Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Wilhelm Heinrich Wackenroder
tritt hier zutage: die Forderung der Toleranz. Nicht die einseitige Überwertung der Kunst, sei es des eigenen, sei es des fremden Volkes, ist sein Wille und Ziel, sondern die Verteidigung der Gleichberechtigung beider. Sichtlich spüren wir den Einfluß Johann Gottfried Herders, der zum erstenmal in Deutschland historisches Verstehen jeder geistesgeschichtlichen Erscheinung aus Zeit und Raum heraus gelehrt und die Entwicklung der Menschheit als eine Fuge aufeinanderfolgender und ineinanderverschlungener, aber selbständiger und gleichwertiger Völkerstimmen begriffen hatte.
Aber auch dieser Toleranzgedanke ist bei Wackenroder religiös verankert. Wenn die Kunst heilige Sprache und Gottesgeschenk ist, dann sind auch alle ihre Ausdrucksformen gleichberechtigt und gleich wertvoll, alles Stimmen der Geschöpfe Gottes, und keine darf auf Kosten der andern mißachtet werden. Diesen Sinn hat der für Wackenroders Denken ungemein aufschlußreiche Aufsatz: „Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe in der Kunst“, dem später in den „Phantasien“ noch ein zweiter, ähnlicher, folgt. So wie alle Dinge und Geschöpfe der Natur Gott angehören und sein Lob verkünden, ein jedes mit seiner anerschaffenen Stimme und nach seiner besonderen Art, ein jedes Ihm zum Wohlgefallen, so hat auch die Kunst aller Völker und aller Zeiten ihr Recht und ihren Wert, weil jede in ihrer Zunge doch die eine Sprache des Schöpfers spricht. „Er erblickt in jeglichem Werke der Kunst unter allen Zonen der Erde die Spür von dem himmlischen Funken, der, von ihm ausgegangen, durch die Brust des Menschen hindurch, in dessen kleine Schöpfungen überging, aus denen er dem großen Schöpfer wieder entgegenglimmt. Ihm ist der gotische Tempel so wohlgefällig als der Tempel der Griechen; und die rohe Kriegsmusik des Wilden ist ihm ein so lieblicher Klang als kunstreiche Chöre und Kirchengesänge.“
So stehen auch Nord und Süd, deutsche und italienische Kunst gleichberechtigt nebeneinander, verschiedene Stimmen der einen großen Kunst zum Lobe des Himmels. „Liegt Rom und Deutschland nicht auf einer Erde? Hat der himmlische Vater nicht Wege von Norden nach Süden wie von Westen nach Osten über den Erdkreis geführt? Ist ein Menschenleben zu kurz? Sind die Alpen unübersteiglich? — Nun, so muß auch mehr als eine Liebe in der Brust des Menschen wohnen können.“ Fern jeder deutschtümelnden Überspitzung wird im Düreraufsatz diese Meinung zum Schluß ausgeprochen: „Nicht bloß unter italienischem Himmel, unter majestätischen Kuppeln und korinthischen Säulen — auch unter Spitzgewölben, kraus-verzierten Gebäuden und gotischen Türmen wächst wahre Kunst hervor.“
Neben der neuen Wertung Dürers ist Wackenroders zweite romantische Tat die Entdeckung der altdeutschen Stadt. Zu Pfingsten 1793 unternahmen die beiden zwanzigjährigen Studenten von Erlangen aus jene berühmte Reise nach Nürnberg, die einen Markstein in der Rückwendung der Romantik zur deutschen Vergangenheit darstellt. Wir besitzen von diesen mehrfach wiederholten Wanderungen ein zweifaches Zeugnis des Dichters: einmal die für die Eltern, zumal für den Vater, einen typischen Vertreter der älteren Generation des Rationalismus, bestimmten Reisetagebücher des Dichters, und zweitens als einziges poetisches Denkmal eben das „Ehrengedächtnis unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers“, von dem schon öfter die Rede war.
Aber wie verschieden ist der Ton in beiden! Die Reisebriefe: brav, vorsichtig und fast ein wenig ängstlich, wohlerzogen alles Wissenswerte aufzeichnend, vor allem auch volkswirtschaftliche Einzelheiten, im Sinne der üblichen Bildungsreise des 18. Jahrhunderts, und noch ganz ohne romantischen Enthusiasmus und Überschwang. Wie nüchtern wird der Eintritt in Nürnberg beschrieben: „Die Stadt hat wegen der vielen schwarzen, mit gotischem Prunk an Bildern und Zieraten reich überladenen Kirchen, wegen der alten, ganz von Quadern gebauten, festen Häuser, die häufig mit Figuren von Menschen und Tieren bemalt und auch mit sehr alten Basreliefs in Stein geziert sind, ein antikes, abenteuerliches Ansehen. Aber sowohl aus- als inwendig scheinen mir doch fast alle Häuser keine Spur von modernem Geschmack zu haben. Keine einzige neumodische Fassade. Die Haustür ist oft klein und schwarz und fast immer verschlossen. Man klingelt, sie springt auf; man geht durch dunkle Winkel eine schlechte Treppe hinauf und findet selbst Männer wie Herrn von Murr und Herrn Schaffer Panzer in Zimmern, die durch eine Bibliothek angenehm werden, an Fenstern mit kleinen runden Scheiben nach dem Hofe oder einem Gäßchen zu sitzen.“ Das hätte fast jeder Reisende damals schreiben können. Ganz anders der Ton der „Herzensergießungen“! „Nürnberg, du vormals weltberühmte Stadt! Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altväterlichen Häuser und Kirchen, denen die feste Spur unsrer alten vaterländischen Kunst eingedrückt ist! Wie innig lieb’ ich die Bildungen jener Zeit, die eine so derbe, kräftige und wahre Sprache führen!“
Das ist jener beseelte Klang, der weiterschwingt in dem Nürnbergbild der Romantiker: bei Ludwig Tieck, E. T. A. Hoffmann und dem Schwaben Justinus Kerner, bei dem Maler Ludwig Richter und — ein spätromantischer Ausklang — in den Alt-Nürnbergischen Geschichten „Norika“ (1829) des Dichters und Kunsthistorikers August Hagen. Nun wird Nürnberg gleichsam zum Symbol romantischer Begeisterung für die altdeutsche Zeit, nach der seit dem Sturm und Drang die Sehnsucht ging. In diesem Geiste Wackenroders wurde 1828 in Nürnberg Dürers dreihundertster Todestag als Fest der romantischen Künstler gefeiert, von dem uns die Lebenserinnerungen Ludwig Emil Grimms berichten, auch das eine späte Frucht der „Herzensergießungen“.
