Liebe, wie geht's?. Sabine Bösel

Liebe, wie geht's? - Sabine Bösel


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also muss ich mich sehr anstrengen, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Oder wir folgen bestimmten Sätzen, die wir immer wieder hören und an die wir unser Verhalten bis ins Erwachsenenleben anpassen. Ein Beispiel: „Klettere nicht auf den Baum, du wirst hinunterfallen.“ Als Kind lernen wir, dass wir unseren Impulsen nicht vertrauen können, weil die Mama weiß, dass da etwas passiert. Was ist die Folge? Wir klettern nie Bäume hoch, machen diese Erfahrung nicht – und am Ende sind wir wirklich sehr ungeschickt und fallen tatsächlich hinunter, wenn wir es dann doch einmal versuchen.2 Auf diese Weise füllt sich allmählich unser Rucksack mit den verschiedensten Erfahrungen, und den tragen wir immer mit uns herum. Dieses Repertoire haben wir stets zur Verfügung und wenden es je nach Situation an.

      Kehren wir zu unserer Szene an der Supermarktkassa zurück. Stellen Sie sich zwei kleine Mädchen in zwei verschiedenen Familien vor. Beide sind Sandwich-Kinder, haben also ältere und jüngere Geschwister, beide fühlen sich nicht ausreichend wahrgenommen von ihren Eltern. Das eine Mädchen geht mit dieser Situation so um: Es schließt daraus, wie wichtig es ist, sich zu behaupten, um gesehen zu werden. Es erlebt vielleicht sogar, was es heißt, ausgeschlossen zu werden. Kinder kompensieren solche unangenehmen Erlebnisse unter anderem mit einem unbewussten Beschluss, der bei dem einen Mädchen lautet: „Ich werde es allen zeigen und ich werde für mein Recht kämpfen!“ Diesen Beschluss nimmt es unbewusst ins Erwachsenenleben mit. Das zweite kleine Mädchen geht mit seiner Situation anders um. Es erlebt ebenfalls, wie es ist, nicht wahrgenommen zu werden und zu kurz zu kommen. Doch es schützt sich anders, es beschließt: „Ich warte, bis ich drankomme. Ich komme ja ohnehin mit wenig aus.“ Dieser Beschluss steckt in ihrem Rucksack drin.

      Diese beiden zu erwachsenen Frauen gewordenen Mädchen haben Sie weiter oben an der Supermarktkassa kennengelernt, und Sie erraten bestimmt, wer mit welchen Beschlüssen durchs Leben geht: Die Getriebene hat beschlossen zu kämpfen, sie begehrt sofort auf. Die Verträumte hat beschlossen, mit wenig auszukommen, sie unterwirft sich und ist still. Beide haben ganz bestimmt festgestellt, dass sich die jeweils andere komisch bzw. ungehörig oder irritierend verhalten hat.

      In der Imagotherapie sprechen wir davon, dass 90 Prozent unserer Frustrationen mit unserer Geschichte zu tun haben und nur 10 Prozent mit den aktuellen Umständen. Für bestimmte Situationen wurde uns als Kind ein gewisser Spielraum genommen, und mit der Zeit sind wir davon überzeugt, dass mehr als dieser eingeschränkte Spielraum gar nicht möglich ist. So wird auch unsere Kreativität eingeschränkt und wir reagieren in bestimmten Situationen nicht flexibel, sondern in eingefahrenen Mustern. Dabei gäbe es immer auch noch andere Möglichkeiten. Die Getriebene an der Kassa könnte auch ganz neutral und unaufgeregt denken: „Ah, interessantes Verhalten.“ Und sie könnte sagen: „Ich glaube, Sie haben übersehen, dass wir hier schon angestellt sind. Aber Sie haben ja nur so wenig eingekauft, ich lasse Sie vor.“ Dass sie zu diesem Denken und Verhalten nicht in der Lage ist, liegt an ihrem Rucksack. Sie hat gelernt, dass sie kämpfen muss, daher poltert sie los und verweist die andere ans Ende der Schlange. Der Humor, die Kreativität und Flexibilität und auch die Großzügigkeit, all das ist bei ihr verloren gegangen.

      Und so ist es auch in Paarbeziehungen. Wenn wir uns die Mühe machen, einen Konflikt zum Anlass zu nehmen, um in unsere Rucksäcke zu schauen, können wir diese unbewussten Beschlüsse aus unserer Kindheit und die daraus entwickelten Strategien erkennen, auflösen und neue Möglichkeiten entdecken, wie wir uns in Zukunft anders verhalten wollen.

