Liebe, wie geht's?. Sabine Bösel
sind wir da als Partnerin bzw. Partner auch sehr kompetent!
So unangenehm das auch ist, so ist dies der Weg, den wir brauchen, wenn wir etwas weiterentwickeln wollen. Im Englischen heißt es: „You cannot heal, what you do not feel.” Unsere Partnerin, unser Partner konfrontiert uns mit unseren schmerzlichsten Themen, die wir ja meistens unbewusst in uns tragen. Indem uns unser Partner frustriert und einen Konflikt provoziert, spüren wir diesen Schmerz wieder, und nur so kann er auch geheilt werden.
Das macht Beziehungen so herausfordernd. „So hat mich noch nie jemand frustriert“, sagen wir dann und denken über Trennung nach. Dabei haben wir uns diesen Menschen doch selbst ausgesucht, und zwar aus gutem Grund: der Strichcode, die Seelenverwandtschaft, die der Nährboden dafür ist, damit wir alte Wunden heilen und uns in unserer Persönlichkeit weiterentwickeln können. Denn das ist die Kunst der Liebe: es zu schaffen, sich nicht nur in der Verliebtheit mit allen Ressourcen zu unterstützen, sondern ein Leben lang.
Seelenverwandtschaften sind nicht immer leicht erkennbar. In der Szene zu Beginn dieses Impulses haben wir einen Dialog von uns selbst abgebildet: Sabine reagiert ganz offensichtlich gereizt darauf, dass Roland wissen möchte, wann sie heimkommt. Sie fühlt sich dadurch eingesperrt, überwacht. Mit jedem „Wann kommst du wieder?“ drückt er bei ihr einen roten Knopf, der direkt in eine alte Erfahrung von ihr führt: Ihre Mutter hat sie überbehütet. Verständlich, wenn man die Geschichte kennt, denn zwei Jahre, bevor sie geboren wurde, starb ihre Schwester durch einen tragischen Unfall. Aus Angst, der jüngeren Tochter könnte auch etwas passieren, wurde sie quasi eingesperrt. Und noch etwas schwang mit, das ihr Vater einmal treffend auf den Punkt brachte: „Es war schlimm, dass deine Schwester starb“, sagte er, „doch dann kamst du, und dann war alles wieder in Ordnung.“ Es war also implizit ihr Auftrag, den Verlust wiedergutzumachen.
Auch in Rolands Geschichte gab es einen tragischen Verlust im Leben seiner Mutter, und auch er sollte etwas wiedergutmachen. In einem langen Gespräch mit seiner Mutter erfuhr er, dass sie im Krieg schon einmal verlobt war, ihr Verlobter aber im Krieg fiel. Wie es damals so war, sperrte sie ihren Schmerz und ihre Trauer in den hintersten Winkel ihrer Seele und beschloss unbewusst, nie wieder eine neue Liebe einzugehen. Doch wie das so ist mit negativ formulierten Beschlüssen6, kam es anders und sie verliebte sich – in Rolands Vater. Sie gebar drei Mädchen und dann kam endlich der lang ersehnte Stammhalter zur Welt. Und so hörte Roland tatsächlich denselben Satz wie Sabine: „Und dann kamst du zur Welt, und alles war in Ordnung.“
Ein weiterer Teil unserer Seelenverwandtschaft ist, wie wir als Kinder mit unseren Bedürfnissen gesehen wurden: Sabine, die zu viel Aufmerksamkeit bekam, so viel, dass es sie erdrückte und sie sich eingesperrt und unfrei fühlte. Roland, der viel zu viel alleine war, weil die Eltern sehr viel arbeiteten. Und so drücken wir beide in diesem Dialog auf den wunden Punkt des anderen und reagieren inadäquat: Roland drückt auf Sabines Wunde des Eingesperrtseins und Sabine drückt auf Rolands Wunde des Verlassenseins.
Das Wichtigste ist, dass wir wissen: Es ist die Seelenverwandtschaft, die starke Verbindungen erzeugt. Und jedes Mal, wenn wir dank dieser Seelenverwandtschaft auf wunde Punkte stoßen, sollten wir nicht böse auseinandergehen, sondern hinschauen, wie wir den eigenen Strichcode, den wir aussenden, verändern können. Zu jeder Beziehung gehören nun einmal nicht nur die hellen Streifen, sondern auch die dunklen. Und so, wie wir uns über die hellen Streifen freuen, sollten wir auch die dunklen als ein Geschenk, als Teil der gemeinsamen Entwicklung betrachten.7
6siehe auch Impuls Nr. 25
7Falls „Geschenk“ Sie ungläubig den Kopf schütteln lässt: Lesen Sie Impuls Nr. 10!
9. Überlebensmuster sind kompliziert
Was als Kind überlebensnotwendige Verhaltensmuster sind, sind meist hinderliche Verhaltensmuster im Erwachsenenleben. Über den Sinn des Auflösens.
