Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind. Paul Schlesinger
und wartet nur, daß sie unter den Hammer kommt.
Es zieht mich hinunter in den Saal der prunkenden Uniformen. Bismarck, Moltke, Prinz Friedrich Karl – sie haben ihre stolze, ablehnende Haltung mir gegenüber seit dreißig Jahren bewahrt. Da Kaiser Friedrich – daneben an der Wand doch noch Wilhelm der Zweite. Kein Lüftchen bewegt seinen Federbusch. Welch wächserne, gläserne Öde in dieser Fürstengruft! Eine Bewegung, eine einzige, und es müßte klirren von Orden, Ketten, Waffen. Nichts. Nur ich – lebe. Eigentlich sind sie alle wehrlos, auch Sie, Herr Poincaré mit dem Ordensband, und ihre britische Majestät ...
Und Goethe, Schiller, Wagner, Rubinstein – mußte das sein? Hat das sein müssen, lieber Castan? Da steht auch Ebert neben Scheidemann. Weiß Gott, niemals war ich so überzeugt vom Vorzug der Unberühmtheit.
Da – ich lache hell auf! Ihr seid auch noch da, ihr geliebten Vexierspiegel? Wer kann da widerstehen? Ich will ganz allein über mich lachen. Ich mach mich ganz dick, und ich zerfließe in die Breite. Ich schneide eine Grimasse – ha, mein Mund reicht von Paris nach Petersburg. Und nun ganz dünn. Ich will doch probieren, ob ich so aussehen kann, wie ich eigentlich aussehen möchte – so ist es gut. So ungefähr. Das ist mein seelisches Format. Wenn ich mich so fotografieren lassen könnte ... Ich dreh mich nur halb – was ist das? Mein Bauch ist gewölbt, geschwollen, ein Ballon – ich lache laut – mich erschreckt mein eigenes Lachen. –
Fort – hinaus. Adjö, lieber Castan. Hinaus auf die graue, trübe Friedrichstraße. Sie ist verwahrlost, im Straßenschmutz liegen Bettler, an den Ecken schreien die Händler. Jawohl – wir haben einen Krieg verloren; aber wir sind nicht aus Wachs, wir leben.
Zusammenfassend, lieber Castan: Als ich ein Kind war, hast du mir wohl Spaß gemacht. Heute warst du ein schwerer furchtbarer Traum. Und ich weiß nicht, welcher deiner Säle keine Schreckenskammer war.
Und nun ziehe in Frieden. Ich weiß, deine Lebensarbeit ist nicht tot. Deine Puppen werden nicht zerschlagen, nur versteigert. Sie werden sich da oder dort auftun, und das Volk wird staunen, und die Kinder werden gaffen und sich fürchten.
Aber ich bin von dir erlöst – für den Rest meiner Tage.
Februar 1922
Wenn Frauen boxen
Oh, Kowatsch Ilona – welches ungeheure Glück, mit dir nicht verheiratet zu sein! Täglich wandern tausend Menschen ins Metropolkabarett, freuen sich über Tänzerinnen, Komiker und Akrobaten; aber des wahren Glückes werden sie erst leibhaftig, wenn sie dich boxen sehen, Kowatsch Ilona.
Du fielst mir gleich auf, als du mit deinen elf boxenden Gefährtinnen in den Ring tratest zur gemeinsamen Vorstellung. Mit euren Wadenstrümpfchen, in schwarzen Röcken und weißem Sweater erschienet ihr wie hübsche zutunliche Tiere. Die korrekte Bravheit, mit der ihr kamt, euch verbeugtet und wieder ginget, erschien mir sogar als ein Muster von Dressur, wie man es bei Frauen selten erreicht. Indessen als du, Kowatsch Ilona, nur den Kopf zum Gruße vorstrecktest – die dumpfen wilden Augen uns sehen ließest –, dachte ich gleich: Nicht allein mit dir im Wald möcht ich wandeln, unter gar keinen Umständen!
Was sind deine Kolleginnen, die vor dir in den Ring traten, für taubenähnliche Wesen. Schon die Namen – Mitzi, Franzi, Pepi, Anni, Fritzi – wie klingt das lieb und nett gegen dein dräuendes Ilona. Und diese andern beboxten sich nicht ohne Anmut. Man hat es euch ja auch etwas erleichtert. Ihr braucht nicht bis zur Kampfunfähigkeit zu raufen. In dem »Ring« ist noch ein engeres Feld mit Fähnchen abgesteckt; wer mit beiden Füßen außerhalb des Feldes steht (oder liegt), ist besiegt.
Wie nett und anständig besiegen die blonde Steffi, die dunkle Pepi ihre Partnerinnen! Man watscht sich die braunen Boxhandschuhe um die sorgfältig geschminkten Wangen – der tapfere, messende, aufmerksame Blick aus Franzis schönen Augen ist sogar eine kleine Sehenswürdigkeit, und keinem Mann wäre es unangenehm, so betrachtet zu werden. Wird die Runde abgepfiffen, so ist die Helferin nicht nur um Kühlung für die Ruhende besorgt, sie bringt auch die Löckchen unter der weißen Kampfhaube in Ordnung. Jawohl, dem Spiel eurer Kräfte sah ich gerne zu. Denn Zierlichkeit blieb eurem Kampf nicht fremd, und Mut und Geschicklichkeit, auch des Sportes Ehrsamkeit widersprachen nicht eurem Weibsein!
