Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Wilhelm Heinrich Wackenroder
als die ästhetische. Das ist eine grundsätzliche Gefahr aller dilettantischen Kunstbetrachtung, die eben damals August Wilhelm Schlegel an den kunstkritischen Schriften des Klassizisten Georg Forster scharfsichtig bemerkt hatte.
So kommt es, daß in den „Herzensergießungen“ und auch in den „Phantasien“ kaum je ein Bild wirklich beschrieben wird, und wo es ja einmal geschieht wie in der ausführlichen Schilderung der Pommersfelder Muttergottes in den Reisetagebüchern, da ist alle Angabe des sinnlichen Details der Herausarbeitung der Idee untergeordnet. Wichtiger fast als alle unmittelbare Anschauung ist für ihn die Anregung, die er aus Lehre und Büchern geschöpft hat, in Studien bei dem Göttinger Kunsthistoriker Johann David Fiorillo und aus den alten Quellenwerken zur Geschichte der Künste, die wir oben erwähnten.
Man darf also sagen, daß diese vielleicht bedeutsamste und folgenreichste Leistung frühromantischer Kunstbetrachtung weit mehr von der Idee als von der Erfahrung bestimmt war. Wackenroders Bild vom goldenen Zeitalter der altitalienischen und altdeutschen Malerei ist so wenig real — wir haben es oben angedeutet — wie Winckelmanns Griechentraum, mehr sehnsüchtiges Wunschbild als wirklichkeitsgesättigte Schilderung aus der Fülle der Anschauung.
Der Verzicht auf Beschreibung von Bildinhalt und technischen Einzelheiten ist nach alledem folgerichtig und fast selbstverständlich. „Ein schönes Bild oder Gemälde ist meinem Sinne nach eigentlich gar nicht zu beschreiben“, sagt der Klosterbruder, „denn in dem Augenblicke, da man mehr als ein einziges Wort darüber sagt, fliegt die Einbildung von der Tafel weg und gaukelt für sich allein in den Lüften. Drum haben die alten Chronikenschreiber der Kunst mich sehr weise gedünkt, wenn sie ein Gemälde bloß ein vortreffliches, ein unvergleichliches, ein über alles herrliches nennen; indem es mir unmöglich scheint, mehr davon zu sagen.“
Auch das ist eine Neuentdeckung nicht nur Wackenroders, sondern der ganzen Frühromantik und ihres unmittelbaren Vorgängers Karl Philipp Moritz. Es ist grundsätzlich unmöglich, das Wesentliche eines Werkes der bildenden Kunst in prosaischer Beschreibung wiederzugeben. Beschreiben läßt sich wohl die äußere Schale: Gegenstand, Inhalt und Behandlungsweise; aber der Kern, die Seele einer solchen lebendigen Einheit ist so nicht zu erfassen.
Eines der tiefsten Probleme der deutschen Romantik, ja des menschlichen Seins überhaupt, ist damit berührt: wie ist Mitteilung, Übermittlung, Übersetzung möglich? Diese Frage der Übersetzbarkeit in jedem Sinne: des Gedankens in das Wort und der Mitteilung des Gedankens oder Gefühls von Mensch zu Mensch, der Übersetzung von einer Sprache in die andere, von einer Kunst in die andere — sie ist den Romantikern zum erstenmal brennend und im eigentlichen Sinne frag-würdig geworden. In diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang steht das Problem der Beschreibung von Kunstwerken und der romantische Verzicht auf die Nacherzählung im prosaischen Wort. Ein Kunstwerk kann nur durch ein Kunstwerk wiedergegeben werden. Der in sich geschlossene Organismus eines Gemäldes, einer Statue, eines Gebäudes, ist nur „übersetzbar“ durch ein adäquates Gebilde der Wortkunst, durch den gleichgesetzlichen Organismus einer Dichtung, durch das kleinste und geschlossenste Sprachkunstwerk, durch das lyrische Gedicht. Von der prosaischen Gemäldebeschreibung des 18. Jahrhunderts — selbst Winckelmanns gehämmerte Plastikschilderungen werden ihr verdächtig — geht die Frühromantik zum Gemäldegedicht über, So ist es bei Wackenroder selbst, so bei A. W. Schlegel und der Unzahl späterer Nachfolger. Nicht zufällig wird das strengste und zuchtvollste lyrische Gebilde überhaupt, das Sonett, zur Lieblingsform dieser Art von Kunstdeutung. Die prosaische Beschreibung ist damit in den Kunstschriften der Romantik nicht zu Ende, aber doch in ihrer grundsätzlichen Bedeutung eingeschränkt.
Auch Wackenroder verzweifelt beim Anblick der Madonna zu Pommersfelden daran, die Fülle seines heißen Herzens in Worten auszudrücken: „zerreiße meine Worte, wer das Götterbild sehen kann, und zerschmelze in Wonne, wer es sieht.“ Die Gemäldegedichte der „Herzensergießungen“ verzichten auf alle dingliche Beschreibung und drücken nur in monologischer Rede, ähnlich den Spruchbändern der alten Gemälde, Seelenzustand und Gefühle der dargestellten Personen aus. Maria und das Jesuskind, der kleine Johannes und die Weisen aus dem Morgenlande sprechen in einfältiger Ergriffenheit von den Wundern ihres Herzens.
