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nahm ihr die Entscheidung ab. »Wie läuft alles im Herrenhaus?«, fragte sie ruhig. Sie hatte zusammen mit Kyoshi dort gelebt. Yokoya war auch ihr Zuhause gewesen, bis zu jener Nacht, in der sie mitten im Sturm geflohen waren.

      »Es ist weniger los.« Das Anwesen war nicht mehr so voller Leben und Trubel wie zu Kyoshis Dienstzeit. Der größte Teil der Belegschaft hatte sofort gekündigt, nachdem die Ermittler des Erdkönigs den Vergiftungsfall abgeschlossen hatten. Kyoshi, die neue Herrin, hatte sie nicht ersetzt, da sie ohnehin keinen großen Haushalt führen wollte. Daher blieben die meisten Flure leer und die Gärten wurden vernachlässigt. Die Dörfler mieden das größtenteils verwaiste Haus und munkelten, es würde Pech bringen. »Tante Mui ist noch da und tut, was sie kann. Ich weiß nicht, warum sie noch nicht gegangen ist.«

      »Na wegen dir!« Rangi blickte sie schmerzerfüllt und frustriert an, als hätte jemand in einer alten Wunde herumgestochert, die schon längst hätte verheilt sein sollen. »Sie will dir beistehen, Kyoshi.«

      Sie schien mehr dazu sagen zu wollen, entschied sich jedoch dagegen. Sie mussten alle anderen Dinge ausräumen, um so viel Platz wie möglich zu schaffen, damit sie zu ihrem nächsten Thema gelangen konnten. Eine Zeit lang starrten sie beide dieselbe Ansammlung blutroter Fäden an, die in den Teppich eingewebt worden waren.

      Wieder einmal ergriff Rangi zuerst das Wort. »Und Yun?«

      Sie erinnerte sich gut an eins der Versprechen, die sie Rangi damals gegeben hatte, bevor sie an Bord des Schiffes gegangen war, das sie in den eisigen Norden bringen würde: Was es auch kosten möge, sie würde ihren gemeinsamen Freund finden. Diesen Schwur hatte sie irgendwie zwischen all den Tränen und festen Umarmungen untergebracht, von denen ihre Schultern noch Tage später geschmerzt hatten. Die Hafenarbeiter und Matrosen auf dem Pier, die murrend einen Bogen um sie hatten schlagen müssen, weil beide nur noch aneinander gedacht hatten, waren ihre einzigen Zeugen gewesen.

      Doch in den Weiten des Erdkönigreichs hatte sich die Kraft ihres Schwurs alsbald verflüchtigt. Schnell hatte sie begriffen, dass es tatsächlich unmöglich war, jemanden ohne jeden Ansatzpunkt auf dem größten Kontinent der ganzen Welt zu finden – nicht einmal, wenn die Person so berühmt war wie Yun. Sie hatte keinen Shirshu, um seine Witterung aufzunehmen, keine spirituellen Trigramme, mit denen sie seinen Aufenthaltsort hätte bestimmen können. In den Dörfern, durch die sie wegen ihrer Avatarpflichten kam, die einfachen Leute zu fragen, ob sie einen gewissen Erdbändiger gesehen hatten, war lachhaft. Eine graue Hand hat er? Kenn ich, mein Cousin hat auch solche Hautprobleme.

      Rückblickend war von ihren großartigen Absichten nicht mehr übrig geblieben, als ihre kurzen Briefe an Weise zu schreiben, denen nicht mal in den Sinn kam, ihr zu helfen. Warum sollten sie auch? Nicht nur Lu Beifong zog es vor zu glauben, dass Yun tot war.

      »Ich dachte, wenn ich rauskriege, wie er überlebt hat, finde ich vielleicht einen Hinweis«, sagte Kyoshi. »Aber ich hab nur Dokumente zu Volkserzählungen gefunden, in denen berichtet wurde, dass Menschen in körperlicher Form von Geistern verschleppt wurden, und keiner von ihnen hat überlebt. Ich hab keine Erklärung dafür, wie er zurückkommen konnte.« Oder warum er sich verändert hat.

      Sie rieb sich die Augen. Es schmerzte sie so sehr, ihr Scheitern noch einmal zu durchleben, dass sie kaum geradeaus schauen konnte. »Am nächsten dran war noch die Erzählung über den Sohn eines Provinzstatthalters während der Hao-Dynastie. Er war von einem Geist besessen. Seinem Bericht nach ist ein Drachenvogel durch seinen Körper geflogen, hat sein körperliches Erscheinungsbild verändert und ihm ungewöhnliche Fähigkeiten verliehen.«

      »Ist das die Lösung?«, fragte Rangi. »Vielleicht fällt es Menschen, die von Geistern berührt worden sind, leichter als anderen, die Grenze zwischen der Geisterwelt und dem Reich der Menschen zu überschreiten.«

      »Schwer zu sagen. Der Text hat von keinem Übertritt zwischen den Welten berichtet. Es heißt nur, dem Jungen wären Federn und ein Schnabel gewachsen, als der Drachenvogel in seinen Körper gefahren ist. Äußerlich hat Yun nicht anders ausgesehen als damals in Qinchao. Aber er ist nicht mehr derselbe. Das weiß ich einfach.«

      Kyoshi war in ihrem roten Gemach nach Schreien zumute. Mehr hatte sie nicht zusammenkratzen können, um ihren Freund aufzuspüren: eine alte Geschichte und eine wilde Vermutung. Rangi konnte sie nichts vormachen. Das ganze Gewicht ihrer vergeblichen, vergeudeten Bemühungen lastete auf ihren Schultern.

