Liebe, wie geht's?. Sabine Bösel
zur Rede, um ihm klarzumachen, dass man sich so nicht verhalten sollte und es uns peinlich war.
Als Paartherapeuten laden wir in solchen Situationen dazu ein, einen Blick hinter das Verhalten zu werfen. Das hat gleich mehrere Vorteile: Zum einen hat der „Übeltäter“ nur so die Chance, sich sein inadäquates (oft unbewusstes) Verhalten bewusst zu machen und es so leichter verändern zu können. Zum anderen kann die „peinlich Berührte“ den Partner besser verstehen, Toleranz üben und helfen, dieses Verhalten zu verändern. Und nicht zuletzt entwickelt das Paar auf diese Weise auch das Miteinander weiter und vertieft die Beziehung. Dasselbe gilt natürlich auch für seltsames Verhalten von Geschwistern, Eltern, Kindern oder Freunden.
Nehmen wir das Beispiel vom Buffet. Ja, es ist unhöflich, verspätet auf einer Party zu erscheinen und dann nicht einmal den Gastgeber oder auch irgendjemand anderen zu begrüßen, sondern gleich das Buffet zu stürmen. Vielleicht denken Sie sich jetzt auch, dass das nun wirklich kein Drama sei, es käme schließlich öfter vor, dass sich Menschen am Buffet nicht benehmen können. Das stimmt, und gleichzeitig können wir genau deshalb ganz wunderbar zeigen, wie sehr wir alle von unserer Vergangenheit beeinflusst werden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Dieser wortlos das Buffet stürmende Mann ist in den 50er Jahren geboren. Der Krieg war vorbei, der Aufbau führte zum Wirtschaftswunder und die Kühlschränke waren voll. Als Kind hörte er zwar davon, dass in Afrika die Kinder Hunger leiden, wenn er einmal nicht aufessen wollte, doch selbst kannte er den Hunger nicht. Es stellte sich heraus, dass sein Vater sehr wohl viel Hunger leiden musste. Er war im Krieg und in russischer Kriegsgefangenschaft, die er nur mit Glück überlebte. Als unser Mann also das Buffet stürmte, schlug sein emotionales Erbe durch: Plötzlich triggerte sein Hungergefühl diese „vererbte“ Angst vor dem Verhungern des Vaters, und er verhielt sich wie ein tatsächlich Verhungernder. Wer nichts zu essen hat, pfeift auf gute Manieren und schaut, dass er schnell etwas in den Magen bekommt!
Eigentlich hätte er dem Gastgeber als Entschuldigung sagen müssen: „Tut mir leid, mein Vater war in Kriegsgefangenschaft und hat sehr viel Hunger gelitten. Ich habe das quasi im Blut und das hat dafür gesorgt, dass ich unhöflich zu dir war.“ Wäre interessant gewesen zu erfahren, wie der Gastgeber darauf reagiert hätte. Vermutlich wäre er gleich noch irritierter gewesen.
Warum, so fragen Sie sich nun möglicherweise, muss ich wissen, welches Blut in meinen Adern fließt, woher es kommt und wohin es geht? Weil Bewusstheit der Schlüssel ist für ein gelungenes Leben! Wenn Sie bei einem „komischen“ Verhalten ertappt werden und sich der Hintergründe nicht bewusst sind, werden Sie immer mit fadenscheinigen Ausreden daherkommen. „Ach ja, ich habe dich seit einer Stunde schon überall gesucht!“, sagen Sie dann vielleicht dem Gastgeber. Oder: „Ja, witzig, oder, kaum war ich da, hat mir schon einer diesen vollen Teller in die Hand gedrückt.“ Wenn wir Pech haben, werden diese Notlügen auch noch schnell entlarvt und dann haben wir uns gleich doppelt danebenbenommen: unhöflich und auch noch unehrlich! Wenn Sie sich hingegen klarmachen, woher Ihr seltsames Verhalten herrührt, es also in Ihr Bewusstsein heben, können Sie es verändern. Nur was uns bewusst ist, können wir auch verändern!
In unserem emotionalen Erbe steckt viel Potenzial, und zwar im Positiven wie im Problematischen. Viele unserer Eltern und Großeltern, die den Krieg miterleben mussten, haben über ihre Erlebnisse nicht geredet. Das bedeutet, dass Ängste und Traumata, von denen es bestimmt genug gab, sich in ihren Seelen eingespeichert haben und unbewusst über die Generationen weitervererbt wurden. Der noch junge Forschungszweig der Epigenetik untersucht, unter welchen Bedingungen ein Gen aktiviert wird oder nicht. So hat man in manchen Studien herausgefunden, dass die Wirkung von Traumata bis in die dritte Generation nachgewiesen werden kann. Das ist der Grund, warum wir auch bei Kriegsenkeln und Kriegsurenkeln darüber nachdenken sollten, inwiefern es noch traumatische Spuren aus dem zweiten Weltkrieg gibt. Üblicherweise kommen diese vererbten Themen in einem ganz anderen Kleid daher, beispielsweise auch in Form psychosomatischer Reaktionen. Es lohnt sich wirklich, sie zu hinterfragen und zu verstehen, denn sonst bleiben sie weiterhin Teil des emotionalen Erbguts und belasten nicht nur uns selbst, sondern auch die nächste Generation.
