Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi. F.C. Yee
einen Luftnomaden bekam Jinpa erstaunlich viel politischen Klatsch zu hören, aber gewöhnlich stimmten seine Beobachtungen. Lu – wie ein verfluchter Dorn im Auge. Als Jianzhus Unterstützer trug er in Kyoshis Augen ebenso viel Schuld an dem Fehler, wies aber nach wie vor alle Verantwortung von sich.
Sie hatte Lu Beifong persönlich gebeten, Yun zu finden, in der Erwartung, der alte Mann würde wenigstens einen Hauch großväterlicher Verbundenheit zeigen. Stattdessen hatte er nur kaltherzig auf den Brief hingewiesen, den er wie zahllose andere Weise im ganzen Erdkönigreich bekommen hatte. In diesem Brief stand, Kyoshi sei der Avatar – und dass Yun tot sei. Lu hatte sich zwischen den letzten Worten Jianzhus und Kyoshis wirrem Bericht vom Vorfall in Qinchao entscheiden müssen und hatte sich das ausgesucht, was am bequemsten für ihn war. Was ihn anging, hatte sich der Skandal erledigt. Ein Sieg des neutralen Jing.
Jinpa schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Es verlangt ja niemand, dass Ihr die Suche nach dem falschen Avatar aufgebt, aber vielleicht …«
»Nenn ihn nicht so!«
Ihre Rüge hallte im Zimmer wider. Sie musste nur daran denken, wie leicht alle Yun aufgegeben hatten, erst Jianzhu, dann Lu und der Rest des Erdkönigreichs, und sofort stieg frischer Zorn in ihr hoch. Jinpa wich ihrem Blick aus und senkte den Kopf. Während sie betreten schwiegen, wippte er nervös mit dem Fuß. Sie brauchte keine Bändigerfähigkeiten, um das Beben im Boden zu spüren.
»Ich werde jedem wichtigen Passkontrollpunkt Meister Yuns Beschreibung zukommen lassen«, sagte er schließlich. »Deren Arbeit besteht darin, Namen und Gesichter abzugleichen. Die gucken genauer hin als der durchschnittliche Beobachter.«
Das war eine gute Idee. Besser als alle, die ihr bisher gekommen waren. Nun tat es ihr doppelt leid, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Sie musste sich für ihren Ausbruch entschuldigen, musste aufhören, solche Ausbrüche zu haben, wenn sich die Distanz zwischen Jinpa und ihr jemals verringern sollte.
Sie fürchtete sich jedoch vor dem, was Freundschaft mit sich brachte. All ihre bisherigen Wegbegleiter hatte sie in Gefahr gebracht. Und sie konnte ihre Erinnerungen an einen gewissen Luftnomaden nicht abschütteln, an seine Witze, seine Wärme, sein Lächeln.
»Kümmere dich darum«, sagte Kyoshi knapp.
Jinpa nickte. Dann zögerte er, als müsste er sich überlegen, wie er seine nächsten Worte am besten formulieren sollte. »Ich habe nicht alle Briefe von heute geöffnet. Einen hat ein Sonderkurier gebracht.«
»Die Hälfte aller Briefe werden von irgendwelchen ›Sonderkurieren‹ gebracht«, erwiderte Kyoshi verächtlich. Solche Schreiben kamen immer schrecklich pompös daher, auf die Umschläge war in greller grüner Tinte Dringend oder Ausschließlich für den Avatar bestimmt gestempelt. Es waren die üblichen Tricks, mit denen die Erdweisen um ihre Aufmerksamkeit buhlten.
»Dieser ist aber wirklich etwas Besonderes.« Jinpa griff in seine Robe und zog eine Postrolle hervor, die er dort verstaut hatte.
Sie war rot.
Auf dem Verschluss der stabilen Metallröhre prangten goldene Flammen. Inmitten der farblosen, aber fürs Erdkönigreich typischen Einrichtung ihres Apartments wirkte die Rolle wie ein glühendes Kohlenstück in einem ausgetrockneten Wald. Eine Armee von Wachssiegeln hielt die Nähte zusammen.
Jinpa überreichte ihr die Rolle mit beiden Händen, als handele es sich um ein wertvolles Relikt. »Ich glaube, sie kommt von Feuerlord Zoryu persönlich.«
Es war das erste Mal, dass ein Staatsoberhaupt sie direkt anschrieb. Kyoshi war dem Feuerlord noch nie begegnet und er hatte ihr bisher auch noch keine Nachrichten geschrieben. Ihr bisher einziger Kontakt mit der Regierung der Feuernation hatte stattgefunden, als die Neuigkeit ihrer Avatarschaft die Runde gemacht hatte: Damals war ein Abgesandter nach Yokoya geschickt worden. Der gut gekleidete Minister hatte zugesehen, wie sie nacheinander ein Quäntchen jedes der vier Elemente heraufbeschworen hatte, und er hatte jedes Mal genickt und einen Vermerk in seine Notizen gekritzelt. Er hatte Kyoshi seine Ehre erwiesen, war höflich zum Abendessen geblieben und am nächsten Morgen gen Heimat aufgebrochen, um seinen Bericht abzuliefern. Sie hatte es sehr zu schätzen gewusst, wie wenig Kummer er ihr im Gegensatz zu ihren eigenen Landsleuten bereitet hatte.
