Liebe, wie geht's?. Sabine Bösel

Liebe, wie geht's? - Sabine Bösel


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zu sein war daher für dich eine wichtige Überlebensstrategie. Heute, als erwachsener Mensch, brauchst du diese Strategie jedoch nicht mehr.“ So könnte eine gute Kommunikation lauten, die es möglich macht, in die Lebenskraft zu kommen und sichtbar zu werden.

      Unsere Partner und Partnerinnen brauchen nicht nur die Wertschätzung dafür, dass ihre Komfortzone eine wichtige Überlebensstrategie aus der Kindheit war. Sie brauchen auch das Verständnis, dass das Verlassen dieser Komfortzone mit viel Angst, Scheu und Scham verbunden ist. Da nützt es gar nichts zu sagen: „Ach, stell dich nicht so an.“ Es ist so, als würde jemand noch mit Krücken gehen, obwohl seine Fußverletzung schon seit Jahren geheilt ist. Da bringt es auch nichts, wenn man ihm von heute auf morgen die Krücken wegnimmt – die Muskeln wären so verkümmert, dass dieser Mensch trotz geheiltem Fuß nicht gehen könnte, und er würde umfallen. Da braucht es eine langsame Annäherung: zunächst mit nur einer Krücke üben und fleißig Kräftigungsübungen machen, und erst dann kann man den ersten Versuch wagen, ohne Krücken zu gehen.

      Eines jedenfalls ist gewiss: Niemand hat große Lust darauf, das ganze Leben lang mit Krücken zu gehen. Es ist nur die Angst, die uns im Vertrauten hängen bleiben lässt. In Wahrheit sind wir wohl eher ambivalent: Wir wollen in der Komfortzone bleiben und wir wollen in die Lebensfreude kommen. Also zupfen Sie sich ruhig gegenseitig immer wieder! Idealerweise nicht erst, wenn das Fass schon am Überlaufen ist, und auf jeden Fall in Liebe und Wertschätzung.

      Um Sie zu motivieren, aus Ihrer Komfortzone zu steigen: Frustrationen sind ein Geschenk – und nicht nur das, sie sind sogar gleich ein doppeltes Geschenk! Falls Sie uns jetzt für verrückt erklären: Wir beweisen es Ihnen anhand eines Beispiels aus unserem eigenen Leben.

      Eines unserer Streitthemen früher war, dass Roland sich mit seinen Ängsten vor Krankheiten und dem Tod von Sabine nicht ernst genommen fühlte. Wenn er ihr seine Sorgen erzählte, schob sie diese schnell vom Tisch: „Ach, was du schon wieder hast. Da ist doch nichts!“ Dieses Verhalten frustrierte ihn sehr. In einer der damals zahlreichen Therapiesitzungen, die sie besuchten, erzählte er ihr dann von seiner Oma, die ihr Zimmer neben ihm hatte und ständig davon redete, dass sie sterben wolle, wie wir das in Impuls Nr. 9 schon erzählt haben.

      Dieses Bewusstwerden über den Zusammenhang mit dieser alten Geschichte, das Aufarbeiten, das Heilen dieser alten Wunde und der damit entstehende Gewinn von Lebensfreude war das erste Geschenk für Roland. Und das zweite Geschenk kam gleich dazu: Indem Sabine diesen tiefen Schmerz verstehen konnte, konnte sie auch ihr Verhalten ihm gegenüber verändern und sich mutig als Frau zeigen.

      So ist das mit dem Frust: Er entsteht, weil der größte Schmerz der einen Person mit der größten Not der anderen zusammenkommt. An diesem Punkt kann der eine seine alten Wunden heilen und die andere wachsen und sich entwickeln. Sie sehen: Beide profitieren! Eigentlich könnten Sie ab nun bei jedem Frust die Arme hochreißen und rufen: „Hurra, wir haben ein Problem!“ Denn dann sind Sie im Grunde genommen mitten drin in dem, was wir in unserer Einleitung geschrieben haben: Beziehungen sind wie ein Labor, in dem es darum geht, dass zwei Menschen sich zu reifen Individuen entwickeln.

       11. Ein Hungerkünstler kommt selten allein

      Wenn zwei sich finden, schaut Amor auf die Seelenverwandtschaft. Und er schaut auch darauf, dass Gegensätze aufeinandertreffen.

       Er: Sag, warst du schon einkaufen? Der Kühlschrank ist fast leer! Sie: Ich war doch gestern einkaufen. (Sie schaut erstaunt in den Kühlschrank.) Aber es ist doch alles da, Milch, sechs Eier … Da wirst du doch wohl nicht verhungern!

      Er (ungehalten): Bitte schau genau. In der Milchpackung ist gerade einmal ein Tropfen drin.

