Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Wilhelm Heinrich Wackenroder
auch insofern eine Frucht des süddeutschen Aufenthalts, als sie dies Erlebnis eines geschlossenen kulturellen Ganzen auf die Zeit und die Künstler der italienischen und deutschen Renaissance übertragen.
Endlich erscheint es merkwürdig, daß ein romantisches Herzthema so ganz in diesen Aufsätzen zurücktritt: die Landschaft, die bei den Malern Runge und Friedrich zum Ausdruck ihrer religiösen Gefühle wurde und die aus der romantischen Dichtung, Wissenschaft und Philosophie nicht wegzudenken ist. Wackenroder scheint, ähnlich wie etwa Hoffmann, kein tieferes Naturgefühl besessen zu haben, und erst in Tiecks Roman „Sternbald“ ist von einer symbolischen und religiösen Landschaftsmalerei die Rede.
Die zweite Macht, die das kleine Buch beschwört, ist die Musik. Wackenroder hat eine ziemlich gründliche musikalische Ausbildung genossen. Er wurde von Fasch, dem Begründer der Berliner Singakademie, unterrichtet und hat später auch bei Goethes Altersfreund Zelter Kompositionsstudien getrieben, er verkehrte zusammen mit Tieck in dem musikfrohen Hause des damaligen Berliner Opernkapellmeisters Johann Friedrich Reichardt, der als Liederkomponist namentlich Goethescher Texte bekannt wurde, er hat schließlich in Göttingen bei. dem dortigen akademischen Musikdirektor und Musikhistoriker Johann Nikolaus Forkel, dessen etwas späteres Buch über Johann Sebastian Bach (1802) auch ein Zeugnis romantischen Geistes ist, seine musikgeschichtlichen Kenntnisse erweitert. So darf er uns im alten, guten Sinne als Kenner und Liebhaber gelten.
Auch die Musikanschauung Wackenroders ist wie seine Auffassung der bildenden Kunst bestimmt durch eine antirationalistisch-gefühlshafte Einstellung, die, historisch gesehen, wieder im Gegensatz zu der überwiegend das Handwerkliche und Technische betreffenden Musikkritik vor 1800 steht. Stärker noch als in den Betrachtungen zur bildenden Kunst wird hier ein autobiographisches Element sichtbar. Das schmerzlich-süße Leben des Joseph Berglinger, sein Leiden an der Kunst und für die Kunst, sein zerstörender Zwiespalt und sein früher Tod, ist die Geschichte von Wackenroders eigener Seele und sein eigenes, erahntes Schicksal. Er hat wie sein Held unter dem Generationsgegensatz zum Vater gelitten, und Berglingers Urkonflikt zwischen heiliger Kunst und profaner Weltwirklichkeit ist der seine.
Dies ist der Ausgangspunkt für seine Musikanschauung: auch die Tonkunst ist göttliche Eingebung und heilige Sprache, die, rätselvoll und unerklärlich, das in Worten Unsagbare auszudrücken vermag. Nur sie ist unmittellbare Aussprache des Gefühls. Das menschliche Wort kann die Vorgänge in der Seele nur benennen und über sie reden: die Musik ist die Empfindung selbst, sie allein hat die Kraft, den Strom in den Tiefen des menschlichen Gemüts unmittelbar zu erfassen. „Die Sprache zählt und nennt und beschreibt seine Verwandlungen in fremdem Stoff; — die Tonkunst strömt uns ihn selber vor. Sie greift beherzt in die geheimnisvolle Harfe, schlagt in der dunkeln Welt bestimmte dunkle Wunderzeichen in bestimmter Folge an — und die Saiten unsers Herzens erklingen, und wir verstehen ihren Klang.“
Aber die Musik ist Wackenroder nicht nur Sprache der menschlichen Seele und ihrer Schmerzen und Freuden, sie ist zugleich Ursprache, Urlaut der Natur. „Alle tausendfältigen lieblichen Melodien, welche die mannigfaltigsten Regungen in uns hervorbringen, sind sie nicht aus dem einzigen, wundervollen Dreiklang entsprossen, den die Natur von Ewigkeit her gegründet hat?“ Von dieser Geistermusik der Natur hat auch E. T. A. Hoffmann oft gesprochen, es ist romantischer Glaube, und das musikalische Gegenstück zu Wackenroders Worten ist das Rheingold-Vorspiel des Spätromantikers Richard Wagner, wo alles Leben der Töne aus dem Urlaut des Wassers, dem wogenden Es-dur-Dreiklang des Eingangs, aufsteigt. Die Landschaft hat ihre eigene, geheimnisvolle Stimme, die der begnadete Mensch wecken und erlösen kann, und die Welt fängt an zu singen, wie Eichendorffs Verse es aussprechen, wenn er das Zauberwort kennt. Deutete doch die Romantik selbst die Töne der vom Menschen aus Holz oder Metall, den Stoffen der Natur, geschaffenen Instrumente so als Naturlaut, entbundene und erlöste Stimmen der Schöpfung.
