Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Wilhelm Heinrich Wackenroder
mehr denn produktiver Künstler. „Soll ich sagen, daß er vielleicht mehr dazu geschaffen war, Kunst zu genießen als auszüben? — Sind diejenigen vielleicht glücklicher gebildet, in denen die Kunst still und heimlich wie ein verhüllter Genius arbeitet und sie in ihrem Handeln auf Erden nicht stört? Und muß der immer Begeisterte seine hohen Phantasien doch auch vielleicht als einen festen Einschlag kühn und stark in dieses irdische Leben einweben, wenn er ein echter Künstler sein will? — Ja, ist diese unbegreifliche Schöpfungskraft nicht etwa überhaupt ganz etwas anderes und — wie mir jetzt erscheint — etwas noch Wundervolleres, noch Göttlicheres, als die Kraft der Phantasie?“
Es ist Wackenroders persönlichstes Leid, das in diesen leisen Worten lebt. Auch ihm war die Gabe schöpferischer Gestaltung versagt, ein „passives Genie“, mit Jean Paul zu sprechen, eine weibliche Seele des Nachempfindens und Nacherlebens, beschränkt auf den Bereich reproduktiver Fähigkeiten, aber in diesen Grenzen sich sicher bewegend, eine Stimme von unüberhörbarer Eigenart und rührender Reinheit. —
Auch die musikalischen Aufsätze Wackenroders gehen also, ebenso wie die zur Kunst, ausschließlich auf das seelische Erlebnis aus, und hier wie dort fehlt eine kritische Betrachtung oder formale Analyse des Kunsttechnischen, wie sie später Hoffmann und erst recht Robert Schumann bringen. Die Musik als heilige Sprache des menschlichen Gefühls, Glanz, Schmerz und Süßigkeit ihres Genusses, dämonische Gefährdung des Künstlertums, Sündenfall in den Abgrund irdischer Seelenkämpfe und wehmütige Klage versagender Kraft — das ist der Inhalt dieser Seiten. Die Musikbetrachtungen sind noch entwirklichter als die Schriften zur Kunst. Während dort die Namen der großen Maler wie ferne Sternbilder den Umkreis liebender Verehrung bezeichnen, fehlt auch diese geschichtliche Bestimmtheit den musikalischen Schriften ganz. Nur im allgemeinen ist von der großen Kunst und ihren Erfordernissen die Rede. Weder Haydn, noch Mozart, noch Gluck werden genannt, von älteren Musikern zu schweigen, und an der bald einsetzenden Renaissance der Kunst des Johann Sebastian Bach, auf den doch Wackenroder durch seinen Lehrer Forkel hätte hingelenkt werden können und die 1829 in Felix Mendelssohns Aufführung der Matthäuspassion in der Berliner Singakademie gipfelte, hat er keinen Anteil.
Der Toleranzgedanke, der in den Schriften zur bildenden Kunst so hervortrat, gilt in etwa auch für die musikalischen Betrachtungen. Alle Arten und Gattungen der Tonkunst scheinen zunächst Berglinger gleichberechtigt, aber freilich ist ihm selbst die geistliche Musik durch die Würde ihres Gegenstandes die edelste und höchste, „so wie auch in den Künsten der Malerei und Poesie der heilige, gottgeweihte Bezirk dem Menschen in dieser Hinsicht der ehrwürdigste sein muß.“ Darum ist Berglingers letztes Werk eine Passionsmusik, in der er sein junges Leben verströmt und verzehrt wie der sterbende Mozart in seinem Requiem.
Neu und fruchtbar in die Zukunft weisend ist die hohe Wertung der absoluten Musik und ihrer höchsten Form, der Symphonie, die eben damals, durch die Mannheimer Schule vorbereitet, durch Haydn und Mozart ausgebildet und der großen deutschen Musik gewonnen, in Beethoven, dessen erste Symphonie 1799 entstand, ihren klassischromantischen Gipfel erreichte. Wackenroders Aufsatz „Das eigentümliche Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik“ sieht in der symphonischen Form die Erfüllung der eigentlichen Aufgabe der Musik, Künderin der Seele zu sein, „den letzten höchsten Triumph der Instrumente, . . . worin nicht eine einzelne Empfindung gezeichnet, sondern eine ganze Welt, ein ganzes Drama menschlicher Affekte ausgeströmt ist.“
Ganz persönlich und eigentümlich ist die sprachliche Form, in der dies Evangelium von der Heiligkeit der Kunst verkündet wird, gleich weit entfernt von der hymnischen Kraft in Winckelmanns Plastikschilderungen, von Wilhelm Heinses Glanz und sinnenhafter Unmittelbarkeit und von der besonnenen Klarheit des reifen Goethe. Sie fließt ganz aus den tiefsten Quellen und den innersten Kräften dieser reinen Gestalt und ist von einem zarten Enthusiasmus und einer sanften Glut, die stellenweise an den Wortschatz der alten Mystiker anklingt. Einfalt möchte man den Grundcharakter dieser Sprache nennen, geboren aus jener frommen Kindlichkeit, die auch das Wesen der behandelten Gegenstände ausmacht und also dem Stoff angemessen ist, eine schlichte Ursprünglichkeit, die ein wenig an Matthias Claudius oder an „Heinrich Shillings Jugend“ erinnert. Es ist ein Personalstil, erfüllt und erlebt wie weniges in unserem Schrifttum, ohne je zur Manier zu werden. Gerade die Zerbrechlichkeit der auszusagenden Dinge und die Zartheit der sprachlichen Mittel erhöhen diese Gefahr des Übersteigerns, der Claudius zu oft erlegen ist. Für Wackenroder bestand sie nicht: weil sein Gefühl rein und sein Erlebnis echt war, ist seine Sprache gewachsener Stil, notwendiger Ausdruck eines zugeordneten Gehalts.
