Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind. Paul Schlesinger
in einem, höchstens in zwei Bänden herauszugeben, die Menschen eher von der Lektüre abhält als zu ihr einladet. Die Art, das Ganze groß und feierlich zu nehmen, ist sehr anständig, aber nicht sehr reizvoll. Die unerhörte Fülle und Mannigfaltigkeit widerstrebt der einheitlichen typographischen Gestaltung. Jeder andere Dichter findet sich (soweit er nicht überhaupt an seinen gesammelten Werken zugrunde geht) dann doch zu einer ihm gemäßen Erscheinungsform. Nun tritt auch die Bibel gelegentlich vornehm und bis zu einem gewissen Grade weltmännisch in den Kreis der Werke, die gelesen sein wollen. Eine feine List des großen Psychologen, mit Goethe und Schiller, Möricke und Poe, E. T. A. Hoffmann und Gogol in scheinbaren Wettbewerb zu treten und zu tun, als seien die anderen Werke nicht von ihm.
Mit der Musik indessen ließ er es nicht soweit kommen. Das widerstrebt der Sammlung im Großen. Das vertreibt sich am besten durch Einzelausgaben und zwingt zu frommer Beschäftigung mit Fingersätzen und Pedalen.
Auch diese Abschweifung war nötig, um auseinanderzusetzen, daß es von diesem Standpunkt aus nicht so sehr darauf ankommt, wie gespielt wird. Wenn rings um mich her gewabert und gerast wird, wenn die Fingersätze fliegen und die Pedale ächzen, so weiß ich, daß in meinem Hause augenblicklich wenig gesündigt wird. Es bleiben höchstens einige Rechnungen unbezahlt. Denn der Dilettant ist an seinen Übungen mit allen Sinnen und Gliedmaßen beschäftigt. Man muß schon ein Künstler sein, um so zwischen Präludium und Fuge Vater oder gar Mutter zu werden.
Denn Künstler sind Priester und haben das Lächeln.
November 1921
Witta vasichat?
Die vielerörterte Frage lautete eigentlich dahin, ob man für den Sommerüberzieher ein neues Futter oder für das Futter einen neuen Sommerüberzieher anschaffen sollte. Freunde, denen das Kleidungsstück zur Begutachtung vorgelegt wurde, brachen in den fugierten Ruf aus: »Reiniget ihn.« Dementsprechend wurde gehandelt. Die Frau ging noch einige Tage überlegend durch die Straßen und widmete ihre Aufmerksamkeit jenen sonderbar nachdenklichen, fast leeren Schaufenstern, in denen zuweilen eine gebügelte Männerhose mit einer rosa Damenbluse oder ein grüner Unterrock mit einer karierten Männerweste von vergangenen Tagen stumme Zwiesprache halten. Dann öffnete sie die Tür eines dazugehörigen Ladens, in dem vor verhüllten Schränken eine seit dreißig Jahren auf irgend etwas wartende Dame stand und schließlich mit saurer Miene sagte: »Gut, wir werden den Mantel abholen.«
Am nächsten Tage klingelte es, und vor der öffnenden Frau stand ein blasses, blondes, zwölfjähriges Mädel mit blau erloschenen Augen und einem unerhört breiten, gradlinigen Mund.
»Is hier der Paletot abzeholen?«
Die Frau nickte, holte das von den letzten peinlichen Resten des Futter befreite Kleidungsstück aus dem Schrank und reichte es dem Kinde, das noch einmal den Mund weit öffnete, um mit heller Stimme zu schmettern: »Witta vasichat?«
Die Frau, die das Unglück hatte, nicht in Berlin geboren zu sein, sagte zunächst gar nichts. Das Mädchen hielt sie infolgedessen für schwerhörig, holte noch einmal tüchtig Atem und schrie, so laut und so rasch es konnte: »Witta vasichat?«
Die Frau, die immer noch nicht wußte, aber mutmaßte, daß ein irgendwie gearteter Irrtum vorliegen mußte, sagte: »Nein, er soll gereinigt werden.«
Das Mädchen zuckte bloß mit der rechten Schulter: »Wolln Se’n nich lieba vasichan?«
Nun lächelte die Frau und meinte: »Wird er denn davon auch sauber?«
»Nee.« (So eine dumme Dame war dem Mädchen noch nicht vorgekommen.) »Er kommt bloß nich wech.«
»Wieso kommt er denn weg?«
Das Mädchen wiegte ungeduldig den auf dünnem Halsstengel sitzenden Kopf: »Villeicht kommt er ooch nich wech.«
»Na also«, meinte die Frau. »Im übrigen ist es eure Sache, dafür zu sorgen, daß er nicht wegkommt. Ich übergebe euch einen Paletot, und ihr habt ihn mir gesäubert zurückzubringen.«
Das Mädchen ließ sich auf juristische Erörterungen nicht ein und sagte bloß: »Wenna wech is, dann issa wech.«
Da schwoll der guten Frau die Zornesader, und sie schrie: »Na, dann ›issa wech‹! Und er wird auch nicht ›vasichat‹!« und schlug dem Mädchen die Tür vor der Nase zu.
