Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind. Paul Schlesinger
mich erkannt, sagt sich der Alte, und für einen Augenblick ist sein Stolz nicht unbefriedigt; dann aber blitzen Spuren einstiger Laune: Vielleicht hat er dem anderen bloß gesagt: Das ist auch so ein alter Trottel von früher. Und es wäre doch sein Recht – haben wir damals vor zwanzig Jahren über die Alten nicht ebenso gesprochen? Und haben wir nicht recht gehabt? Und hatten die Alten nicht Angst vor uns?
Er sieht sich um unter den fünfhundert fremden Menschen, er sucht die neue Generation; er findet sie nicht. Vielleicht erkennt er sie bloß nicht. Dann sinkt er auf ein Sofa wie ein schwerer müder Sack.
Wer sind die hundert oder zweihundert, die auf den unbequemen Stühlen hocken, vor sich hin starren, reden, ohne zu plaudern – in den Zeitungen blättern, ohne zu lesen?
Man weiß es nicht. Die trübe Dämmerung macht sie alle grau und fahl, vertieft die Schatten um Auge und Nase, macht die Lippen welk. Sie sitzen und warten, aufrecht oder geduckt, sie warten, daß einer kommt oder daß der Zeiger der Uhr weitergeht. Sie warten ohne Hoffnung darauf, daß irgend etwas sich ändere.
Es sind Kaufleute dabei, viel russische Kaufleute. Sie denken vielleicht an das nächste Geschäft, aber sie bilden sich nicht ein, daß sie morgen woanders sitzen und warten als gerade hier. Es sind Filmschauspieler dabei; sie denken an das Engagement, das sie in der Tasche haben, aber sie werden froh sein, auch morgen hier sitzen zu können. Da hockt ein trauriges Mädchen. Oh, dieses Leben ist so außerordentlich schwer; man wartet’s ab im Café. Eine andere hat sich bunt gemacht, mit Seide, Wolle, Schminke. Sie hat sich weit zurückgelehnt, raucht unternehmungslustig. Die ist wohl neu. Wundert sich bloß, daß niemand sie beachtet.
Es ist nicht laut in diesem Hause. Nur ein tiefer surrender Ton ist hörbar. Auch kein lebhaftes Löffelklirren. Man setzt sich; der Kaffee wird hastig getrunken, das Stück Kuchen rasch verschlungen. Dann kommt das Warten.
Es ist auch ein Japaner dabei, ein kleiner, gelblich blasser, mit höchst lustigen Augen. Er sieht sich die müden, verbrauchten Menschen sehr genau an. Er versteht sich schon auf das europäische Antlitz. Wenn er glaubt, an einem der grauen, mürben Menschen die Anzeichen der Verzweiflung zu sehen, dann ist sein Auge besonders lustig.
Januar 1922
Die entschlemmerte Diele
Endlich ist der Geist des Herrn von Kahra bis an die Spree gedrungen. Der wird Augen machen, wenn er eine Berliner Diele betritt! Nun kehret Zucht und Ordnung, segensreiche Himmelstochter, bei uns ein. Es war aber auch höchste Zeit, daß das Schlemmen in den Dielen verboten wurde.
Im Ernst gesprochen: Die neue Verordnung wird sehr viel, vielleicht sogar das Entscheidende zur Vergeistigung des Berliner Dielenwesens beitragen. Das Volk hatte in der Tat nicht mehr das rechte Bewußtsein davon, was eigentlich eine Diele ist und weshalb man eine solche besucht.
Die Diele, wenigstens im Sprachgebrauch des zwanzigsten Jahrhunderts, ist zunächst ein angenehmer, wohltuend erwärmter Raum, ausgestattet mit allen Künsten, deren unsere moderne Innenarchitektur fähig ist. Hübsch lackierte Stühle, weiche Polster laden zum Verweilen. Bunte Vorhänge erfrischen das am Alltag abgestumpfte Auge, traulich beschirmte Lampen winken von jedem Tisch. Was ist natürlicher, als hier, friedlich bei der Lampe, ein gutes Buch zu lesen? Nirgends findet man mehr Behagen, mehr Muße, mehr Möglichkeit zur Konzentration. Aber die Diele bietet auch die Möglichkeit zu geselligem Genuß. Da ist zunächst der Stehgeiger mit seiner vortrefflichen Kapelle, deren klassischen Weisen zu folgen nur von moralischem Gewinn sein kann. Und dann überhaupt: die feine Form der Geselligkeit, die nirgend anders so genossen werden kann wie in Bars und Dielen. Da gibt es zum Beispiel Damen, hübsche, junge, gut gekleidete, in den besten Gesellschaftsformen erzogene. Und wie heiter zwanglos wickelt sich alles ab. Förmliche Vorstellung ist überflüssig, auch nicht immer ratsam. Man lächelt, ein seelenvoller Blick genügt oft, um Sympathie und Verständnis hervorzurufen. Man setzt sich zusammen, man plaudert. Man ist um keinen Unterhaltungsstoff verlegen. Die Welt ist voll von Sorgen und Kummer; hier schüttet man sein Herz aus, hier bespricht man die großen und kleinen Probleme des Tages: die Zentralheizung, die Butterpreise und vor allem Fragen der Kindererziehung und Säuglingspflege. Auch gelegentliche Bemerkungen über Kunst und Literatur finden verständnisvolle Würdigung. Am Ende beugt man sich galant über die zuweilen gewaschene Hand und geht, an Herz und Nerven gestärkt, nach Hause.