      »Kyoshi … hast du je in Erwägung gezogen, dass er sich abgewandt haben könnte?«

      Sie schaute bei Rangis Frage verwirrt auf. »Wovon?«

      »Von uns.« Rangi schluckte, es schien sie zu schmerzen, die Worte auszusprechen. »Nach allem, was du mir erzählt hast, glaube ich, er will gar nicht gefunden werden.«

      Als Kyoshi protestieren wollte, hob Rangi die Hand. »Denk mal drüber nach. Er hätte auf so viele Arten mit dem Avatar in Kontakt treten können. Er kennt die Weisen des Erdkönigreichs. Er hätte ihnen eine Nachricht hinterlassen können. Dass du nichts von ihm gehört hast, spricht Bände.«

      Kyoshi konnte glauben, dass die Adligen des Erdkönigreichs, was Yun betraf, lieber ihre Köpfe in den Sand steckten. Aber Rangi? Wie konnte sie nur?

      »Du meinst also, dass wir ihn vergessen sollen«, sagte Kyoshi. Sie spürte, wie ihr die Brust eng wurde. »Ihn aus unserem Gedächtnis zu tilgen, wie Lu Beifong und der Rest der Weisen es wollen.« Wie Jianzhu es wollte.

      »Nein, Kyoshi, das meine ich nicht. Ich spreche davon, dass wir unserem Freund erlauben sollten, zu uns zurückzukehren, weil er es will, nicht weil wir es fordern. Ich will, dass die Menschen, die mir was bedeuten, auch mal ihre Ruhe haben, statt ständig zwanghaft über andere nachzudenken.« Sie seufzte.

      »Du hast gesagt, es wäre ihm gut gegangen, als du ihn gesehen hast«, fuhr Rangi fort. »Ich glaub, wir müssen uns über sein Überleben keine Gedanken machen. Jemand mit Yuns Talenten kommt überall im Erdkönigreich blendend zurecht. Ich würde meine Ehre dafür verwetten, dass er auftaucht, sobald er bereit ist. Und wenn’s so weit ist, dann nehmen wir ihn für alles, was passiert ist, ins Gebet.

      Und danach«, verkündete sie mit der Kraft eines frischen Schwurs, »kehren wir drei gemeinsam nach Yokoya zurück und lassen uns von Tante Mui das größte Abendessen kochen, das wir je gegessen haben. So sollte unser Plan aussehen.«

      Kyoshi rang sich ein Lächeln ab. Jianzhu. Das Teehaus in Qinchao. Wie Yun dem Griff jenes infernalischen Geistes entkommen und ins Tageslicht zurückgekehrt war. Vielleicht wäre es möglich, den Knoten zu lösen – vorausgesetzt, dass sie es immer noch mit ihrem alten Freund zu tun hatten.

      Alle drei vereint, so wie damals, bevor die Avatarschaft eine Ecke des Dreiecks abgetrennt hatte. Sie wollte jene alte Zeit wiederhaben, mehr als alles andere auf der Welt. Doch im Innersten fürchtete sie sich vor der Wahrheit, die die Welt ihr immer wieder aufzwingen wollte: Kyoshi bekam selten, was sie wollte, wenn überhaupt jemals.

      Rangi sah, dass sie nicht zu ihr durchdrang. Sie beschloss, etwas anderes zu versuchen, und näherte sich, wobei sie die Hüfte betont hin und her schwingen ließ. »Weißt du, bis zur Feier sind’s noch ein paar Stunden«, hauchte sie mit glühender Stimme. Sie streckte den Arm aus und fuhr mit Daumen und Zeigefinger sanft über den Aufschlag von Kyoshis Waffenrock. »Ich hab eine Idee, wie ich dich bis dahin auf andere Gedanken bringen kann.«

      Ein dummes Grinsen breitete sich auf Kyoshis Gesicht aus. Sie beugte sich hinunter, bis sie an ihrem Ohr Rangis Lippen spürte.

      »Stand-Training«, flüsterte Rangi. Plötzlich hatte sie Kyoshi fest an den Kleidern gepackt. Mit einer raschen Bewegung trat sie Kyoshis Füße auseinander, bog ihre Knie mit Gewalt durch und zwang sie in einen tiefen Stand.

      »Weißt du, wie leicht es war, dich am Tor aus dem Gleichgewicht zu bringen?!«, schrie Rangi. »Du hast nicht geübt! Ich dachte, ich könnte darauf bauen, dass du in meiner Abwesenheit nicht verweichlichst, aber da hab ich mich wohl geirrt!«

      Kyoshi stotterte bestürzt:


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