Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi. F.C. Yee
sich völlig anders als andere Luftnomaden. Ich werde noch nicht so recht schlau aus ihm. Aber er hat mir bisher gut …«
»Und nun gelangen wir zur Königlichen Porträtgalerie«, sagte Dairin laut und blieb abrupt stehen.
Kyoshi wäre um ein Haar mit ihm und Jinpa zusammengestoßen. Rangi konnte sie gerade noch an der Rückseite ihrer Tunika festhalten. Sie stellte sich vor, wie sich diese Neuigkeit in der Feuernation verbreitet hätte: Der Avatar hat seine gesamte Entourage beim Palastrundgang umgekegelt.
Der Kanzler hatte jedoch nicht bemerkt, dass er beinahe niedergetrampelt worden wäre. Voller Stolz blickte er an den Wänden empor. »Ich könnte Tage hier verbringen und würde es nicht müde«, seufzte er schwärmerisch.
Die Galerie hatte seine Verehrung durchaus verdient: Sie gehörte zu den beeindruckendsten von Menschenhand errichteten Werken, die sie bisher gesehen hatte. Gemälde der Feuerlords zierten die eine Seite, sie reichten vom Boden bis zur Decke und waren dreimal so groß wie ihre lebendigen Vorbilder. In rot-schwarzer Gewandung und von goldenem Glorienschein umgeben blickten die Herrscher der Feuernation wie ein Geschlecht von Riesen auf ihr Publikum herab.
Obwohl es ihr erster Besuch hier war, erkannte Kyoshi sofort, dass jedes Porträt Jahre an Arbeit gekostet haben musste, vielleicht sogar das Werk einer ganzen Künstlerlaufbahn war. Das Porträt des verstorbenen Feuerlords Chaeryu, das jüngste Werk der Galerie, war noch nicht vollendet. Vorzeichnungen im Hintergrund des Bildes, in der Nähe der Füße, warteten darauf, mit Goldeinlegearbeiten und Orangetönen gefüllt zu werden.
Rangi stupste sie an und zeigte zur anderen Seite der Galerie. Den Feuerlords gegenüber standen die Feueravatare, in entsprechender Größe und Pracht gemalt und ebenso atemberaubend in ihrer künstlerischen Herrlichkeit. Zwischen diesen Porträts gab es mehr Platz. Es kam grob ein Avatar auf vier Feuerlords und die Lücken waren nicht ganz ebenmäßig, was Kyoshi darauf schließen ließ, dass die Bildnisse ihrer Vorläufer eine Chronik abbildeten, die sich durch die Halle erstreckte.
Vor Avatar Szeto blieb die Besuchergruppe stehen. Auf dem Porträt trug er sein Markenzeichen: seinen hohen Ministerhut. Im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren, Feuerlords wie Avataren, ließ er keinen Feuerball über seiner Handfläche schweben, sondern hielt einen Abakus empor, der ebenso liebevoll ausgearbeitet war wie all die abgebildeten Flammen oder Waffen, die seine Landsleute führten. Das Rechenwerkzeug war mit echten Perlen versehen und das Rechenergebnis zeigte eine Zahl, die Glück verheißen sollte.
In der anderen Hand hielt er einen Stempel: Der Künstler hatte sich die Freiheit genommen, ihn riesengroß zu machen. Es war unwahrscheinlich, dass der echte Stempel derart gigantisch oder aus solidem Zinnober gewesen war, wie es das Bild zeigte: Szeto hätte jedes Schriftstück, das er bewilligen wollte, von oben bis unten zugestempelt.
»Und hier haben wir den Namensgeber unseres Festes«, erklärte Dairin. »Diesem Mann verdankt die Feuernation unendlich viel.«
»Könnt Ihr mir mehr von Avatar Szeto erzählen?«, fragte Kyoshi. »Ich fürchte, ich weiß nicht so viel über ihn, wie ich sollte.«
Der Kanzler räusperte sich und setzte zu einem langen Vortrag an.
»Während Szetos Kindheit stand die Feuernation am Rande des Abgrunds: Sie wurde von Seuchen und Naturkatastrophen geplagt«, begann er. »Der Zorn der Geister war fürchterlich und Feuerlord Yosor war kaum in der Lage, der Spaltung des Landes entlang der alten Bruchlinien der Klans Einhalt zu gebieten.«
»Der Klans?«, fragte Kyoshi.