Die Siegel zu brechen und die Hülle zu öffnen kam ihr vor, als würde sie ein historisches Artefakt beschädigen. Sie gab acht, dass die ursprüngliche Form des Wachses weitestgehend erhalten blieb, dann entrollte sie das Papier in der Hülle.
Das Schreiben kam direkt zum Punkt, entbehrte jeglicher Schnörkel, die Erdkönigreichsbeamte für nötig erachteten, um sich bei ihr einzuschmeicheln: Lord Zoryu brauche die Unterstützung des Avatars in einer national bedeutsamen Angelegenheit. Wenn sie als sein Ehrengast in den Königspalast kommen und am Szeto-Fest teilnehmen würde, einem wichtigen Feiertag der Feuerinseln, dann könne er ihr alles Weitere persönlich erklären.
»Und was steht drin?«, fragte Jinpa.
»Es ist eine Einladung, die Feuernation zu besuchen.« Ein Debüt auf der Weltbühne. Sie schluckte die Nervosität herunter, die ihr plötzlich die Kehle zuschnürte.
Jinpa sah, dass sie zögerte, und legte flehentlich die Hände zusammen. »Genau hiervon spreche ich, Avatar. Die Vier Nationen werden es nicht zulassen, dass Ihr für immer das Licht der Öffentlichkeit scheut. Bitte sagt nicht, dass Ihr ausgerechnet den Feuerlord brüskieren wollt.«
Kyoshi grübelte. Sie bezweifelte, dass der Herrscher der Feuernation leichtfertig um ihre Hilfe bitten und ihre Zeit verschwenden würde. Und die Scherereien mit ihrem eigenen Volk sorgten dafür, dass sie nervlich ziemlich am Ende war. Ein Tapetenwechsel wäre vielleicht genau das Richtige.
»Und es ist ein Festtag«, fügte Jinpa hinzu. »Ihr könntet sogar Spaß haben. Ihr dürft nämlich gelegentlich Spaß haben!«
Man konnte sich darauf verlassen, dass ein Luftnomade auf Spaß als letztes Argument zurückgreifen würde. »Du kannst dem Feuerlord schreiben, dass ich mich geehrt fühle und die Einladung gern annehme«, sagte sie. »Morgen fangen wir mit der Reiseplanung an. Für heute hab ich genug von Geschäftsdingen, glaub ich.«
Jinpa verbeugte sich feierlich und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie froh er war, dass sich der Avatar endlich seiner Verantwortung stellte. »Niemand hat Ruhe nötiger als der Avatar.« Er verließ das Zimmer und ging zu dem Büro, das sie am Ende des Flurs eingerichtet hatten.
Wieder allein, betrachtete Kyoshi schweigend das cremefarbene Papier. Den Teil des Briefs, der für sie den Ausschlag gegeben hatte, die Einladung anzunehmen, hatte sie Jinpa verschwiegen.
Es war eine besondere Neuigkeit, ganz am Ende der Botschaft des Feuerlords. Die frühere Schulleiterin der Königlichen Akademie war endlich heimgekehrt, nach langer Genesung in Agna Qel’a, der Hauptstadt des Nördlichen Wasserstamms –, und zwar in Begleitung ihrer Tochter. Vielleicht würde der Avatar die beiden ja gern treffen, da sie miteinander in Yokoya Umgang gepflegt hatten? Die beiden würden sie jedenfalls gern wiedersehen.
Umgang gepflegt. Kyoshi hatte nicht gewusst, dass man so erleichtert und zugleich so verzweifelt sein konnte. Sie war noch nicht einmal in der Feuernation und sah schon vor sich, wer dort auf sie warten würde, jenes wilde Feuer schierer Hitze und Streitlust. In der Finsternis ihrer Erschöpfung sah sie von fern her ein Licht, das nach ihr rief.
Rangi.
Sorgfältig faltete Kyoshi den Brief zusammen und steckte ihn in ihre Robe, dorthin, wo ihr Herz vor Aufregung pochte. So sehr sich ihr Sekretär auch wünschen mochte, dass sie Ruhe bekam: Heute Nacht würde sie kaum ein Auge zutun.
VERGANGENE LEBEN
JINPAS