Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind. Paul Schlesinger

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sprechen« versteht er zwanzig Küsse.

      4 Wenn der Mann die Geliebte auf einer Lüge ertappt, ist das für ihn eine sehr große Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung. Selbst wenn es sich nachher herausstellt, daß es gar keine richtige komplette Lüge gewesen ist, bleibt genug, um einer Inkorrektheit symptomatischen Wert beizumessen. Der Mann ahnt nicht einmal, wieviel er selbst lügt.

      5 Bis zu welchem Grad der Mann unfähig ist, eine Frau zu begreifen, das ahnt er erst beim Anblick des glücklicheren Nebenbuhlers. Niemals versteht ein Mann die spätere Wahl der Geliebten. Und wenn sie ihn offensichtlich äußerer Vorteile wegen verlassen hat, seufzt er und sagt: Wie unglücklich muß sie sein!

      6 Jammervoll ist die Lage des Mannes, der sich in gesundem Selbstgefühl sagen darf oder dem es auch noch bestätigt wird, der Nachfolger sei ein Mann von ungleich geringerer geistiger Qualität, seelischer Verfeinerung. Er kann es nicht begreifen, daß seine eigene seelische Verfeinerung in den meisten Fällen die Quelle seines Unglücks ist.

      7 Die Liebe, über die noch geredet werden muß, ist nicht mehr der Rede wert.

      8 Wirklich treu ist nur der Unglückliche, und auch der nur, wenn er das Glück hat, eine völlig menschenleere Insel zu bewohnen.

      9 Eine unglückliche Ehe ist ein Kinderspiel – aber eine glückliche – das will durchgemacht sein!

      10 Es war einmal ein Dichter, der die planmäßige Gepflogenheit hatte, alle Liebschaften, die er darstellte, in ein ungewisses Licht zu rücken. Die Leser seiner Romane waren infolgedessen sehr unzufrieden mit ihm. Eine junge Dame, die seiner habhaft wurde, fragte ihn über eine seiner Romanfiguren: »Hat sie ihn nun wirklich geliebt?« Der Dichter ärgerte sich mächtig über die dumme Frage und setzte der Dame auseinander, daß es in der Liebe überhaupt »wirklich« nicht gebe, daß jede Liebe anders sei. Trotzdem konnte der Dichter nicht verhindern, sich in jene Dame zu verlieben. Als sie ihm um den Hals gefallen war und er ihr den ersten Kuß auf den Mund drückte, fragte er sie beglückt: »Liebst du mich nun wirklich?« Und als sie ihn später verließ, war sein letztes, verzweifeltes Wort: »Hast du mich nun wirklich nicht mehr lieb?« Dieser Dichter war ein Narr.

      11 Die Geschichte des Grafen von Gleichen wird nie zu Ende erzählt. Jawohl, er war mit beiden Frauen glücklich. Er fühlte sich stark genug, beide zu lieben, und sein Leben war ein Fest. Aber es geschah, daß die beiden Frauen nicht gleich glücklich wurden. Sei es, daß die eine (es war die zweite) dennoch glaubte, nur einen halben Mann zu besitzen – sei es, daß sie verliebten Einflüsterungen eines andern Gehör schenkte ... sie verließ ihn. Der Verlust traf den Grafen mit tödlicher Wucht. Er war unfähig, sich mit dem halben Glück zu begnügen, das ihm doch geblieben war; ging hin, ließ sich scheiden, und zwar von allen beiden.

      12 Der Verlassene, der in seiner Geliebten auch eine Freundin zu besitzen glaubt, begeht oft den Fehler, sich bei der Freundin über die Geliebte zu beschweren. Dabei verliert er gewöhnlich auch noch die Freundin. Viel öfter hätte er Anlaß und Recht, die Freundin bei der Geliebten zu verklagen. Denn die Freundin hätte es sein müssen, die dafür sorgte, daß ihm unnötige Schmerzen, Qualen der Unsicherheit erspart blieben.

      13 Treue und Untreue sind nur zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache: für die Liebe.

      April 1923

      Rätsel der Seele

      Auf einem Untergrundbahnhof traf ich gestern den elegantesten, smartesten Mann meiner Bekanntschaft. Ich kenne nicht sein Bankkonto, wohl aber die großzügige, zuweilen verschwenderische Art, Geld auszugeben. Frisch, wohlgenährt, prächtig gekleidet stand er vor mir. Wir freuten uns miteinander, aber ich beeilte mich mit dem Gespräch, denn ich wußte, wenn der Zug einfuhr, mußten wir uns trennen, und ich bereitete schon die Phase vor, mit der ich ihm schonend mitteilen wollte, daß ich dritter Klasse fahre – und er war ja eben jeder Zoll zweiter.

