Abteilung arbeiten. Und das wollten die beiden um jeden Preis vermeiden.
Karin überwand ihre Schwäche und zwang sich, den Toten gründlich zu mustern. Jede Kleinigkeit prägte sie sich ein und wusste dabei genau, dass dieser grässliche Anblick sie in den kommenden Nächten in die schwärzesten Träume schicken würde. »Der hatte gestern Abend auf jeden Fall noch etwas vor«, sagte sie mehr zu sich selbst, »die Camouflage-Klamotten sind definitiv zu unbequem für einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher.«
»Vielleicht wollte er sich einen Kriegsfilm ansehen. Authentizität ist bei einem aktiven Zuschauer ein Muss.«
Der schwarze Humor des Gerichtsmediziners vertrieb Karins Beklommenheit. Dankbar grinste sie Dr. Bretschneider von der Seite an und zeigte auf die Pantoffeln, die der tote Anwalt noch an den Füßen trug. »Müsste er da nicht zackige Armeestiefel tragen?«
Ehe der Doktor antworten konnte, meldete sich Sandra. »Neben der Haustür stehen ein Paar blitzblank geputzte Wanderschuhe. So sauber, wie dieses Wohnzimmer ist, lief der niemals mit Straßenschuhen durchs Haus.«
Karin presste die Lippen aufeinander. Dieses Detail war ihr entgangen.
Die schweren Tritte von Günther Lachmann, dem Chef der KTU, stoppten ihre Selbstvorwürfe. Er kam die Treppe hinuntergestiegen. »Mir reicht es langsam mit diesem Mist. Ich glaube, ich habe in meinem Leben genug Leichen und Tatorte gesehen. Dieser Fall ist definitiv mein letzter.« Er holte tief Luft. »Es ist höchste Zeit für meinen Ruhestand.«
Karin hatte schon lange mit dieser Ankündigung gerechnet, die Entscheidung war längst überfällig, doch jetzt, da er es klar formulierte, wurde sie traurig. Verstehen konnte sie ihren alten Freund gut. Er wollte seinen Lebensabend mit Frau, Kindern und Enkeln verbringen und nicht mehr ständig mit den Händen in Dreck, Blut und Kot wühlen. Es würde einen Abschied geben und Karin wusste, dass trotz aller Beteuerungen, man würde sich ja oft treffen, dieser Abschied endgültig wäre.
Doch hier und heute war es noch nicht so weit. Betont fröhlich