Doch es sind nicht nur die Kriegserlebnisse unserer Vorfahren, die uns zu seltsamem Verhalten führen. Oft sind es auch Stimmungen im Elternhaus, unbewusste Aufträge, Loyalitäten zu Vater oder Mutter, die uns unbewusst leiten. In unserem Buch „Warum haben Eltern keinen Beipackzettel?“1 haben wir uns ausführlich damit befasst, welches emotionale Erbe die Fäden in unseren aktuellen Beziehungen zieht. An dieser Stelle kommen unsere Partner ins Spiel, denn sie können besser als alle anderen ihren Finger auf dieses emotionale Erbe legen und uns herausfordern, damit uns unser Verhalten bewusst wird und wir es verändern können. Und es hilft uns auch, toleranter zu sein gegenüber all den „komischen“ Menschen auf dieser Welt!
1Orac, 2013
2. Mit Rucksack durchs Leben
Über die wichtige Erkenntnis, dass 90 Prozent unseres Tuns mit uns selbst zu tun haben und nur 10 Prozent mit unserem Gegenüber.
Ein paar Menschen warten vor der Supermarktkassa. Eine Frau kommt dazu, geht an der Warteschlange vorbei und bemerkt diese gar nicht. Nennen wir sie die „Verträumte“. Eine der wartenden Personen, die es oft eilig hat in ihrem Leben, begehrt auf. Nennen wir sie die „Getriebene“.
Getriebene (aufgebracht): Haben Sie keine Augen im Kopf? Wir warten hier auch. Hinten anstellen!
Verträumte (erschrocken): Oh, Entschuldigung, das habe ich übersehen.
G: Ja, das sagen sie alle. Tun so, als wären sie die Unschuld vom Lande und lavieren sich so durchs Leben.
V: Sie haben vollkommen Recht, ich stelle mich schon hinten an.
G (zu ihrem Vordermann): Ich packe das einfach nicht. Die Leute haben überhaupt kein Benehmen mehr!
Die Verträumte steht hinten und denkt: Oje, schon wieder einen Fehler gemacht. Dabei habe ich die Schlange wirklich nicht gesehen.
Am Anfang steht dieser so magische Moment: unsere Geburt, der Sprung ins Leben. Die meisten von uns sind zu diesem Zeitpunkt so richtig prall im Leben gelandet, und obwohl die Geburt auch für ein Baby Umstellungsstress bedeutet, pulsiert es dennoch vor lauter Lebenskraft und Energie. Das Leben wird dann bald herausfordernder, denn wir werden von außen beeinflusst, und zwar auf zweierlei Art: Wir werden von unseren Eltern (oder den entsprechenden Bezugspersonen) genährt und von ihnen sozialisiert. Unter Nähren verstehen wir, dass wir als Baby mit allen fünf Sinnen wahrgenommen und angesprochen werden. Ein Baby braucht Berührung, es braucht, dass jemand mit ihm spricht, dass es jemand anschaut, dass es Nahrung bekommt und vertraute Personen riechen kann. Das heißt, es geht darum, dass Mutter und Vater einen Input geben. Ein Baby, das gut genährt ist, bekommt die Grundbotschaft „Es ist gut, zu sein“ mit auf den Weg.
Sozialisation wiederum ist das, was man gemeinhin als „Erziehung“ bezeichnet. Während das Genährtsein für die ersten Lebensjahre wichtiger ist, hat die Sozialisation mehr Auswirkung in den Folgenjahren und in der Pubertät und Adoleszenz. Ein Kind, das ein weites Spektrum an Sozialisation erfährt, lernt, dass es gut ist, Verschiedenes auszuprobieren, und dass es gewisse Spielregeln für ein sinnvolles Miteinander gibt. Allerdings werden wir in der Sozialisation auch manipuliert und manchmal zu kleinen Robotern gemacht, die ganz nach der Pfeife der Bezugspersonen tanzen, anstatt aus der Fülle, die das Leben grundsätzlich für uns bereithält, zu schöpfen. Die Anweisung, immer schön brav still zu sitzen und nur ja nicht die Erwachsenen zu stören beispielsweise, schränkt kleine Kinder in ihrem natürlichen Bewegungsdrang ein und verhindert, dass sie neugierig die Welt erobern.
Wie wir genährt und sozialisiert wurden, formt unsere Persönlichkeit und eröffnet uns entweder ein weites oder enges Spektrum an Möglichkeiten. Und so sammeln wir Erfahrungen: Man bleibt bei der roten Ampel stehen, man wäscht sich die Hände vor dem Essen. Wenn man Wasser ins Feuer gießt, geht das Feuer aus. Regenwürmer kitzeln, wenn sie