Liebe, wie geht's?. Sabine Bösel
zu steigen, oder nimmt sich sein eigenes Besteck ins Restaurant mit, und alles nur, weil ihm das ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.
Genauso ist es eine Krücke, wenn Sie sich in zu viel Arbeit flüchten, um sich selbst, eine innere Traurigkeit oder einen Frust nicht allzu sehr spüren zu müssen. Oder wenn Sie sich unsichtbar machen aus Angst, etwas falsch zu machen und wie in Ihrer Kindheit geohrfeigt zu werden. Dieses letzte Beispiel zeigt auch ganz wunderbar, wie sehr eine Krücke in der Kindheit notwendig ist – und wie wenig passend sie im Erwachsenenleben ist: Ein Kind, das beobachtet, dass der Bruder immer wieder geschlagen wird, kann verschiedene Strategien entwickeln. Eine davon ist, dass es lernt, sich zu ducken und unsichtbar zu werden, um nur ja nicht auch die strenge Hand der Mutter zu spüren. Das ist eine sehr vernünftige Überlebensstrategie, nicht? Als Erwachsene zeigt sich diese Überlebensstrategie dann zum Beispiel darin, dass sie weiterhin unsichtbar bleibt: Sie kleidet sich unscheinbar, meidet es, Vorträge zu halten, und lehnt Einladungen zu TV-Talkshows ab, obwohl sie als Expertin viel zu sagen hätte.
Doch im Erwachsenenalter gibt es keine schlagende Hand, vor der man sich zu schützen hat. Trotzdem behält man seine Krücke und stützt sich auf sie, weil man sie verinnerlicht hat und gar nicht auf die Idee kommt, dass man auch anders leben kann. Wenn Sie zu jenen Menschen gehören, die sich aus welchen früheren Gründen auch immer zur Unsichtbarkeit entschieden haben, überlegen Sie: Was würde denn heute passieren, wenn Sie laut und klar Ihre Meinung sagen? Wenn Sie auf einer Bühne vor Publikum sprechen? Wenn Sie Ihren Wunsch durchsetzen und nicht wieder klein beigeben? Wäre dann Ihr Überleben bedroht? Höchstwahrscheinlich nicht.
Viel besser wäre es, Sie würden sich vornehmen, Ihr Verhalten zu verändern. Denn mit jedem Akt des Unsichtbarmachens unterdrücken Sie Ihr Potenzial und nützen es nicht. Das ist doch schade!
Wir Menschen werden geboren als Individuen, die sich entfalten wollen und wachsen, die ihre Lebendigkeit dadurch spüren wollen, indem sie alle Register ziehen, die sie zur Verfügung haben.
Diese Krücken stehen – psychologisch betrachtet – für das sogenannte „verlorene Selbst“. Wir sind mit einem Potenzial geboren, doch die Umstände in unserer Kindheit haben dazu geführt, dass wir manches davon verlieren. Und hier kehren wir zur Eingangsfrage zurück: Wie konnte ich mich nur in den verlieben? Genau darum: Weil Ihr Partner, Ihre Partnerin die perfekte Person ist, um Ihr verlorenes Selbst wiederzufinden und es in Ihr Leben zu reintegrieren.
Wir haben im Impuls Nr. 8 über die Seelenverwandtschaft geschrieben, die dafür verantwortlich ist, dass wir uns ineinander verlieben. Gleichzeitig erleben wir es oft, wie gegensätzlich wir sind: Sie ist ein Fels in der Brandung, der sich durch nichts erschüttern lässt – und er ist der quirlige Hans Dampf in allen Gassen. Das ist kein Widerspruch: Diesem konträren Verhalten liegt ein gemeinsames Thema zugrunde, das könnte durchaus ein ähnliches sein wie wir das beispielsweise bei den beiden Damen an der Kasse in Impuls Nr. 2 gezeigt haben. Und genau diese Gegensätze kommen uns beim verlorenen Selbst zu Hilfe.
Die Frau, die ihren Mann beim Verlieben durch ihre Ruhe und Besonnenheit so begeistert hat, hat vielleicht früh gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Wenn es Zoff im Büro gibt, will sie gar nicht weiter drüber reden. Das ist ihr verlorenes Selbst. Das verlorene Selbst des Mannes ist in diesem Beispiel diametral: Er wurde so geprägt, dass Gefühle gut sind und man sie zeigen muss. Was ihm fehlt, ist die Fähigkeit innezuhalten, nachzudenken und einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie erkennen bestimmt, wie schön sich die beiden ergänzen.
Solche Gegensätze führen jedoch zuerst einmal gerne in einen Konflikt: Sie ist eine Langweilerin und er eine Nervensäge, denn sie steigt nicht auf seinen Wunsch nach Abenteuer und Aktivität ein und er nicht auf ihr Bedürfnis nach Ruhe. Der Sinn einer Partnerschaft ist, dass beide die Chance nutzen und ihr verlorenes Selbst mithilfe des oder der anderen wiedererlangen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Wenn Sie sich am Bein verletzt haben und zwei Monate lang mit Krücken durch die Gegend humpeln mussten, werden Sie umfallen, wenn Sie von einem Tag auf den anderen die Krücken weglegen. Da ist es besser, Sie legen vorerst einmal nur eine weg. Doch wenn Sie sich Zeit lassen und langsam einen Schritt nach dem anderen tun, dann entwickeln Sie sich zu einem perfekten Team!