      Sie: Okay, davon hätte ich schon mehr kaufen können, da hast du Recht.

       Er (alarmiert): Und überhaupt. Wir wollten doch ein großes Frühstück machen und einen Kuchen backen. Du kaufst immer viel zu wenig ein! Was soll das?

      Sie: Ach du, du übertreibst immer. Es ist immer genug da, und trotzdem ist es dir nie genug. Du wirst schon sehen, das passt schon.

      Er: Nein, also wirklich. Mir reicht’s! Ich gehe jetzt zum Markt einkaufen.

      So ist es oft: Wo der eine gähnende Leere im Kühlschrank sieht, erkennt die andere die Fülle. Wo der eine aufgebracht seine Wünsche einfordert, beschwichtigt die andere und gibt klein bei. Und so kennen Sie es vermutlich auch: Es gibt Themen, da sind Sie und Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin eindeutig uneins.

      Wenn wir von Liebe sprechen, denken wir gerne an Seelenverwandtschaft – wie wir das im Impuls Nr. 8 mit dem Zebraeffekt dargelegt haben. Gleichzeitig sagt man: Gegensätze ziehen sich an. Auch das ist richtig, und es schließt das eine das andere gar nicht aus. Wenn wir es näher betrachten, erkennen wir, dass beides sogar eng miteinander verbunden ist: Es sind die gemeinsamen Themen und oft auch ähnlichen Gefühlszustände in der Kindheit, die uns den passenden Strichcode erkennen lassen. Doch sind wir in unserer Kindheit mit diesen Themen und Gefühlen unterschiedlich umgegangen, sodass sich daraus Gegensätzlichkeiten entwickeln. Ein Beispiel aus unserer eigenen Geschichte:

      Wir haben beide das typische Schicksal der 50er-Jahre-Kinder erlebt, die Eltern waren mit dem Wiederaufbau beschäftigt und haben versucht, manches nachzuholen und zu kompensieren. Da war für uns als Kinder nicht viel Platz, was emotionale Zuwendung und Sichtbarkeit anlangte. Unsere Eltern haben uns natürlich geliebt, wie das fast alle auf dieser Welt damals wie heute tun, und sie haben alles ihnen Mögliche getan, damit es uns finanziell und physisch gutgeht. Doch wir wurden nicht ausreichend gesehen, unsere seelischen Bedürfnisse wurden nur wenig wahrgenommen. Das ist, was unsere – Rolands und Sabines – Seelenverwandtschaft unter anderem ausmacht.

      Unsere Gegensätze entwickelten sich daraus, wie wir mit diesem Nicht-Gesehen-Werden umgegangen sind, welche kindlichen Schutzmechanismen wir entwickelt haben. Sabines Schutzmechanismus war der, dass sie sich zurückgezogen hat – so quasi nach der Logik: Wenn ich wenig Energie aufwende, brauche ich auch nicht viel. Außerdem beschloss sie unbewusst: Ich bleibe bescheiden und brav, vielleicht werde ich dann doch belohnt und bekomme ein Stück emotionaler Zuwendung. Ruhig bleiben und sich zurückziehen, das war Sabines Art, mit ihrer Welt damals zurechtzukommen.

      Roland hielt es eher wie Pippi Langstrumpf, nach dem Motto: Wenn es etwas Gutes gibt, muss man sich ranhalten, sonst kommt man zu kurz. Natürlich war auch sein Beschluss unbewusst. Er war als Kind schon sehr aktiv. Ein Beispiel: Weil seine Eltern so wenig Zeit für ihn hatten und es eigentlich nur sonntags ein gemeinsames Frühstück gab, war er es, der meist schon am Vorabend den Tisch deckte. So sorgte er dafür, dass er bekam, was er sonst so vermisste: Nähe und Anerkennung. Sonst wäre er ja emotional verhungert!

      Genauso können aus derselben emotionalen Kargheit andere Menschen ganz andere Schutzmuster entwickelt haben: Der eine stopft zu viel Essen in sich hinein, die andere isst nur heimlich, der Dritte plündert regelmäßig die Naschlade der Oma und die Vierte hortet kein Essen, dafür aber jede Menge Puppen in ihrem Zimmer. Ja, wir sind als Kinder sehr kreativ, wenn es darum geht, mit unserer Welt umzugehen, wenn wir sonst keine Mittel haben, uns zu wehren oder sie uns zu erklären.

      In einer Paarbeziehung treffen meistens ein Hagelsturm und eine Schildkröte zusammen, wobei aus unserer Beobachtung heraus mehrheitlich die Frauen der Hagelsturm und die Männer die Schildkröte sind. Haben Sie eine Idee, wer in Ihrer Beziehung welche Rolle hat? Wenn Sie gerade in keiner Beziehung leben: Wie war es in Ihrer letzten Beziehung?


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