Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind. Paul Schlesinger
dann rosarote oder himmelblaue Morgenkleider an. Die Herren sind meist in Hemdsärmeln und knöpfen ihre Kragen zu. Zuweilen tanzen noch einige Kinder im Hemd herum. Sie werden von ihren Eltern außerordentlich geliebt. Dann folgen die Leute meinem Beispiel und betreten ihren Balkon. Erst halten sie ein bißchen Umschau und prüfen, was auf unserer Seite Interessantes zu sehen ist. Sie ruddeln [!] einige Minuten über uns, dann setzen sie sich auch zum Kaffee. Wir sind so an die vierzig Männer, die täglich zusammen frühstücken, Kinder und Frauen erziehen – oder selbst erzogen werden – und dabei Zeitung lesen. Es gibt sehr korrekte Männer mit sehr langweiligen Frauen. Es gibt korrekte Männer mit amüsanten Frauen. Es gibt amüsante Männer mit langweiligen Frauen. Amüsante Männer mit amüsanten Frauen sind sehr rar – wenigstens in unserer Straße. Es ist in den Ehen so, daß gewöhnlich einer Zeitung liest, während ihn der andere dabei stört. Frauen bevorzugen die Lektüre von Büchern; in diesem Falle wird ihnen von den Männern die Zeitung vorgelesen, was die Frauen nicht leiden können.
Die Männer gehen morgens in ihr Geschäft, die Frauen bleiben allein, ohne daß sie darüber in Tränen ausbrechen. Gewöhnlich genügt ein flüchtiger Kuß auf die Stirn, zu dem weiter nichts gesprochen wird. Wenn der Mann vorher seine Brieftasche ziehen muß, weil das Wirtschaftsgeld nicht gereicht hat, unterbleibt der Kuß. Die Frauen sitzen noch eine Weile, während der Mann schon auf dem Wege zur Arbeit ist. Dann machen sie sich zum Ausgehen zurecht, verlassen das Haus. Ihr Hauptvergnügen bleibt das Geldausgeben.
Abends finden wir uns wieder. Dann sitzen wir noch lange beim Lampenschein beieinander, bis ein Paar nach dem andern verschwindet. Im Schlafzimmer, das dann wundervoll in Ordnung ist, wird Licht gemacht, die Fenster werden geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Noch eine Weile ist ein rosiger Schimmer sichtbar, dann erlischt auch er.
Zuweilen bekommt man Besuch, dann muß gesprochen werden, und das ist recht schwer. Es gibt sehr wenig Gesprächsthemen. Wenn man gar nichts mehr weiß, spricht man von der anderen Seite der Straße. Klügere Leute greifen gleich zu den Karten; das sind diejenigen, die es keinen Augenblick ohne geistige Betätigung aushalten. Es gibt Ehemänner, die jeden Abend mit ihren Frauen Sechsundsechzig spielen. Darunter sind grauköpfige Männer, die ihre Frauen bemogeln. In jüngeren Jahren mogelt die Frau. Beim weiblichen Geschlecht wirkt das Alter läuternd. Der Mann wird mit den Jahren sachlicher. So hat jeder seine Gründe.
Im großen und ganzen hat man den Eindruck, daß keine zwingende Notwendigkeit für das Zusammenleben der Paare besteht. Wahrscheinlich wäre es amüsanter, wenn alle Männer auf der einen und alle Frauen auf der anderen Seite der Straße wohnen würden. Indessen ist wenig Aussicht, daß an der bunten Reihe, die man nun mal gemacht hat, was zu ändern ist.
Im allgemeinen kennen wir uns nicht. Aber vor vier Wochen sind Bekannte gegenüber eingezogen. Wir Männer bemerkten uns gegenseitig von unseren Balkons, nickten uns freundlich zu und stellten uns gegenseitig mit empfehlender Handbewegung unsere Frauen vor. Sonst verkehren wir nicht miteinander. Es genügt sozusagen, wenn man sich immer sieht. Wir sehen uns täglich stundenlang, wir können den Fetzen Abendrot, der unserer Straße gegönnt ist, nicht genießen, ohne uns zu sehen. Wenn ich melancholisch vor mich hin blicke, sehe ich ihn, und wenn ich freudetrunken die Arme hebe, sehe ich ihn. Setze ich mich an meinen Schreibtisch und hebe meinen Blick vom Papier, so sehe ich ihn. Und wenn ich die Vorhänge zuziehe, sehe ich ihn. Ich trinke keinen Schluck und esse keinen Bissen ohne ihn. Ich hasse ihn, und ich würde ihm durchs Telefon unsere Bekantschaft kündigen, wenn ich nicht längst Rache geübt hätte; blickt er melancholisch vor sich hin, so sieht er mich; reckt er die Arme freudetrunken zum Himmel, so sieht er mich. Ißt er, trinkt er – er sieht mich. Vielleicht platzt er.
Mai 1921
Musik
Phantasien eines Verschnupften
Zuweilen gibt ein ganz gewöhnlicher Schnupfen Gelegenheit, die musikalische – man kann auch sagen: die seelische Struktur eines Hauses kennenzulernen. Für gewöhnlich hört man im Eigenlärm über die Geräusche der andern hinweg. Doch wenn ein sanftes Leiden die zärtliche Schonung der eigenen Familienmitglieder hervorruft, wenn alles auf Zehenspitzen geht, das Telefon nur noch verschämt röchelt und sogar der Einbrecher sich draußen die Schuhe auszieht – dann, o Mensch, nimm zwei Aspirine, eine heiße Limonade, hülle dich in die ganze Wolle deines Bürgertums, und wenn du dann noch nicht schwitzest – höre, was die Menschen im Hause spielen.