Dairin seufzte, als er begriff, dass er nun auch noch eine Förderstunde in Geschichte geben müssen würde. »Jedes Adelsgeschlecht der Feuernation stammt von einem der alten Kriegsherren ab, aus der Zeit, bevor das Land geeint war. Aus dieser Zeit besitzen die Geschlechter nach wie vor gewisse Rechte, etwa die Regierungsgewalt über ihre Heimatinseln und das Recht, Haustruppen zu unterhalten. Während Lord Yosors Regentschaft sandten die Klans ihre Krieger gegeneinander aus: Mit ihrem vergeblichen Ringen um Macht und Ressourcen verheerten sie das Land. Viele Historiker, ich selbst eingeschlossen, sind der Ansicht, dass die Feuerinseln ohne Szetos Intervention zersplittert und in ihrer Entwicklung weit zurückgeworfen worden wären – in die finstere Zeit von Toz dem Grausamen und der anderen Warlords der Voreinheitszeit, die so viel Leid über unser Volk gebracht haben.«
Kyoshi war überrascht, wie sehr diese Geschichte dem Aufstand der Gelbnacken ähnelte. Als jemand, der unter gewöhnlichen Leuten aufgewachsen war, hatte sie immer nur gehört, die Feuernation sei ein Vorbild für Harmonie und Effektivität, ein Kontrapunkt zum Gezanke in den politischen Kreisen des Erdkönigreichs. Allzu weit lag die Ära Szetos nicht zurück.
Für diesen Teil der Tour musste sie kein Interesse heucheln oder auf Jinpa bauen. »Was hat er getan, um die Ordnung wiederherzustellen?«, fragte sie.
»Er hat sich für eine Anstellung beworben«, sagte Dairin. »Er war der Avatar, daher wäre für all seine materiellen Bedürfnisse gesorgt gewesen und all seine Erlasse wären beherzigt worden; dennoch nahm Szeto einen Regierungsposten als Minister des Königshofs an und unterstand damit prinzipiell denselben Regeln und Vorschriften wie jeder andere Bürokrat. Er nahm seine Regierungsarbeit auf und saß an einem Schreibtisch. Überdies bestand er darauf, dass er allein aufgrund seiner Leistung befördert würde und seine Karriere nicht auf Kosten der Dienstälteren vorangetrieben wurde, nur weil er der Avatar war.«
»Und das hat geholfen?«, fragte Kyoshi ungläubig.
»Es hat sich als brillante Strategie erwiesen«, sagte Rangi. »Statt überall in der Nation von einer Notlage zur nächsten zu hetzen, konzentrierte er seine Anstrengungen auf einen einzigen zentralen Ort, von dem aus er seinen Einfluss allmählich ausweitete. Szeto war ein extrem fähiger Bürokrat, Buchhalter und Diplomat. Und da er für die königliche Familie arbeitete, gab es keinerlei Trennung zwischen der legalen und der spirituellen Autorität im Land. Seine Siege waren zugleich die Siege des Feuerlords.«
Dairin nickte, zufrieden, dass die Jugend von heute angemessen über die Vergangenheit der Nation unterrichtet wurde. »Sobald er zum Großen Ratgeber befördert worden war, sah sich Avatar Szeto in der Lage, die offenen Feindseligkeiten zwischen den rivalisierenden Adelshäusern zu beenden. Ein andauernder Frieden folgte, während er weiterhin mit Würde und Exzellenz dem Land diente.«
»Er hat der Wertminderung des Münzgeldes ein Ende gesetzt«, sagte Rangi. »Das hat die Wirtschaft im letzten Moment vor dem Zusammenbruch bewahrt.«
»Eine der Schriftrollen, an denen wir auf dem Weg hierher vorbeigekommen sind«, fügte Jinpa hinzu, »besagt, dass die ersten offiziellen Programme, die er aufgesetzt hat, dazu bestimmt waren, die Bauern in Zeiten der Hungersnot zu entlasten.«
»Und was am wichtigsten war: Er hat über alles ordentlich Protokoll geführt«, sagte Dairin. Wie aus einer Gewohnheit heraus wischte er sich mit dem Finger den Augenwinkel, als hätte es ihn in der Vergangenheit schon zu Tränen gerührt, über Szeto nachzusinnen, und er wollte nun auf Nummer sicher gehen. »Wahrlich, Avatar Szeto ist zu einem Ideal geworden, dem wir Beamten seither nacheifern, und er ist im Allgemeinen ein strahlendes Beispiel für die Werte der Feuernation: Effizienz, Präzision, Loyalität.«
Kyoshi blickte mit frischer Bewunderung zu dem mürrischen Mann mit dem langen Gesicht auf, zu dessen Ehren sie hier ein Fest feiern würden. Dieser Szeto, beziehungsweise diese Version ihrer selbst, gefiel ihr. Eine starke Arbeitsmoral und ein Händchen fürs Organisatorische waren Eigenschaften, für die sie Respekt empfand. Vielleicht hätte sie lieber versuchen sollen, mit ihm zu kommunizieren, statt sich so sehr auf Yangchen zu versteifen.
Dairin erlaubte ihnen gnädigerweise, sich alle Kunstwerke anzuschauen, die sie interessierten. Kyoshi kehrte noch einmal zum Porträt Lord Chaeryus zurück. Mehr über ihn zu wissen konnte ihr nur helfen, sich bei seinem Sohn, dem gegenwärtigen Feuerlord Zoryu, beliebt zu machen.
Sie versuchte, etwas von der Symbolik zu interpretieren. Chaeryus Thema schien die Pflanzenwelt zu sein. Sie sah gebündelte Reishalme, eine reiche Ernte. Es gab einen skizzierten Umriss, der noch ausgemalt werden musste, ein detailliertes