Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi. F.C. Yee

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      KULTURDIPLOMATIE

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      KYOSHI VERGAß SCHLAGARTIG, warum sie eigentlich hier war. Wo sie war. Wo oben und unten war. Rangi küsste all ihre Erinnerungen fort. Sie verschmolzen miteinander, bildeten eine Legierung.

      Und dann brach Rangi den Kuss ab und trat einen Schritt zurück – womit sie aus Kyoshis Sicht ungeheure Grausamkeit an den Tag legte. »Willkommen in der Feuernation, Avatar«, sagte sie, wieder ganz professionell. Sie glättete eine Haarsträhne, die verrutscht war, verhielt sich aber sonst so, als hätte sie Kyoshi nicht gerade allein mit ihren Lippen um den Verstand gebracht.

      Der Avatar taumelte noch immer, war zu benommen, um zu antworten. »Herrin Rangi, sagte Jinpa und lief flink um Kyoshi herum, um ihre Gastgeberin zu begrüßen. Auf Luftnomadenart legte er die Handflächen zusammen und verbeugte sich vor ihr. »Schön, Euch endlich persönlich kennenzulernen.«

      Kyoshi wurde unwillkürlich rot. Jinpa wusste, wer Rangi war, aber sie war nicht sonderlich begeistert, dass ihr Sekretär einen solch intimen Moment mitbekam. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er später in seine Notizen schreiben würde: Tag eins von Kyoshis erstem Besuch der Feuernation, würde er für die Nachwelt festhalten. Avatar Kyoshi küsst unangemessenerweise die Liebe ihres Lebens, auf der Schwelle zur sichersten Festung der Welt.

      »Bruder Jinpa«, sagte Rangi so freundlich, wie sie es selten gegenüber jemandem war. »Ihr beehrt mich mit Eurer Anwesenheit. Ihr könnt den Bison ruhig am Tor lassen: Unsere Stallmeister wissen, wie man sich um die Reittiere jeder Nation kümmert.« Sie beugte sich vor und zwinkerte ihm zu. »Ich werde sie wissen lassen, dass ich ihnen das Leben zur Hölle mache, wenn sie Euren Gefährten schlecht behandeln.«

      Jinpa lachte, bis er Kyoshis Blick auffing und begriff, dass das kein Scherz gewesen war. Das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Er ging zurück und löste Yingyongs Zügel. »Sei ein guter Junge und bleib«, hörte Kyoshi ihn dem Bison ins Ohr flüstern, woraufhin das Tier kummervoll brummte. »Ja, ich weiß, sie ist Furcht einflößend. Mir passiert schon nichts

      Sobald sie Yingyong in guten Händen wussten, gingen Kyoshi, Rangi und Jinpa den Tunnel entlang. Er war dafür entworfen, Menschen darin umzubringen. Die Wände waren mit Eisenplatten ausgekleidet, in die kleine Löcher gebohrt waren, durch die man Pfeile und Feuerstöße schießen konnte. Der Boden wirkte solide, allerdings schien sich darunter ein Hohlraum zu befinden, was wohl bedeutete, dass die Verteidiger sie mit einem Hebel plötzlich in die Tiefe stürzen lassen konnten.

      Ein kurzes Husten echote durch den Gang, dann wurde es gewaltsam unterdrückt. Es stammte weder von Kyoshi noch von ihren Begleitern. Ihr Blick zuckte umher, glitt erneut über die Wände. Wenn hinter jedem Loch ein Soldat stand, dann schaute ihnen gerade ein ganzer Trupp dabei zu, wie sie vorbeigingen.

      Kyoshi versuchte nervös, alles in diesem eisernen Schlund im Auge zu behalten, bis sie endlich auf der anderen Seite der Mauer auf einen gepflasterten Platz herauskamen. Das karge Grün des Gartens ließ keinerlei beruhigende Wirkung entstehen. Ein einzelner Minister erwartete sie. Er war in die rote und schwarze Seide der Zivilbehörden gekleidet und machte einen ganz und gar unglücklichen und verspannten Eindruck.

      »Avatar Kyoshi«, sagte er. Er verbeugte sich tief und sein langer Schnurrbart hing schlaff herab. »Ich bin Kanzler Dairin, der oberste Palasthistoriker. In Feuerlord Zoryus Namen begrüße ich Euch in unserem Land.«

      »Die Ehre ist ganz meinerseits, Kanzler«, erwiderte Kyoshi. »Wo ist der Feuerlord? In seiner Nachricht hieß es, wir hätten wichtige Angelegenheiten zu besprechen.«

      Dairins Miene wirkte noch säuerlicher als zuvor. »Im Moment ist er … indisponiert. Ihr werdet Feuerlord Zoryu heute Abend kennenlernen.«

      Eine derart brüske Begrüßung hatte Kyoshi nicht erwartet. Andererseits musste sie zugeben, dass gerade sie nicht das Recht hatte, jemanden für seinen Mangel an Diplomatie zu kritisieren.

