Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind. Paul Schlesinger
im Recht. Aber die anderen verstanden sich nicht auf die Psychologie, die wir ihnen gegenüber anwendeten. Als die Franzosen dagegen das Wort »Boche« aussprachen, da wurden sie in der ganzen Welt verstanden, obgleich die Bedeutung des Wortes niemand wußte und seine Herkunft in Frankreich selbst Millionen vollkommen unbekannt war. »Boche« konnte und brauchte nicht übersetzt werden. Es war von der gleichen Wirkung auf die erste französische Herzogin wie auf den letzten Neger im Herzen Afrikas.
4 Zu den feinsten Psychologen gehört bekanntlich die Rasse der Hunde. Man stelle sich eine über die ganze Erde verbreitete Bevölkerungsschicht vor, die davon lebt, daß sie durch Pfötchengeben und Männchenmachen, durch Schwanzwedeln und treue Blicke ein gerührtes Lächeln erzeugt und damit nicht nur freie Station, sondern auch Bezahlung der Steuern erwirkt. Ich habe gerade diese bescheidensten Hundekünste erwähnt, weil die größte Ausnützung der bescheidensten Arbeit gerade die feinste Psychologie voraussetzt. Damit soll nicht bestritten werden, daß der Hund als Wächter, Detektiv und Jäger auch ganz erstaunliche Proben seiner Einführungskunst abgibt. Aber alle Psychologie hilft nichts gegenüber einem Herrn, der aus Not oder Laune sich entschlossen hat, nächsten Sonntag Hundebraten zu essen. Vergebens würde man einem solchen Herrn auseinandersetzen, daß er mit diesem Schlachtfest eine Torheit beginge. Daß es eine unnütze Grausamkeit sei, am Sonntag einen Hund zu essen, wenn man das Verhungern dadurch nur um einen Tag hinausschiebt. Daß die schmackhafte Zubereitung dieses Tieres zuviel Fett und Gewürze beanspruche, um sich überhaupt auszahlen zu können. Daß der Verkauf des Hundes lukrativer sei als seine Aufopferung. Denn auch ein Hund ohne die Merkmale einer besonderen Rasse stelle eine Summe seelischer Qualitäten, wie Treue, Wachsamkeit, Psychologie, dar, die sich deshalb in Geld ausdrücken läßt, weil die Treue des Hundes die einzige ist, die sich übertragen läßt. Indessen muß man bekümmert annehmen, daß ein Herr, der einmal zu solchem Entschluß gelangt ist, sich weder durch Gründe der Vernunft noch des Herzens davon abbringen lassen wird.
5 Diese Einsicht ist – um wieder vom Hund auf den Menschen zu kommen – insbesondere bekümmernd für eine Nation, die sich der letzten Machtmittel beraubt sieht. Vergebens ruft sie die klügsten Männer an die Spitze ihres Staatswesens und erwartet von ihnen, daß sie bei vollkommener Einfühlung in die Psyche des Gegners der geprüften Nation wenigstens die pure Lebensmöglichkeit bewahren. Man erwartet von ihnen Geschmeidigkeit des Kammerdieners, die Schlagfertigkeit des Souffleurs, die kunstvolle Beherrschung der Mittel eines Kapellmeisters, die genaue Pünktlichkeit des Sekretärs – lauter Rollen, die sehr dankbar, sehr geschätzt sind und schließlich auch entsprechend belohnt werden, wenn der Staatsmann als groß, der Schauspieler als ein Talent, der Komponist als ein Genie angesprochen werden kann.
6 Leider aber ist Psychologie deshalb so schwer, weil der andere gewöhnlich auch ein Esel ist.
April 1922
Der Nasologe von Berlin
Wöchentlich einmal spricht der »Phreno- und Physiognom« Reinhold Kohlhardt in irgendeinem Berliner Saal über die Bedeutung der Nase im menschlichen Gesicht, mit besonderem Bezug auf seelische Veranlagung und Berufsübung. Gestern geschah es in der Lyzeumsaula der Prinzenstraße vor etwa einem Dutzend Nasen. Eine davon hatte sich tief gesenkt, und die dazu gehörige alte Dame schlief schon zehn Minuten, bevor das Fest begonnen hatte.
Der Vortrag selbst war so schwer, daß der Nasologe ihn gar nicht allein halten konnte. Er hatte sich einen resoluten Herrn mitgebracht, der, die Anwesenden begrüßend und die Phrenologie für wichtig haltend, auseinandersetzte, der Vortragende werde den Beweis dafür antreten, daß sich der Charakter des Menschen in seiner gesamten Kopf- und Gesichtsform ausdrücke.
Harthold Reinkohl trat diesen Beweis indessen gar nicht erst an, denn wenn auch die Seele des Menschen im Gehirn sitze, so könne man auch schon an der Nase viel sehen, und heute wolle er justament nur über Nasen sprechen. Der schlanke, sympathische, kandidatenförmige Herr öffnete einen großen Koffer, entnahm ihm große, auf Pappe gezogene Umrißzeichnungen und sagte: »Dies ist eine pessimistische Nase. Der Mensch, der traurig ist, geht gebückt, er läßt die Mundwinkel hängen, die Augenwinkel schieben sich herab, und auch die Nase verlängert sich infolgedessen nach unten. Deshalb ist das eine pessimistische Nase. Natürlich sitzt die Seele nicht in der Nase, sondern im Gehirn. (Aber heute wolle er eben von Nasen sprechen.)