Das ist eine Diele, eine wirkliche Diele. Und man darf mit der Regierung fragen, was an einem solchen Ort nun noch mit übermäßigem Essen und Trinken bewirkt werden soll! Mit Recht wird es besteuert.
Ich, wenn ich mit meiner Familie in eine Diele gehe, trage in der linken Hand ein paar gute Bücher, in der rechten das Stullenpaket. Mein Junge hat seine englische Grammatik, mein Töchterchen ihre Buntstifte, meine Frau die von ihr unzertrennliche Handarbeit. Abends um neun packe ich regelmäßig das Stullenpaket aus, während Mutter in die Küche geht (der alte Brauch ...) und den mitgebrachten Malzkaffee kocht. Ab und zu werfe ich einer der hübschen jungen Damen einen seelenvollen Blick zu und biete also ein Bild, in dem sich altväterische Zucht mit weltmännischer Grazie verbindet.
Der Nation ein Vorbild.
September 1922
Abschiedsvisite bei Castan
Nur auf diesem Wege anstandshalber die Mitteilung, daß ich dir, lieber Castanb, heute einen heimlichen Abschiedsbesuch gemacht habe. Mittwoch wird dein Panoptikum versteigert. Einmal wollte ich noch sehen, was eigentlich bei dir los war.
Die Heimlichkeit war nicht sehr freiwillig. Ich ging rasch in den großen Restaurationssaal, in dem von Tischen, Stühlen, Waffen, Bildern ein ziemliches Durcheinander herrschte. Einen einsamen Herrn sah ich bei einem halben Glase Bier sitzen. Ich ging nur zwei Schritte auf ihn zu – dann erkannte ich: Das ist immer noch der gleiche Herr aus Wachs, der seit meiner Kindheit Tagen an dem Tische saß und von so vielen Provinzlern angesprochen wurde: Wieviel Uhr es denn sei – oder so. Das Wiedersehen mit mir ging nicht ohne Erschütterung vor sich. Damals war der einsame Herr viel älter als ich. Heute, nach mehr als dreißig Jahren, bin ich etwas älter als er – oder viel, viel älter.
Ein Arbeiter ging durch den Raum. Ich bat um die Erlaubnis, eine Besichtigung vornehmen zu dürfen. Man wies mich auf eine kleine Treppe, dort, im zweiten Stock, seien die Herren, die etwas zu erlauben hätten.
Auf der Treppe las ich die Worte: »Zur Schreckenskammer«. Schon zwängte sich aus vergittertem Fenster ein Sträfling zur Flucht. Mein Herz stand still. An die Schreckenskammer hatte ich nicht gedacht. Nichts hatte ich als Kind mehr gefürchtet als diese Treppe, und nie hatte ich sie betreten. Und jetzt wollte ich so einfach – weil die Herren gerade oben seien –, so geschäftsmäßig kühl da hinaufgehen? Ich mußte mich zusammennehmen. Ich stieg hinauf, ich trat ein. Die Herren waren gar nicht da – aber etwas anderes, Fürchterliches stürzte sich auf mich: das entsetzlich schweigsame Alleinsein mit fünfzig wächsernen Mördern und Mörderinnen. Sie standen herum, ihre abgeschlagenen Häupter hingen an den Wänden. Folterinstrumente, Beile, schreiende Menschen, gemartert von der erfinderischen Justiz aller Jahrhunderte – und ich allein, wieder das gequälte Kind, das unten an der Treppe wartete, während die älteren Geschwister so ruhig hinaufgegangen waren –. Fort, nur fort!
Ich stolperte die Treppe hinunter. Erst vor Dornröschen beruhigte ich mich. Nun bewegte der Elektromotor nicht mehr ihren Busen, der früher so regelmäßig auf und nieder ging. Dann kam ich zu den Riesen, deren Namen ich früher so genau kannte und die ich nun alle vergessen habe. Und daneben stand noch immer Herr Ulpts, der Zwerg, den ich doch noch lebendig gekannt hatte. Damals, als ich ein Kind war, gab’s noch Zwerge.
Ich trete an einen vergitterten Balkon, und ich sehe hinab in den berühmten Kaisersaal, in dieses feierlich tote Gewimmel von wächsernen Gestalten! War hier nicht einst die Kaiserproklamation nachgebildet? Die beiden Gardes-du-Corps in rotem Wams stehen immer noch zu Füßen des Podiums. Aber dann, das weiß ich auch noch, stand Wilhelm der Zweite vor dem Thronsessel. Er ist nicht mehr da; an seiner Stelle sitzt, grausig puppenhaft von Hermelin umflossen, Friedrich der Erste, König von Preußen – den letzten hat der erste abgelöst. Links von ihm erkenne ich eine feldgraue Gruppe: Hindenburg und Ludendorff.