      Rangi schritt ein, um von der peinlichen Stille abzulenken. »Ich glaube, der erste Punkt auf der Agenda ist die Palasttour, Kanzler«, sagte sie. »Kyoshi hat mir ständig damit in den Ohren gelegen, dass sie unbedingt mehr von einem der führenden Avatargelehrten unserer Welt erfahren will.«

      Ihre Schmeichelei wirkte, als würde man einem wütenden Kind ein Bonbon in den Mund stecken. Dairin konnte nicht zeigen, wie sehr er sich freute, ohne zu riskieren, albern auszusehen. »Natürlich«, sagte er und gab sich redlich Mühe, eine noch missmutigere Miene aufzusetzen. »Ich kann Euch versichern, die Führung ist sehr lang und umfassend. Hier entlang, bitte.«

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      Gemeinsam mit den anderen schritt Kyoshi feierlich durch die königlichen Korridore, wie es schon ihre Vorgänger seit der Vereinigung der Feuerinseln getan hatten. Die großen Hallen des Palastes waren völlig verwaist, was nur eine Möglichkeit zuließ: Die Dienerschaft beobachtete sie und ging ihnen aus dem Weg; Wachen und Bedienstete verschwanden hinter Ecken, um die Augen des Avatars nicht mit ihrer Anwesenheit zu beleidigen. Diesen Trick kannte Kyoshi sehr gut. Er erzeugte die Illusion von Ruhe und Abgeschiedenheit, obwohl es einer ganzen Armee an fleißigen Leuten bedurfte, um ein derart großes Anwesen in Schuss zu halten.

      Während sie weitergingen und dabei so taten, als wären sie allein, wies Dairin sie auf Kästen aus klarem Kristall hin, in denen Schriftrollen mit Poesie und Leitsätzen lagen, die von diversen Feueravataren stammten. Kyoshi nickte, wie es sich gehörte, als er ihr in Nischen ausgestellte Juwelen und vergoldete Haarnadeln zeigte, die sie in früheren Leben getragen haben musste.

      Kein einziges Spielzeug, stellte sie fest. Dafür viele Jians, Daos, Dolche mit Gravuren. Die Relikte jeder Nation besaßen ihre eigene Persönlichkeit und Feuer und Luft hätten nicht unterschiedlicher sein können.

      Jinpa stellte Dairin allerlei Fragen und bat nach jeder Antwort wie ein eifriger Student um weitere Ausführungen. Die beiden gingen voraus und Kyoshi und Rangi fielen ein wenig hinter ihnen zurück. Jinpa zwinkerte Kyoshi über die Schulter verstohlen zu, um sie wissen zu lassen, dass er den beiden Bummlern absichtlich die Gelegenheit verschaffte, miteinander zu reden.

      Kyoshi musste ihm unbedingt eine Gehaltserhöhung geben. Sie zahlte ihm zwar gar nichts – der Mönch diente dem Avatar aus einem selbst auferlegten Pflichtgefühl heraus –, aber eine Gehaltserhöhung hatte er trotzdem verdient. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Kyoshi Rangi im Flüsterton. Das letzte Mal, als sie Hei-Ran gesehen hatte, hatte ihr Leben am seidenen Faden gehangen.

      »Gut genug, dass sie heute Abend mit dir sprechen will, auf deinem Empfang«, erwiderte Rangi ebenso leise.

      Als wäre dieser Besuch nicht ohnehin schon nervenaufreibend genug. Gleichzeitig war sie unendlich froh zu hören, dass Hei-Ran wieder gesund war. Das erklärte auch, wie ungezwungen Rangi sich verhielt, wie es ihr gelang, einfach dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten. »Und wer ist nun dieser Dairin?«, fragte Kyoshi. »Ich dachte, es gäbe in der Feuernation einen speziellen Minister, der für die Beziehungen zum Avatar zuständig ist.«

      »Eigentlich ist das auch so. Ich weiß nicht, warum nur Dairin geschickt wurde, um dich zu begrüßen. Vielleicht hat Lord Zoryu irgendwelche Probleme mit seiner Dienerschaft, aber ich trau mich nicht zu fragen. Dank meiner Verbindung zu dir hab ich hier ein paar Privilegien, aber in Wirklichkeit bin ich im Palast nur eine Oberleutnantin.«

      Kyoshi musste beinahe lachen. »Nur« eine Leutnantin, ein Rang, nach dem viele Erwachsene in der Feuernation vergeblich strebten. Rangis auf so beiläufige Weise überambitioniertes Wesen war eines der vielen kleinen Dinge, die Kyoshi an ihr vermisst hatte.

      »Erzähl mir von deinem Sekretär.« Rangi machte eine Kopfbewegung


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