Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10. Inger Gammelgaard Madsen

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10 - Inger Gammelgaard Madsen


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Ann-Marie plötzlich die Scheidung und ihm Robin wegnehmen wollte. Glücklicherweise war das nicht zu befürchten.

      Es war eine Erleichterung, in die Abteilung zu kommen, wo seine Mitarbeiter schweigend in ihre Arbeit vertieft waren. Nach dem Vorfall im Stadtbus war viel zu tun. Wie es ausgesehen hätte, wenn tatsächlich die Rede von einem Terroranschlag gewesen wäre, wagte er nicht mal zu denken. Er beneidete die Polizei und Rechtsmediziner in Kopenhagen nicht, die dabei waren, die Toten zu identifizieren, was bei einer Explosion eine furchtbare Aufgabe war, bei der die Leichenteile zusammengestückelt werden mussten. In der Regel mussten bei Katastrophen alle Leichenteile über fünf Zentimeter oder mit besonderen Kennzeichen registriert, untersucht und, wenn nötig, einer DNA-Analyse unterzogen werden. Sie erstellten DNA-Profile aller Leichen und größerer Leichenteile, um sich einen Überblick zu verschaffen, von wie vielen verschiedenen Opfern die Rede war und welche Leichenteile zusammengehörten. Teile eines Kiefers mit Zähnen oder ein Finger mit identifizierbaren Fingerabdrücken konnten die notwendige Information liefern. Die Angehörigen mussten informiert werden oder vielleicht ihre DNA abgeben, damit die Rechtsmediziner feststellen konnten, ob eines der Opfer ein Familienmitglied war. Gleichzeitig wurde ermittelt, wer die Bombe gezündet hatte, ob eine Terrororganisation dahintersteckte und ob andere Terroristen involviert und vielleicht entkommen waren; in diesem Fall eilte es, sie zu finden, um einen neuen Anschlag zu verhindern. Das war auch eine der Aufgaben, die gerade für die Ostjütländische Polizei wichtig war. Neue Anschläge zu verhindern. Ungeachtet dessen, wie der Bus-Fall ausging, befand sich die Terrorgefahr auf ihrem Höhepunkt. Er war irritiert darüber gewesen, zu der Besprechung mit dem PET gehen zu müssen. Hatte das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben, musste nun aber zugeben, dass sie ihnen einiges mehr an die Hand gegeben hatte, mit dem sie arbeiten konnten. Es gab einen Namen. Saqr. Wie auch immer man den aussprach und was auch immer er bedeutete.

      „Kommst du mal einen Augenblick rein“, sagte er an Kim Ansager gewandt, als er auf dem Weg zu seinem eigenen Büro an dessen Tisch vorbeikam.

      Kim nickte, ohne aufzuschauen. Wie gewöhnlich den Blick auf den Computerbildschirm gerichtet. Er war der Experte für Datenbanken, Analysen und Internet, insbesondere die sozialen Medien.

      „Mach die Tür zu“, sagte er, als Kim eintrat, nachdem er selbst gerade in dem kalten Leder des Bürostuhls Platz genommen hatte. Er holte seine Notizen von der Besprechung hervor und legte sie vor sich auf den Tisch.

      „Kam bei der Besprechung mit dem PET etwas Vernünftiges heraus?“, fragte Kim und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Er suchte immer das Gespräch, als ob er sich für alles engagieren wollte oder Stille einfach nicht mochte, jedenfalls, wenn er nicht am Computer saß.

      „Es war eine vertrauliche Besprechung, aber es kam etwas dabei heraus, womit wir weitermachen können.“

      Er schrieb den Namen auf und reichte Kim den Zettel.

      „Saqr? Ist das der Name einer Person?“, fragte er und sah seinen Chef durch die Brillengläser an, die das Sonnenlicht vom Fenster reflektierten.

      „Wir wissen es nicht. Ich möchte dich bitten, das herauszufinden. Der Name kann mit dem Terroranschlag in Kopenhagen in Verbindung stehen und wir müssen auch untersuchen, ob es eine Beziehung zu dem getöteten Busfahrer gibt. Aber ob Saqr eine Person, eine Terrorzelle oder etwas ganz anderes ist, wissen wir nicht.“

      „Aber sollte dann nicht der PET …“

      „Doch, doch, aber es schadet ja nichts, wenn wir uns die Sache ebenfalls anschauen. Die haben sicher auch genug mit dem Terroranschlag in Kopenhagen zu tun. Vielleicht ist Saqr ein Name, der in den sozialen Medien benutzt wird.“

      Kim blinzelte ein paarmal. „Dann fange ich da an.“

      „Gut.“ Anker Dahl schenkte ihm ein kurzes Lächeln. „Sag den anderen Bescheid, dass wir eine Besprechung abhalten. Ich will über alles informiert werden, was bei den Zeugenvernehmungen herausgekommen ist. Gibt es schon eine Rückmeldung aus der Rechtsmedizin wegen des Fahrers?“

      Kim nickte und erhob sich wieder, als er realisierte, dass es kein längerer Besuch im Büro des Chefs werden würde. „Ja, aber der Bericht wurde an den DUP weitergeleitet.“

      Anker Dahl biss die Zähne zusammen. Natürlich musste der Fall des Beamten untersucht werden, bevor die Polizei mit ihrer Ermittlung weiterkommen konnte. Nicht nur der PET mischte sich ein. Es hatte ihn überrascht, Roland Benito bei der Besprechung zu sehen. Er hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet Benito Viktor Enevoldsens bester Mann wäre.