      Wie erstaunt war ich, als er plötzlich die von mir selbst gedachten Worte sprach. Er bäte mich um Entschuldigung, er wolle mich nicht etwa veranlassen, mein Billett zweiter unausgenutzt zu lassen. Aber er fahre prinzipiell dritter, natürlich nicht wegen Billigkeit, sondern weil man in der dritten manchmal sitzen könne, während man in der zweiten immer stehen müsse. Außerdem seien die Leute der dritten Klasse besser erzogene Menschen ... Aber ich solle mich nicht stören lassen. Ich entpuppte mich nun auch; nur aus den von ihm angeführten Gründen führe auch ich immer dritter.

      Dann kam der Zug, wir stiegen ein, natürlich fanden wir keinen Sitzplatz, wurden von den besser erzogenen Leuten hin und her gestupst, plauderten allerhand und trennten uns vergnügt erst auf der Straße.

      Auf der Rückreise, zwei Stunden später, nahm ich aus einem mir völlig unbekannten Grunde eine Fahrkarte zweiter. Ich betrat einen fast leeren Wagen der zweiten Klasse, aber wen fand ich darin? Den elegantesten, smartesten Mann meiner Bekanntschaft. Wir sahen uns verlegen und schuldbewußt an, wie zwei Ehegatten, die sich gegenseitig bei was ertappt hatten.

      »Nun fahren wir doch zweiter«, sagte ich mit katastrophalem Stimmklang.

      »Ja«, gestand er kleinlaut. »Merkwürdig – wieso nur? Die menschliche Seele ist doch voller Rätsel.«

      Ich versuchte, mich zu erinnern, und sprach: »Vielleicht tat ich es doch unter Nachwirkung unseres Gesprächs. Zum ersten Male nach langer Zeit prüfte ich den Preisunterschied, und die Differenz beträgt nur fünfzig Mark. Um diese Zeit ist die zweite Klasse wirklich leerer.«

      Und er sagte tiefsinnig: »Manchmal trifft man auch in der zweiten Klasse einen Bekannten, mit dem sich ganz gut plaudert ...« Da unterbrach er sich plötzlich und sagte: »Außerdem wollte ich vielleicht eine Ihnen angetane Taktlosigkeit wiedergutmachen –«

      »Mir gegenüber waren Sie doch nicht taktlos.«

      »Aber sicher – habe ich Ihnen nicht zu einer Zeit, als ich Sie selbst noch für einen Bürger der zweiten hielt, gesagt, daß die besser erzogenen Menschen in der dritten Klasse fahren? Angenommen, ich hätte recht damit, so wäre es eine Anmaßung von mir, nachdem ich das gesagt habe, noch dritter zu fahren. Ich muß es auf mich nehmen, und ich werde in Zukunft nur zweiter nehmen.«

      »Nein, mein Freund, Sie haben ein Recht auf die dritte. Als wir nämlich den Bahnsteig verließen, sah ich genau, daß Sie dem Schaffner eine Karte zweiter überreichten. Sie hatten das mit der dritten Klasse nur gesagt, weil Sie annahmen, daß ich dritter führe. Sie wollten mir eine Beschämung ersparen und bekannten sich zum begeisterten Anhänger der dritten.«

      Er errötete leicht und lächelte. »Sie sind ein genauer Beobachter, vor Ihnen muß man sich in acht nehmen. Aber es ist doch wirklich ganz egal. ›Beschämung ersparen‹ ist wohl ein zu großes Wort – die Sache ist nicht der Rede wert.«

      Er lächelte auf geschmeichelte Weise noch eine ganze Weile, und auch das Erröten schwand nicht sobald. Ich bin nämlich wirklich ein genauer Beobachter, und die Karte, die er abgegeben hatte, war tatsächlich eine – dritter.

      April 1923

      Psychologische Einstellung

      1 Psychologie ist deshalb so schwer, weil der andere gewöhnlich auch ein Esel ist.

      2 Es gibt unzählige Beispiele dafür, daß geringere Menschen sich vorzüglich auf Wesen höherer Art eingestellt haben. Sekretäre, Kammerdiener, Zofen, Souffleure, Barbiere, Kapellmeister gaben unwiderlegliche Proben der sichersten Einfühlung in große Staatsmänner, Könige, geistreiche Frauen, geniale Schauspieler und Komponisten. Das Unglück ist sofort da, wenn der Staatsmann ein Esel, der König ein Narr, die Frau eine Pute, der Schauspieler ein Stümper und der Komponist ein Dilettant ist.

      3 Der vergangene Krieg wurde mit einer Erfindung gewonnen, die in keinem Kriegslaboratorium der sich gegenüberstehenden Länder gemacht wurde, sondern in dem Genie eines Volkes. Die Erfindung ist das Wörtchen »Boche«. An und für sich bekanntlich gar kein so arges Schimpfwort. Aber eine Bezeichnung von unübertrefflicher Durchschlagskraft. Wir Deutsche haben in der Kriegspropaganda – sogar dem eigenen Volke gegenüber – sehr langatmige Erklärungen abgeben müssen, wieso, warum, wozu. Was


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