Dann aber kam Ilona. Mit dunkler Wut betrachtete sie schon vom Stuhle aus ihre Gegnerin, die blonde Fritzi aus Bayern – ein Pfiff: Ilona springt auf wie ein wildes entfesseltes Raubtier. Die eigene Wut scheint ihr nicht groß genug, sie stößt wütende Zischlaute aus, gellende Kriegsrufe. Ob dieser Unsportlichkeit ist das Publikum halb empört – halb belustigt. Nur die Belustigung wächst zum Taumel. Denn Ilona hüpft dröhnend, wie auf vier Füßen, um die Gegnerin, sie schreit, sie rast, sie tobt. Mit den Händen teilt sie verbotene Püffe aus – aber sie begnügt sich nicht mit den Händen. Als ihr unversehens die Partnerin auf die Zehen tritt, heult Ilona wild auf, erst in Schmerz; dann in Wut. Sie versucht den Fußtritt zu erwidern. Trotz der warnenden Pfeife boxt sie weiter oder hört auf zu boxen, umschlingt den Hals der Gegnerin. Der Schiedsrichter will sie trennen, da stürzt sie sich auf ihn, um ihn regelrecht zu verprügeln. Er besinnt sich auf seine Würde und gibt ihr eine schallende Ohrfeige. –
Pause. – Ilona ruht mit zitternden mächtigen Flanken, Arme, Beine weit von sich gestreckt. Das Auge in wirrer Versunkenheit, Haß, Rache speiend. Noch einmal geht es zum Kampf – Ilona besinnt sich auf keinen Schlag mehr, der erlaubt ist. Sie stößt mit den Füßen, sie heult, sie zischt; das Publikum schreit: »Raus, raus!« Da schlägt Fritzi mit einem Schlage Ilona nieder, so daß sie unter den mit Flaschen besetzten Tisch der Unparteiischen fällt – besiegt. Aber Ilona springt wieder auf, trägt den Tisch plötzlich auf dem Rücken – die Flaschen fallen vom Tisch, die Unparteiischen von den Stühlen, der Tisch vom Rücken Ilonas, die sich mit neuer Wut auf Fritzi stürzen will. Indessen man bändigt sie – die wilden Proteste des Publikums erwidert sie mit wilderen unartikulierten Lauten. Einen Augenblick fürchtet man, sie könne ins Publikum hinabspringen, nicht weniger furchtbar als ein entlaufener Löwe.
Oh, Kowatsch Ilona – lehn deine Wang’ niemals an meine Wang’!
Juni 1921
Das Fräulein am Klavier
Seitdem es Musikabteilungen in Warenhäusern gibt, sitzt in einem Winkel eine Dame am Klavier und spielt auf Verlangen den neuesten Tanz. Diese Dame gehört zu den Erscheinungen, an die man sich nicht gewöhnen, mit denen man sich durchaus nicht abfinden kann. Irgendwie stolpert das Gefühl des Gleichgültigsten, der vorbeischreitet. Man sieht es an den Mienen derer, die da gehen, betrachten, befühlen, befragen, bedenken. Sie heben plötzlich, irgendwie aufgestört, den Kopf. Sie können, und sei es für Sekunden, nicht weitersprechen. Man erinnere sich an eine häusliche Szene: Die Tochter übt am Klavier; man erträgt es. Plötzlich wird eine Rechnung präsentiert. Man ruft: Frida, höre einen Augenblick auf.
Die Gefangennahme der Sinne durch Musik schließt zuweilen jede Tätigkeit aus, die den wägenden oder logischen Verstand erfordert. Die Gegenprobe: im Kino. Der entsetzliche Geiger und die verdammenswerte Klavierspielerin machen eine an sich höchst löbliche Pause. Inzwischen rollt oben ein Film weiter. Es geht nicht – das Herz des Musikalischsten schreit nach irgendwelchen noch so falschen Tönen. Denn Verstand und Logik sind beim Film so weit ausgeschaltet, daß nur durch gleichzeitiges Erklingen von Tönen das seelische Gleichgewicht hergestellt werden kann. Folgt man im Warenhaus den Tönen, tritt man der Klavierspielerin etwas näher, so erweitert sich das Problem. Es geschieht nämlich an jenem Klavier etwas, das nicht nur durch Klang und Rhythmus das Gefüge des Warenhauses erschüttert.
Man blicke (im Gegensatz) vom zweiten Stock hinab in dieses gewaltige, glitzernde Luftschloß von Glas, Marmor, sich spannenden Bögen, sich überschneidenden Treppen. Alles, was hier geschieht, vollzieht sich chorisch. Wünsche, Begierden, Vermögen, Geschmack, Ansprüche der Kaufenden – Geschick, Kenntnis und Arbeitsamkeit der Verkäufer mögen noch so verschieden sein – es ist ein Aufundab, ein Handhaben und Sichgeben im selben Rhythmus. Wohl läßt sich eine Dame einen Stoff um die Schulter legen. Es stört nicht, denn jeder ist in sich selbst versunken. Mit derselben sinnlichen Empfindsamkeit prüft man im Warenhaus Bücher. Anders als im Buchladen. (Man wittere keine