Sie und er im Urlaub in Südspanien. Die Sonne scheint, der Oleander duftet und die Alhambra, die sie gerade besichtigen, beeindruckt in ihrer Perfektion und Einzigartigkeit.
Sie: Wow, schau dir das an! Ist es nicht beeindruckend, dieses Bewässerungssystem, das die Menschen damals schon entwickelt haben? Und da, diese Fliesen … Hey, du! Was ist mit dir?
Er (sorgenvoll): Du, schau einmal, ich habe doch da etwas auf der Lippe.
Sie: Was denn? (Sie sieht sich die Stelle an.) Da ist doch nichts. Eine leichte Rötung, nichts Besonderes.
Er (entrüstet): Nichts Besonderes? Das könnte Krebs sein!
Sie: Ach geh! Die Sonne hat dir vielleicht ein bisschen die Lippe gereizt. Hier, ich habe einen Lippenbalsam.
Er (geschockt): Was?! Ich habe hier vermutlich Krebs und du kommst mir damit? Ich hab schon mit meinem Hausarzt telefoniert! Er meint, das wäre nichts Schlimmes. Aber er kann das ja aus der Ferne gar nicht beurteilen!
Kurz darauf erreicht ihn ein Anruf aus dem Büro. Die Computer sind abgestürzt. Er telefoniert zwei Stunden lang und schafft es von Spanien aus, das Problem zu lösen. Als sie beim Abendessen sitzen, spricht sie ihn noch einmal darauf an.
Sie: Wie geht es denn deiner Lippe?
Er: Wieso? Was soll mit meiner Lippe sein?
Ja, wir Menschen können uns das Leben schon ordentlich schwermachen. Da könnten wir den Urlaub genießen und uns freuen, weil das Leben gerade sein Füllhorn über uns ausschüttet, und dann sorgen wir uns wegen eines roten Tüpfelchens auf der Lippe. Am wohl unterhaltsamsten und auch drastischsten hat es Hollywood im Film „Besser geht’s nicht“ mit Jack Nicholson als Zwangsneurotiker par excellence dargestellt. Seine Überlebensmuster zeigen sich anhand von Türschnallen, die er nicht angreifen kann, oder der Haustür, die er täglich im selben Ritual fünfmal nach links und dann nach rechts zusperren muss. Er legt damit sich selbst und auch sein Umfeld in Ketten und verpasst das Leben.
Überlebensmuster entstehen immer aus einer Not heraus, in einer Zeit, in der wir mit schwierigen Ereignissen nicht reflektiert umgehen können, also vor allem in unserer Kindheit. Der Dialog oben hat sich zwischen uns vor etlichen Jahren abgespielt. Dieses neurotische Verhalten hat seinen Ursprung, als der kleine Roland sich mit seiner Großmutter konfrontiert sah, die immer nur sterben wollte. „Ich will sterben“ war ihr Standardsatz und ergänzte quasi perfekt das insgesamt düstere Bild der schwarz gekleideten, gebeugten Frau, die am Rollator so oft an Rolands Zimmer vorbeizuckelte. Als kleiner Bub war ihm dieses Verhalten unheimlich und es machte ihm Angst. Doch es war nur selten jemand da, dem er sich anvertrauen konnte. Seine Eltern waren im familiären Betrieb eingespannt, und so war er viel alleine. Wenn er allerdings krank war, war seine Mutter präsenter. So lernte er dreierlei: Zum einen übernahm er die kreisenden Gedanken über den Tod, zum anderen, dass Krankheit manchmal Aufmerksamkeit beschert, und drittens zeigte ihm das Vorbild seiner Eltern, dass Arbeit einen wichtigen Wert hat und einen vor sorgenvollen Gedanken schützt.
Solche Schutzmechanismen bleiben in uns gespeichert und werden im Erwachsenenleben in bestimmten Situationen abgerufen, wie unser Dialog zeigt. Und sie verselbstständigen sich: Im schönsten Ambiente denkt er über den Tod nach, obwohl seine Frau ihm viel Aufmerksamkeit schenkt. Erst als der Anruf kommt, hat er sein vertrautes Überlebensmuster zur Seite gelegt und kann sich mit Arbeit ablenken. Das ist, was Schutzmechanismen ausmacht: Sie sind kompliziert und von außen rein objektiv auch nicht zu verstehen. Man versteht sie erst, wenn man hinter die Kulissen schaut.
Überlebensmuster vergleichen wir gerne mit Krücken. Zu einer Zeit, wo wir mit schwierigen Situationen nicht gut umgehen können, legen wir uns Krücken zu. Rolands Krücke ist, dass er sich gern in die Arbeit stürzt, damit kein Platz für düstere Gedanken entstehen kann. Wenn das nicht möglich ist – wie im Urlaub –, dann kriechen die großmütterlichen Energien hervor, und erst die Arbeit kann ihn wieder beruhigen.