10. Wenn der Partner unangenehm zupft
Warum Frustrationen ein doppeltes Geschenk sind und über den Sinn, daher auch Unangenehmes anzusprechen.
Sie: Kommt gar nicht in Frage, das mache ich nicht!
Er: Aber warum denn nicht? Es ist doch keine große Sache, sich auf die Bühne zu stellen und diesen Vortrag zu halten.
Sie: Ich sterbe tausend Tode, bevor ich mich auf diese Bühne traue. Nie und nimmer mache ich das! Die vielen Leute im Publikum, die würden mich zerpflücken und in der Luft zerreißen.
Er (ungehalten): So ein Blödsinn. Du bist doch Expertin auf deinem Gebiet.
Sie: Und erst recht all die Neider, die mein Vortrag auf den Plan rufen wird. Das brauche ich wirklich nicht.
Er (mittlerweile richtig wütend): Das ist doch ausgemachter Unsinn! Du glaubst, wenn du dich versteckst, wird dein Leben einfacher? Ganz im Gegenteil!
Sie: Schluss jetzt. Ich will nicht mehr drüber reden.
Der bereits im Impuls Nr. 9 erwähnte Kinoheld Melvin Udall kann im Film „Besser geht’s nicht“ nicht einmal von seinem Psychiater von seinen Zwangsneurosen geheilt werden. Sehr wohl aber von Carol Connelly, gespielt von der genialen Helen Hunt. Nur sie schafft es, ihn in seine Schranken zu weisen. Warum? Weil er sich in sie verliebt und sie wohl die einzige Person in seinem Leben ist, die er ernst nimmt. Weil sie beide Seelenverwandte sind. Sie droht ihm mit Lokalverbot, wenn er sich nicht besser benimmt, und mehrmals macht sie ihm klar, dass es ihr reicht, so unmöglich, wie er sich verhält. Damit „zwingt“ sie ihn, sein Verhalten zu verändern, denn sonst würde er seine Seelenverwandte verlieren. Sie zupft ihn ganz gewaltig an seinen Marotten und Neurosen, und am Ende wird er tatsächlich zu einem erträglichen Menschen. Auch umgekehrt erfährt sie selbst durch diese Beziehung Heilung. Sie ist eine, die sich nicht helfen lassen will und alles alleine stemmen muss, was sie über ihre Grenzen der Belastbarkeit bringt mit ihrem kranken Sohn. Er zeigt sich trotz aller Schrulligkeit als großzügiger Helfer und unterstützt sie, damit ihr Sohn die richtige Behandlung bekommen kann. Und so lernt sie, dass man sich anderen anvertrauen und Hilfe annehmen kann.
In unser aller Leben ist es nicht immer so drastisch wie in diesem Film. Zu Beginn einer Beziehung, wenn wir verliebt sind, sehen wir die meisten Seltsamkeiten ohnehin nicht, oder wenn, dann sind wir voll der Liebe: Ach, sie traut sich nicht, einen Vortrag zu halten – wie bescheiden, wie rührend, wie süß! Das Überlebensmuster der Angebeteten wird schöngeredet. Vielleicht sind wir sogar ein bisschen froh über diese zurückhaltende Art, weil auch wir die Erfahrung gemacht haben, dass zu viel der überschießenden Lebenskraft ganz schön bedrohlich sein kann. Doch spätestens, wenn der Alltag unsere Beziehung bestimmt, kann diese Bescheidenheit unerträglich werden, weil wir erkennen: Sie steht auf der Bremse und stellt sich nicht ihren Herausforderungen.
Als Paartherapeuten orten wir hier jedoch ein Problem: Wir konfrontieren unsere Partnerin mit ihrem Überlebensmuster erst, wenn es uns wirklich schon reicht. Wir haben also quasi den Überlaufschwimmer, der den Wasserfluss rechtzeitig stoppt, viel zu hoch montiert. Und dann, wenn uns ihr Verhalten ohnehin schon viel zu lange gestört hat, bricht es aus uns heraus und wir reagieren verärgert und wütend. Und wie reagiert die Partnerin dann? Ganz klar: mit Abwehr. Es kann sogar nur noch schlimmer werden, weil sie dann ihre Überlebensmuster noch mehr verteidigen muss. Wer sich nicht wertgeschätzt fühlt, muss sich zur Wehr setzen, so ist das nun einmal.
Max Frisch brachte es auf den Punkt, wie man als Überbringer einer Botschaft so ankommt, dass sich etwas verändern kann: „Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann – nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“ Wertschätzung ist immer ein passender Mantel. „Ich weiß, dass du dich gern mit deinem Wissen versteckst. Als Kind hast du es gelernt, dass es eine