      Wir können davon ausgehen: Wenn wir beim Partner ein „komisches“ Verhalten beobachten und uns das aus der Fassung bringt, lohnt es sich zu prüfen, ob vielleicht gerade die 90 Prozent aus unserer eigenen Geschichte durchkommen. Und was ist mit den restlichen 10 Prozent? Stellen Sie sich eine Garderobe vor mit Haken, an die jeder seinen Mantel hängen kann. Stellen Sie sich weiters vor, so ein Mantel repräsentiert die 90 Prozent und der Haken die 10 Prozent. So ist diese Formel zu verstehen: Ohne die 10 Prozent, die die aktuelle Situation ausmachen, fehlt uns der Aufhänger für unseren Mantel. Das heißt, gibt es keinen Anlass, kommt unser eingefahrenes Muster nicht zum Einsatz.

      Daraus leitet sich auch die gute Nachricht für uns Paare ab: Meistens haben nur 10 Prozent eines Konflikts mit der aktuellen Situation zu tun, 90 Prozent lassen sich auf unsere Rucksäcke zurückführen. Warum das eine gute Nachricht ist? Weil wir mit dieser Sichtweise Konflikte ganz anders und viel nachhaltiger lösen können. Denn wenn wir uns – wie das oft so üblich ist – darum streiten, wer in einer bestimmten Situation nun Recht hat oder nicht, kommen wir nie weit. Wir kreisen dann ja auch nur um die 10 Prozent! Wenn wir uns stattdessen um die 90 Prozent kümmern, können wir feststellen: Ah, als Kind fühlte ich mich zwischen meinen Geschwistern so unbeachtet, daher also reagiere ich so empfindlich, wenn mir meine Partnerin dauernd ins Wort fällt, denn da fühle ich mich genauso missachtet. Schon allein dieses Wissen ist ein großer Schritt, um uns mit diesem für uns so heiklen Thema „Ich bin Luft für alle“ auszusöhnen. Damit Sie uns richtig verstehen: Die Erkenntnis, warum wir in bestimmten Situationen so unflexibel und übertrieben reagieren, ist nicht als Ausrede gedacht. Sie soll Ihnen jedoch das Verständnis erleichtern. Und noch etwas: Diese 90-10-Regel gilt natürlich nicht für alle Situationen: Wenn Ihnen Ihre Partnerin ein Bein stellt und Sie sich verletzen, wäre es reichlich deplatziert, nach Ihren 90 Prozent zu fragen!

      Seien Sie Ihrer Partnerin, Ihrem Partner grundsätzlich dankbar für „komisches“ Verhalten. Denn es ist dieser 10-Prozent-Aufhänger, der Ihnen beiden klarmacht, dass sich dahinter Ihre Seelenverwandtschaft verbirgt. Das ist der Beginn, an dem sich ein Knoten auflösen kann. Denn wenn Sie Ihre 90 Prozent benennen können, tut sich auch Ihr Partner leichter, die 10 Prozent zu verändern!

      2siehe auch Impuls Nr. 5

      3siehe auch Impuls Nr. 8

       3. Romeo und Julia

      Wenn wir uns verlieben, haben wir immer auch zwei Familiensysteme im Hintergrund. Es ist für eine gelungene Beziehung entscheidend, dass wir uns davon emanzipieren und auf Basis unserer Historie ein eigenes System entwickeln.

      Sie hat einen Ferienjob im Handwerks- und Handelsbetrieb der Familie ihres Liebsten begonnen und sitzt als Telefonistin im Büro. Da kommt ihr Schwiegervater in spe herein.

       Schwiegervater: Na, wie gefällt es dir bei uns?

       Sie: Ja, eh gut. Viel Trubel hier und viel zu tun!

      Schwiegervater: Du könntest jederzeit bei uns einsteigen, das weißt du.

      Sie: Aber du weißt doch, dass ich ganz bestimmt mein Studium abschließen möchte und dann Psychologin werde.

      Schwiegervater: Klar weiß ich das. Aber wenn du richtig arbeiten willst, kannst du jederzeit zu uns kommen.

       Sie (entrüstet): Psychologin zu sein ist doch auch richtige Arbeit!

      Diese kleine Szene hat sich so ähnlich im Jahr 1980 im Unternehmen der Familie Bösel – einem großen Fleischereibetrieb in Wien – abgespielt. Wir ahnten noch nicht, wie sehr diese doch sehr unterschiedliche Sichtweise auf Arbeit unsere Liebe prägen würde. Für Roland war Arbeit das, was er von seinen Eltern vorgelebt bekam: identitätsstiftend und erfüllend, jedoch auch körperlich anstrengend und unternehmerisch riskant. Seine Eltern und Großeltern arbeiteten quasi rund um die Uhr, nur am Sonntag ruhten sie sich


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