Die Wirkung Wackenroders auf seine Zeit war groß und ist uns selbst von seinem erbittertsten Gegner Meyer bezeugt. Unmittelbarer Nachfahr und der erste Schüler, Erbe seiner Gedanken und Testamentsvollstrecker ist der Freund Ludwig Tieck. In seinen Beiträgen zu den „Herzensergießungen“ und den „Phantasien“ führt er die Themen Wackenroders nicht ohne Vergröberung und leise Verfremdung breiter und reicher aus, den heiligen Ernst des Gefühls in berechnete Wirkung verwandelnd. Vor allem der unvollendete Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ von 1798 ist eine Frucht dieses Bündnisses der beiden, die Erzählung von dem altdeutschen Malerjüngling, einem Schüler Dürers, der von Nürnberg auszieht, Lukas von Leyden besucht und von dort dem ersehnten Süden zuwandert. Es ist das romantische Kernthema, von bedeutsamen Kunstgesprächen durchwebt, poetische Gestaltung des unerfüllten Sehnsuchtstraumes der Freunde. Das nazarenische Ideyll des Eingangs ist noch ganz von Wackenroders Geist durchtränkt, während in der Folge die Darstellung mehr und mehr Tieckisch wird, von einer hastigen Sinnlichkeit, die von der freilich ungleich vitaleren Naturhaftigkeit Heinses beeinflußt scheint.
Wackenroders Idee einer religiösen Kunst ist im Grunde die der ganzen Romantik, um sie kreist Philipp Otto Runges Landschaftsmalerei ebenso wie die Caspar David Friedrichs. Im besonderen Sinne einer christlichkatholischen Kunst wird dieser Grundgedanke in Friedrich Schlegels Kunstschriften aufgenommen. Ihm war der Verfasser der „Herzensergießungen“, wie er dem Bruder schreibt, „der liebste aus dieser ganzen Kunstschule“, dem er „mehr Genie“ zutraut als Tieck. In beiden Nachfolgern, Tieck und Schlegel, geht Wackenroders Saat auf. Der Maler Ludwig Richter erzählt in seinen Lebenserinnerungen, daß die Schriften der drei, die ihm auf der Wanderung nach Rom 1823 in Innsbruck in die Hände fielen, seine Kunst stark bestimmten. Und ebenso ist die Wirkung Wackenroders auf den Begründer der bedeutendsten spätromantischen Sammlung altniederländischer Malerei, Sulpiz Boisserée, bezeugt, der auf dem Gebiet der Sammlertätigkeit die Gedanken des Klosterbruders zum guten Teil verwirklicht.
Eine gewichtige Gegnerschaft allerdings war kaum zu vermeiden: die Weimarer Kunstfreunde, die Stimme des Klassizismus also, die sich, fast gleichzeitig mit den „Herzensergießungen“, 1798 in Goethes Einleitung in die „Propyläen“ noch einmal grundsätzlich ausgesprochen hatte. Sie äußerte sich in manch unwirsch polterndem Wort Goethes und endlich in jenem vielberufenen Manifest von 1817 über „Neudeutsche, religiös-patriotische Kunst“, von Meyer verfaßt, von Goethe gebilligt, aber in der Stärke der Abwehr und dem späten Erscheinen mehr die Nachfahren als den Ursprung treffend, mehr die Goethe unbehaglichen Wirkungen als Wackenroders Gedanken bekämpfend.
Die Schärfe der Weimarer Gegenschrift war vor allem durch die sogenannten Nazarener bestimmt, jene Gruppe romantischer Maler, die sich um 1810 unter der Führung Friedrich Overbecks in Rom zusammenschlossen, um Wackenroders Idee einer aus dem Geiste christlicher Lebensführung erwachsenen Kunst zu verwirklichen. Es war, wie wir sahen, eine vielleicht dem Erlebnis süddeutscher Kultur entsprossene Entdeckung der „Herzensergießungen“, daß Leben, Kunst und Religion wesensmäßig und ursprünglich eins seien, daß die alten Künstler diese der Gegenwart verlorene Einheit noch besessen und aus ihr heraus ihre große Kunst geschaffen hätten. Die „Schilderung, wie die alten deutschen Künstler gelebt haben“ betont den religiösen Untergrund ihrer Kunst und Lebensführung. Diesen Geist christlichen Lebens als Voraussetzung des wahren Kunstwerks wollen die nazarenischen Maler erneuern, und sie knüpfen damit unmittelbar an Wackenroder an. Ihre malerischen Vorbilder aber sind jetzt nicht mehr ausschließlich Raffael und die italienische Hochrenaissance. Während der Klosterbruder ältere Maler nur flüchtig als offenbar angelesenes Bildungsgut genannt hatte, treten jetzt die Präraffaeliten stärker hervor. Wackenroder kannte fast nichts von dieser Frühkunst, aber auf den jungen Overbeck machten