Mehr noch als jeder andere Künstler ist für Wackenroder-Berglinger der Musiker ein von Gott Geheiligter und Berufener und seine Kunst Gottesdienst. Noch nie zuvor war das psychologische Problem des Künstlers so tief erfaßt worden wie in Wackenroders Musikaufsätzen: eine spezifisch romantische Fragestellung. Die überwältigende Wirkung der Tonkunst auf die Seele ist das Hauptthema, das Hören und innerliche Verarbeiten der Tonfluten, das Leben mit und in jener Musik, von der Berglinger sagt, daß sie ihn innerlich erschlaffe und verzehre — das gleiche Geständnis kehrt in Wackenroders Briefen an Tieck wieder —, aber auch, daß sie ihn von der Welt scheide und wie auf Flügeln zum Himmel erhebe. Von dieser überirdischen Macht erzählt das den „Phantasien“ eingefügte „Märchen von einem nackten Heiligen“, der, ein Spiegelbild romantischer Künstlertragik, auf Erden gequält und zerrissen wie Sankt Antonius in seinen Versuchungen, durch die Gewalt der Musik erlöst wird und zum Himmel auffährt.
Eben weil die Musik für Berglinger das Heiligste ist, wird der Widerspruch zwischen ihr und dem menschlichen Alltag sein schmerzlichstes Erlebnis: ein romantisches Thema auch dies, das nachmals von Hoffmann vertieft wurde. Denn Berglingers eigentliches Leid und immer wiederholte Klage ist die Roheit, Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit der Welt, die ihn umgibt — wir denken an Hoffmanns Kapellmeister Kreisler, der in greller Ironie einer Teegesellschaft von Elegants Bachs Goldbergvariationen spielt.
Beim Lob der Musik scheint Wackenroders Seele inniger mitzuschwingen und sich tiefer zu öffnen noch als sonst, so erfüllt und durchseelt seine Betrachtungen über Malerei sein mögen. Ein neues, tief problematisches Bild des Künstlers entsteht hier, das von dem seiner anderen Kunstschriften erstaunlich abweicht. Der Maler, so haben wir gesehen, war in den „Herzensergießungen“ der Gotterfüllte, der im schaffenden Spiegel seiner frommen Seele Welt und All abbildet und zum Kunstwerk verdichtet. Joseph Berglinger dagegen ist Gegenwartskünstler, das heißt: er ist der tief Fragwürdige, der in sich Gespaltene und Zerrissene, krank an der Seele, zerbrechlich und gefährdet, leidvolles Bild von des Dichters eigenem Herzen und zugleich beispielhafter Vertreter jener in sich versunkenen Ichsucht, unter der die Romantiker litten.
So tritt in der tragischen Biographie des Musikers Berglinger zum erstenmal in unserer Dichtung die dunkle und zerstörende Seite des Künstlertums hervor als eine fürchtbar-rätselvolle Macht, die den Menschen, begnadet und verdammt zugleich, schicksalhaft erhebt und zermalmt. Dieser junge Komponist ist nicht mehr der Gottgelassene, dessen vertrauende Seele dem mystischen Einfluß göttlicher Gnade offensteht. Er ist der moderne, sentimentalische Mensch, in dessen Brust zwei Seelen sind, wie das Bibelwort sagt, der „zwischen Himmel und Erde“ Taumelnde, schwermütiger Wanderer zwischen zwei Welten, deren ewig unvereinbarer Gegensatz ihn vernichtet. Noch will Berglingers Kunst nur Lob des Schöpfers sein, und sein letztes und höchstes Werk ist eine Musik zur Leidensgeschichte des Gottmenschen.
Aber auch die Tonkunst vermag die dunklen Gewalten, die aus dem eigenen Innern aufsteigen, nicht mehr zu bändigen. In „furchtbarer Willkür“ strebt sie abwärts zum Irdischen und singt statt Gott Unrast und Qual des Menschenherzens, die gefährdendste und vernichtendste, die menschlichste aller Künste. „Jene wahnsinnige Willkür, womit in der Seele des Menschen Freude und Schmerz, Natur und Erzwungenheit, Unschuld und Wildheit, Scherz und Schauder sich befreunden und oft plötzlich die Hände bieten: — welche Kunst führt auf ihrer Bühne jene Seelenmysterien mit so dunkler, geheimnisreicher ergreifender Bedeutsamkeit auf? Ja, jeden Augenblick schwankt unser Herz bei denselben Tönen, ob die tönende Seele kühn alle Eitelkeiten der Welt verachtet und mit edlem Stolz zum Himmel hinaufstrebt — oder ob sie alle Himmel und Götter verachtet und mit frechem Streben nur einer einzigen irdischen Seligkeit entgegendringt. Und eben diese frevelhafte Unschuld, diese furchtbare, orakelmäßig-zweideutige Dunkelheit, macht die Tonkunst recht eigentlich zu einer Gottheit für menschliche Herzen.“
Noch in einer letzten Hinsicht sind die Berglinger-Aufsätze Selbstbekenntnis und einsame Klage einer Seele, die von sich selbst sagt, sie sei wie eine Aeolsharfe, „in deren Saiten ein fremder, unbekannter Hauch weht und wechselnde Lüfte nach Gefallen herumwühlen.“ Es ist das schamvolle, nur angedeutete Leid der versagenden Schöpferkraft. Der kurze Abgesang nach Berglingers Tod spricht diese Erkenntnis aus. Wie ist es zu erklären, daß der Musiker sich in dem Zwiespalt von Kunst und Wirklichkeit verzehren und aufreiben mußte, daß er an der Welt, die ihn nicht verstand, zugrunde ging und nicht mit der „Unschuld“ und Unbeirrbarkeit eines Raffael, Dürer