      „Sonst noch was?“, unterbrach Kim Ansagers etwas mädchenhafte Stimme seine Gedanken.

      „Nein, alles weitere bei der Besprechung.“ Er schaute auf seine Uhr. „In zehn Minuten.“

      Kim Ansager schlug scherzhaft die Hacken zusammen, wie ein Offizier in der Armee, und grinste schelmisch. Er musste wissen, dass diese Art Witz an seinem Chef abprallte, der ihn stattdessen irritiert ansah. Hätte er auch salutiert, hätte Anker Dahl es als Beleidigung aufgefasst, doch Kim spürte die Stimmung, drehte sich um und ging zurück ins Nachbarbüro.

      Zehn Minuten später saßen sie alle mit ihren Kaffeetassen vor Anker Dahl an dem kleinen, runden Konferenztisch. Yazmin tippte mit den Nägeln gegen ihren Becher. Es sah nicht aus, als ob sie selbst bemerkte, dass es das einzige Geräusch in Anker Dahls Büro war. Sie starrte auf die Bilder des getöteten Busfahrers an der Tafel. Anker Dahl dachte, dass der Mann sympathisch aussah. Sie hatten das Foto in seinem Portemonnaie gefunden. Abdul-Jabaar hatte ein freundliches, rundes Gesicht. Nur wenn man näher heranging, meinte er, einen Funken Hass in seinen schwarzen Augen zu erahnen. Er schwelte in ihnen, aber wer wusste, wogegen der Hass gerichtet war? Wer hatte das Foto gemacht? Eindeutig jemand aus seinem Heimatland. Das Bild zeigte einen etwas jüngeren Mann als den, der in der eiskalten Leichenhalle der Rechtsmedizin lag. Er war vor einem gelben, alten Mauerwerk und der Hälfte eines Schildes mit arabisch aussehenden Zeichen fotografiert worden. Anker Dahl hatte herausgefunden, dass es beim Eingang zum Khyber Pass bei Peshawar aufgenommen worden war, der Hauptstadt in der Khyber Pakhtunkhwa-Provinz in Pakistan.

      Er erhob sich von seinem Stuhl, um sich auf die Ecke seines Schreibtisches zu setzen. Er beobachtete Yazmin.

      „Kanntest du ihn?“, fragte er.

      Sie kehrte in die Gegenwart zurück, hörte mit dem Trommeln gegen den Becher auf und richtete ihren dunklen, überraschten Blick auf ihn. Schüttelte den Kopf. „Nein, warum sollte ich?“

      „Vielleicht aus deinem Bekanntenkreis?“

      „Ich kenne ihn nicht. Er kommt ja auch aus einem anderen Stadtteil als ich. Außerdem ist er Pakistaner“, unterstrich sie, als ob das jegliche Bekanntschaft ausschloss.

      „Und du, Hafid? Kanntest du ihn?“

      Hafid Ahmed sah ihn beinahe beleidigt an mit genauso dunklen Augen wie Yazmins. Seine Mutter war Dänin, sein Vater Marokkaner. Anker Dahl war stolz, zwei der sonst wenigen Beamten mit Migrationshintergrund in seiner Abteilung zu haben. Das passte zu seinem Ziel einer Polizei der Zukunft, obwohl er sich damit abfinden musste, dass sie ab und zu den Dienst verließen, um in den Gebetsraum zu gehen, der für sie im Polizeipräsidium eingerichtet worden war, um muslimischen Mitarbeitern entgegenzukommen. Er wusste, dass sie es nicht leicht hatten. Es war nicht von allen in ihrem Umfeld gern gesehen, dass sie für die Polizei arbeiteten, die in ihren Herkunftsländern oft der Feind war. Auch die Dänen akzeptierten sie nicht immer. Einige baten um einen weißen Beamten anstelle eines Fremden. Es bedeutete nichts, dass sie schon so lange in Dänemark wohnten, dass sie sich mit Recht Dänen nennen konnten. Jetzt mussten sie auch für die extremistischen Handlungen anderer Muslime büßen, da heutzutage viel zu viele alle über einen Kamm schoren. War man dunkelhäutig, war man Moslem, und wenn man Moslem war, war man Terrorist. In den letzten Jahren hatte sich die Tendenz verschlechtert. Die europaweiten Terroranschläge machten es nicht besser, aber das hinderte ihn nicht daran, weiter daran zu arbeiten, dass Beamte mit einer anderen ethnischen Herkunft als dänisch den gleichen Anteil im Polizeikorps ausmachen sollten wie in der Bevölkerung.

      „Nein, ich kenne ihn auch nicht“, antwortete Hafid.


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