Moderne Nachbarschaft ist eine der unheimlichsten Angelegenheiten. Man denke an die Mieterversammlung. Wir Bewohner desselben Hauses leben doch – man kann sagen, was man will – unter denselben klimatischen Verhältnissen (die Zentralheizung funktioniert bei keinem), und dennoch ist die Mieterzusammenkunft immer ein Kongreß von Eingeborenen vierundzwanzig verschiedener Erdteile. Jeder redet in seiner Sprache an dem andern vorbei. Man will auch gar nicht verstanden werden. Im Grunde hassen wir uns gegenseitig, unsere Stiefel, unsere Zigarren, unsere Dienstmädchen, unsere Kinder, unsere Eheweiber. Eine der größten Verwirrungen bietet das Betreten der unter oder über uns gelegenen, also völlig gleichgroßen Wohnung. Wenn wir sehen, was andere Menschen aus diesen selben Räumen gemacht haben, so packt uns das Grauen. Wir erleben nämlich denselben Gedanken, von einem andern gedacht. Ich habe plötzlich den Kopf des andern auf der Schulter.
Wir haben dieselben Räume (auf Grund irgendwie ähnlicher Verhältnisse oder Ansprüche) – unser häusliches Leben ist in denselben Rhythmus gezwungen. Es macht schon etwas aus, vom Speisezimmer ins Schlafzimmer, vom Arbeitsraum zu den Kindern genau dieselbe Schrittzahl zu benötigen. Gleiche Weite des Blicks, gleiche Aussicht, gleiche Winkel und Krümmungen. Und wie unerhört anders hat der andere Mensch diesen selben Gedanken bevölkert, möbliert, will sagen: beseelt. Das kann reicher oder ärmlicher sein, spröder oder lasterhafter, eine gefühllose Öde oder ein Aufschwung zur Schönheit; familiäres Behagen oder pure Pflichterfüllung. Die Schönheit kann gebildet sein aus ein paar kargen Möbeln, von einer guten Hand geordnet; erlesene Dinge können zum Selbstbetrug vor dem Gebieter in grotesker Lächerlichkeit strammstehen. (Was können Möbel lügen – wie gut und wie schlecht!) Kann alles sein, würde uns gar nicht berühren – geschäh es nicht in unsern Räumen! Der andere in uns greift uns an, die Verzweiflung: Der Mensch unter – über – neben dir ist gar nicht das, was dir Mensch ist.
Diese Auseinandersetzung über die Verschiedenheit der Menschen mußte sehr langatmig sein, um das Folgende besonders wirkungsvoll zu machen:
Jeder dieser höchst verschiedenen Menschen hat ein Klavier, und alle spielen dieselben Stücke. Man entschuldige das nicht mit der notorischen Armseligkeit unserer Musikliteratur. Tatsächlich kommen die Menschen mit einem Bruchteil des Vorhandenen aus: sie nähren sich von einem knappen Dutzend Sonaten, Mozart oder Beethoven; ein paar Walzern, Notturnos oder Mazurkas von Chopin, zwölf bis zwanzig Minuten Wagner und einigen musikalischen Momenten Schuberts. Dann stehen noch ein paar Bachsche Fugen oder Händelsche Variationen in der Hausapotheke oder ein paar Schnäpse von Walter Kollo, Leo Fall und ähnlichen Melomanen.
Diese Menschen also haben das fast gleichartige Bedürfnis nach musikalischer Heiterkeit oder Heroismus, Schwermut oder Tändelei. Sie sind innerlichst gezwungen, dieselben Ton-Gedanken-Gefühlsreihen immer wieder zu durchlaufen. Die Musik ist ihr seelischer Generalnenner.
Man merkt’s im ganzen Umfange erst im Schnupfenfalle: vom Parterre dampft Chopin zu mir herauf, im ersten Stock braust Beethoven, im vierten wabert Wagner. Zehn Minuten später hat sich’s gedreht: Wagner wabert aus dem Parterre, Chopin tropft auf mich herab, Beethoven prasselt mir von der Linken in die Weichteile. Man könnte (unter dem Einfluß der heißen Limonade) eine große Wut bekommen auf die gesamte Musik und feststellen, daß in den Konzerten in nur wenig vergrößertem Maßstabe dasselbe vor sich geht. Unsinn: wenn alle andern Komponisten nicht auf die Welt gekommen wären und Mozart nichts als die g-Moll-Sinfonie geschrieben hätte – wäre das ein Beweis gegen die Musik? Aber es ist richtig, daß für die Hausbewohner der Unterschied kein sehr großer wäre – mir wurde gestern die »Appassionata« von drei verschiedenen Seiten zugleich entgegengedonnert.
Vom Standpunkt eines gütigen Menschenbetrachters läßt sich sagen: Die Musik hat in weiten Kreisen die Stelle eingenommen, die früher die Heilige Schrift innehatte. Man hatte sich jahrhundertelang an den sehr