Am Abend erzählte es die Frau dem Manne. Der hörte schweigend zu. Dann ergriff er ihre liebe kleine Hand und küßte sie. Die Frau wurde nervös und fragte unsicher: »Hätte ich ihn doch versichern sollen?«
Der Mann schüttelte den Kopf. Sein Auge sah wehmütig in die Ferne, dann sagte er, der das Glück hatte, in Berlin geboren zu sein, leise mehr zu sich, als zu seiner Frau: »Nu issa wech.«
[1924]
Ein Spazierstock hängt im Regen ...
Eine wäßrige Nacht. Wir waten vom Theater zur Stadtbahn, haben gerade ein paar Minuten trockenes Obdach, und dann klatscht uns das Wasser wieder ins Gesicht. Die Menschen patschen unter den glänzenden Schirmen durch die Pfützen.
An unserer Bahntreppe ist im Sommer ein grüner Fleck, sorglich mit mannshohem Lattenzaun eingefriedet. Damit die Droschkenpferde nicht die Böschung hinaufrasen. Jetzt im Winter ist der Zaun ziemlich überflüssig.
Nein, er ist es nicht. Denn plötzlich mache ich einen Griff nach dem Zaun. Die Frau an meinem Arm bemerkt es gar nicht. Sie sieht nur plötzlich, daß in die Krücke meines aufgespannten Schirms eine andere Krücke eingehakt ist, und an der hängt ein Spazierstock.
»Wo kommt der Stock her?« tönt es durch den prasselnden Regen.
»Ich hab ihn mir gelangt.«
»Woher?«
»Vom Zaun ... er hing am Zaun.«
»Wie kommt er an den Zaun?«
»Weiß nicht. Ich habe immer darüber nachgedacht, wozu der Zaun da ist – jetzt weiß ich’s.«
»Und du hast ihn dir einfach genommen?«
»Natürlich – ich kann doch nicht noch eine halbe Stunde im Regen daneben stehenbleiben. Übrigens prima Malakka, zwanzig Goldmark.«
»Und du ... das geht doch gar nicht.«
»Du siehst doch, daß es geht. Hätte ich den Stock da hängenlassen sollen? In jeder Minute gehen fünfzig Leute vorüber, sehen ihn oder sehen ihn nicht – ich habe ihn gesehen.«
»Ob ihn jemand verloren hat?«
»Wahrscheinlich – übrigens ein ordentlicher Mensch, dieser Verlierer. Der schmeißt seine Sachen nicht einfach auf die Straße wie jeder andere Liederjahn, sondern hängt ihn an den Zaun.«
»Vielleicht war er betrunken, dacht’, er stünde im Regen wie zu Hause unter der Brause, und fing an, sich auszuziehen. Zuerst hängt er den Stock auf ...«
»Man zieht sich doch nicht unter der Brause aus.«
»Er war doch betrunken.«
»Hm.«
Endlich waren wir zu Hause. Wir trockneten den Stock ab, dann nahmen wir ihn mit ins Schlafzimmer wie einen zugelaufenen Hund.
»Vielleicht«, sagte ich, »ist der Stock weder verloren noch war der Verlierer betrunken – es war möglicherweise ein ganz normaler Mensch, der morgens mit einem Stock von Hause ausgegangen war, dann aber abends im Regen die völlige Unbrauchbarkeit eines Stockes einsah und ihn einfach von sich abtat.«
Schweigen. Eine Viertelstunde später, man hatte sich schon gute Nacht gesagt – meint die Frau etwas ängstlich: »Du ... gehst du mit dem Stock aus?«
»Natürlich, sowie die Sonne scheint.«
»Und wenn du nun dem Besitzer begegnest? Es ist ein so wundervoller, ein so charakteristischer Stock. Er erkennt ihn wieder, er kommt auf dich zu, er schlägt dich nieder ...«
»Womit?