Es ist lehrreich, nach dem Umfang des tatsächlichen historischen Wissens und der Anschauung zu fragen, die Wackenroder für seine Aufgabe mitbrachte. Er hat die verherrlichte altdeutsche Zeit als Bildungserlebnis wohl am frühesten und gründlichsten im Schrifttum kennengelernt. Sein Lehrer war der Berliner Prediger Erduin Julius Koch, dessen Fleiß und Gelehrsamkeit wir ein erstes, noch heute unverächtliches bibliographisches Kompendium der deutschen Literatur verdanken. Durch dessen literargeschichtliche Vorlesungen angeregt, hat sich Wackenroder mit der älteren Dichtung beschäftigt, und noch in der Göttinger Zeit hat er für Koch gelesen und exzerpiert. So lernt er die schon im frühen 18. Jahrhundert von dem Schweizer Bodmer wiederentdeckten Minnesänger in der Manesseschen Handschrift kennen, die der allzeit betriebsame Tieck dann neu bearbeitete. Andere altdeutsche Dichtungen folgen, er liest Teile der Edda und den unvermeidlichen Ossian. Wir besitzen von Wackenroder das Bruchstück einer Studie über Hans Sachs, auch einen der Lieblinge des jungen Goethe, das uns den eindringlichen Ernst dieser Beschäftigung verrät. Alles das gehört in den Umkreis der Bestrebungen um die Neubelebung altdeutscher Dichtung, die im 18. Jahrhundert beginnen, in der Romantik von den Brüdern Schlegel und Tieck, Arnim, Brentano und Görres fortgesetzt werden und die dann schließlich bei den Brüdern Grimm, Ludwig Uhland, ihren Altersgenossen und Nachfolgern, zur spätromantischen Begründung der Wissenschaft vom Deutschtum, der Germanistik, führen. In dieser sogenannten Deutschen Bewegung hat auch Wackenroder seinen bescheidenen Platz.
Die Werke der bildenden Kunst, die der Dichter aus eigener Anschauung kannte, sind auch für die damalige Zeit an Zahl nicht eben groß. Von den bedeutenden Galerien seiner Zeit hat er Kassel und Dresden gesehen, hat die von Anton Ulrich von Braunschweig angelegten Sammlungen in dem Lustschloß Salzdahlum bei Hannover kennengelernt, die hauptsächlich Niederländer und späte Italiener enthielten, und am häufigsten besuchte er von Erlangen aus die im 18. Jahrhundert sehr angesehene Gemäldegalerie auf Schloß Weißenstein bei Pommersfelden im Fränkischen, in der ebenfalls Niederländer, italienische Spätrenaissance und Barock am stärksten vertreten waren. Von alledem wird in Briefen und Selbstzeugnissen nur Pommersfelden ausführlicher erwähnt, und wir wissen nicht, welche Wirkung etwa Dresden auf ihn ausübte, wo fast gleichzeitig mit Wackenroders Buch das Gemälde-Gespräch des Schlegel-Kreises entstand; So kannte er die Präraffaeliten und auch die deutsche Kunst vor Dürer so gut wie gar nicht, und auch seine beiden Lieblinge doch nur ungenau, zumal die Pommersfeldener Madonna, die ihn so entzückte, heute nicht mehr als Raffaels Werk gilt.
Diese geringen Kenntnisse sind vielleicht nicht nur auf den Mangel an Anschauungsmöglichkeiten zurückzuführen. Wackenroder ist überhaupt seinem Wesen nach kein Augenmensch, zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt wie Goethe oder Wilhelm Heinse oder auch nur wie Winckelmann. Er ist kein visueller Typ: stilistische oder formale Beobachtungen suchen wir in seinen Bildbetrachtungen vergebens, und zu der Entwicklung dieser Seite der werdenden Kunstwissenschaft konnte er nichts beitragen. Ihm kommt es, wie den meisten Romantikern, nicht auf Komposition und Stil, sondern ausschließlich auf Gehalt und Idee des Bildes an, ja, sein Kunsturteil ist zum guten Teil durch