In diesem durch Anlage und Kunstwillen, Zeitgebundenheit und Lebensenge begrenzten geschichtlichen Raum bewegen sich Wackenroders Schriften. Es ist leicht, ihm nachzurechnen, was alles er nicht sah. Einseitigkeit und Teilblindheit ist ein fast notwendiges Merkmal des Genies, und oft erwachsen aus der Beschränkung die tiefsten Erkenntnisse und die stärksten Anregungen.
Daß er, im Gegensatz zur deutschen Klassik, kein Organ für die Plastik besaß, teilt er mit der ganzen Romantik. Er hat auch mit Ausnahme des einen, ganz undinglichen Aufsatzes über die nie erblickte Peterskirche in Rom keine Architektur beschrieben. Wenn die seit Goethes Erwin-Lobrede und Wilhelm Heinses Schilderungen lebendige, in der Romantik gipfelnde Gotik-Begeisterung in seinen Schriften keinen sichtbaren Ausdruck findet, so liegt das zum Teil darin begründet, daß er die großen deutschen Dome und erst recht die französischen Kathedralen nie gesehen hat und also nirgends aus lebendigem Eindruck schöpfen konnte. Vielleicht auch, daß ihm auf dem Gebiet der Baukunst Vorbildung und Anstoß von außen mehr als sonst fehlten. Die Berührung mit dem wenig älteren und ebenfalls ganz jung gestorbenen Architekten Friedrich Gilly, dem Entdecker der Marienburg, in dessen Werk sich wie bei seinem Schüler Schinkel klassische und romantische Elemente mischen und den Wackenroder mit hoher Begeisterung nennt, war wohl doch zu flüchtig, um nachhaltig zu wirken.
Erstaunlicher mag es dem nicht historisch Denkenden erscheinen, daß Wackenroder an einer anderen Kunst vorüberging, die er allerdings aus lebendigstem Erlebnis kannte: dem fränkischen Barock, der Kunst des süddeutschen Katholizismus. Wackenroder hat Bamberg und Bayreuth gesehen, das Schloß zu Pommersfelden mit dem auch damals berühmten Treppenhaus, das freilich auch seine Reisenotizen „herrlich“ nennen, und Kloster Banz bei Bamberg: das heißt vornehmlich Werke der Barockarchitektenfamilie Dientzenhofer, Er, der norddeutsche Protestant, hat auch die geistige Atmosphäre kennengelernt, in und aus der diese Bauten leben, das katholische Volksleben Süddeutschlands. In seinen Reiseberichten finden wir ausführliche Schilderungen dieser ihm so neuen und sichtlich fremden Welt, etwa der augensinnlichen Buntheit einer Prozession oder eines Hochamts im Bamberger Dom. Es ist müßig, nach katholisierenden Neigungen bei Wackenroder zu suchen oder gar mutmaßen zu wollen, ob er bei längerer Lebensdauer die Schar der romantischen Konvertiten vermehrt haben würde. Die unbefangene, schlichte Frömmigkeit des Klosterbruders ist nicht an konfessionelle Grenzen gebunden, und den „Brief eines jungen deutschen Malers in Rom an seinen Freund in Nürnberg“, eines Jünglings, der ähnlich wie Schillers Mortimer unter dem überwältigenden Eindruck der sinnlichen Pracht und Gewalt des katholischen Gottesdienstes zum Papsttum übertritt, hat wieder der beweglichere Tieck geschrieben. So reich die Anregungen im Frankenlande flossen: das Wesen der Barockarchitektur bleibt Wackenroder ebenso fremd wie die Denkmäler romanischer oder gotischer Plastik, die ihm in Bamberg oder Nürnberg begegnen. Gewissenhaft notieren die Tagebücher wie anderes so auch bautechnische Einzelheiten, aber es bleiben aufgezeichnete „Merkwürdigkeiten“ des Bildungsreisenden, die nicht zum seelischen Erlebnis anverwandelt werden, und der hymnische Ton, den wir aus den „Herzensergießungen“ kennen, klingt in den Selbstzeugnissen fast nur einmal auf, als der Dichter vor dem lieblichen Wunder der Madonna zu Pommersfelden steht, die seine Zeit noch dem geliebten Raffael zuschrieb.
Den Geschichtskundigen wird solches scheinbare Versagen nicht überraschen. Es ist die Blindheit einer ganzen Epoche, eine Tatsache von geistesgeschichtlicher Notwendigkeit. Die Entdeckung der Barockkunst ist ein viel jüngeres Ereignis. Erinnern wir uns, daß noch Jacob Burckhardt, dem niemand Mangel an anschauender Kraft vorwerfen wird, in ihr lange Zeit nichts zu sehen vermochte als einen verwilderten Dialekt der Renaissance. Erst in Burckhardts Spätzeit macht sich eine leise Umwertung bemerkbar, aber die volle kunst- und auch dichtungsgeschichtliche Würdigung — und nicht selten nun Überwertung — des Barocks ist erst eine Tat der letzten Jahrzehnte.
Daß diese süddeutsche, katholische Luft für den Dichter dennoch von größter Bedeutung war, hat Richard Benz gezeigt. Sie lehrte ihn das Verständnis für eine gewachsene und ursprüngliche Kultur, in der noch Leben, Kunst und Religion verschmolzen und eins waren und aus deren Mutterboden die Kunst mit allen Wurzeln Nahrung sog.