Dies ist eine optimistische Nase. Der heitere, freudige Mensch geht aufrecht, seine Blicke sind nach oben gerichtet, und auch seine Nase strebt nach oben. Natürlich sitzt die Seele nicht in der Nase, sondern im Gehirn. (Aber heute ...)
Dies ist die Judennase. (Und er zeigte eine fabelhafte.) Der Erwerbssinn ist in ihr außerordentlich entwickelt. So eine Nase wie diese Nase kommt allerdings heute sehr selten vor. Seitdem die Juden in der Berufswahl nicht mehr so beschränkt sind und sich auch andern Betätigungsgebieten zuwenden können, hat sich auch ihre Nase verändert. Denn mit der veränderten Veranlagung oder Stimmung kann sich auch die Nase ändern. Ein mißtrauischer, pessimistischer Mann kann, wenn er seine Sinnesart ändert, auch seine Nase ändern. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen, sondern sehr langsam. Denn die Seele sitzt bekanntlich nicht in der Nase, sondern im Gehirn.
Das sind Lippen (der Nasenvorrat war offenbar ausgegangen), die Liebessehnsucht ausdrücken. Solche Lippen kommen meistens bei jungen Leuten vor. Natürlich sitzt die Seele auch nicht in den Lippen, sondern, wie ich schon mehrfach hervorgehoben habe, im Gehirn.
Das sind Lippen, die auf eine sehr edle Denkungsart schließen lassen. Diese Lippen sind sehr schön und edel geschwungen. Worin die Schönheit besteht, muß man eben fühlen, zu erklären ist so was sehr schwer. Dazu ist die Sprache zu arm ...«
Hier ließ der Reinhard Kohlhold eine Pause eintreten, und die anwesenden Nasophilen schöpften Atem. Sogar die alte Dame öffnete für einige Augenblicke die Augen.
September 1921
Das Café
Es war einmal sehr hell, sauber und freundlich; die Ausmaße der hochgewölbten Decke gaben ihm einen Zug ins Großartige, und die wohlgepflegten Bürger kamen, um sich einander in ihrem Staat zu zeigen. Auch kostete die Melange fünf Pfennig mehr als woanders, so daß man eine gewisse Exklusivität mit genoß.
Heute, wo niemand mehr nach fünf Pfennigen fragt, wird an der Beleuchtung gespart. Die Ausmaße der gewölbten Decke sind noch von derselben Großartigkeit, aber es ist nur eine matte Helle, die sich abstuft zu einer fatalen Dämmerung. Der Linoleumboden ist von einer nässenden Schlammschicht überzogen.
In der Dämmerung sitzen hundert oder zweihundert Menschen. Wer einen Platz auf den Wandsofas bekommen hat, liegt weit zurück, wie versunken. Die anderen hocken auf ihren Stühlen.
Es sind nicht mehr die wohlgepflegten Bürger von einst; noch bis vor kurzem hielt sich an den Nachmittagsstunden ein Tisch kluger alter Männer, die es zu etwas gebracht. Auch ein Kaffeekränzchen alter Tanten war ziemlich seßhaft. Nun ist das auch zu Ende. Eine Bürgersfrau gibt es noch.
Sie ist mit den versprengten Resten der aus ihrem »Kleinen Café« vertriebenen Kunstzigeuner hier herübergezogen. Sie hatte nie zu den Zigeunern gehört, aber es muß für sie eine Lebensnotwendigkeit sein, die gleiche Luft zu atmen. Sie kam als blutjunge Frau, und ihre dunklen Augen suchten in jedem Eintretenden Sensation. Nun sind die Haare grau, die Wangen gefurcht, die Lippen erschlafft; aber die Augen sind schwarz und lebendig und suchen in jedem Eintretenden Sensation.
Von den eigentlichen, den Edelzigeunern, sind wenig verblieben. Kein fester Tisch will sich mehr bilden. Ein paar Bekannte treffen sich, täglich in anderer Zusammensetzung. Man ist leicht angegraut. Ohne Freude und Teilnahme findet man sich zueinander. Gespräche haspeln sich ab, ohne Inanspruchnahme des Gehirns, aus der Gewohnheit der Lippen. Die Kämpfe sind vor fünfzehn Jahren ausgefochten; damals schieden sich die Gruppen nach Welt- oder Kunstanschauungen; zuweilen war man feindlich, man grüßte sich nicht mehr. Nun ist alles vorbei, man macht sich nicht mehr die Mühe, anderer Meinung zu sein. Noch weniger hat man Kraft, die eigene Meinung aufrechtzuerhalten. Es kommt so gar nicht darauf an. Möge doch die neue Generation ...
Da kommt einer der Alten, mit suchenden Augen. Er fängt den Blick irgendeines