Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10. Inger Gammelgaard Madsen

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10 - Inger Gammelgaard Madsen


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Bürstenschnitt, saß. Wie Karen trug sie ein Sweatshirt mit dem „Missing Children Denmark“-Logo auf dem Rücken.

      „Emil wurde draußen zum Schlafen hingelegt, als die Familie von der Kirche kam. Jemand hat wohl vergessen, das Tor zu schließen, sodass es freien Zugang zum Garten gab“, teilte sie Anne mit.

      „Wir waren nicht aufmerksam genug!“, ertönte es zornig vom Fenster. Der Mann drehte sich um. Sein Gesicht wirkte älter, als Anne aufgrund der Frisur vermutet hatte. Oder vielleicht ließen auch die Umstände es so alt aussehen.

      „Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, wie ich bereits sagte. Sie haben nichts falsch gemacht, sondern diejenigen, die auf die Idee kommen, ein Baby zu entführen“, sagte Karen mit sanfter Pädagogenstimme.

      Der Mann kam eilig an den Tisch. Trotz seiner Machtlosigkeit wirkte er beinahe drohend.

      „Ja, das sagen Sie! Aber wie habt ihr euch denn vorgestellt, ihn zu finden? Woher wisst ihr, wie Emil denkt? Und was bringt das? Er ist ja verdammt noch mal nicht selbst gelaufen, oder?“

      „Nein, natürlich wissen wir nicht, wie Emil denkt, das ist klar. Bei größeren Kindern, die von zu Hause weggelaufen sind, ist das selbstverständlich leichter, aber es ist nicht so einfach, mit einem Kinderwagen zu verschwinden. Wir werden ihn schon finden.“

      „Peder, jetzt sei nicht so unhöflich. Sie wollen doch nur helfen“, bat seine Frau ebenso verzweifelt und streckte eine zitternde Hand nach ihm aus. Er nahm sie und setzte sich neben sie.

      „Entschuldigung, Tara, aber …“ Er schüttelte vor Hoffnungslosigkeit den Kopf.

      Flash war startklar mit der Kamera und Anne setzte sich neben Karen. Zum ersten Mal sah sie der Mutter des Babys in die Augen. Sie schauten sie betrübt und flehend an. „Was können Sie im Fernsehen senden, das unseren kleinen Emil wieder zu uns nach Hause bringt?“, fragte sie, und es war deutlich zu sehen, dass sie sich gewaltig zusammenriss, um nicht wieder zu weinen.

      Karen ergriff sofort das Wort: „Es gibt jetzt mehrere Möglichkeiten. Wir können an den Entführer appellieren, indem wir zeigen, dass Emil ein geliebter und vermisster kleiner Junge ist. Vielleicht können Sie als Eltern direkt zu dem Entführer sprechen und ihn darum bitten, dass Sie Ihren Sohn zurückbekommen.“

      „Wirkt das nicht ein bisschen amerikanisch?“, fragte Peder skeptisch. „Wurden entführte Kinder je auf dieser Grundlage wieder zurückgebracht? Also außer in amerikanischen Filmen.“

      Karen nickte überzeugt. „Es gibt mehrere Fälle. Zum Beispiel wurde mal ein Auto von einem Parkplatz gestohlen, wo der Dieb nicht wusste, dass ein Kind in einer Babyschale auf dem Rücksitz lag. Das Kind wurde zurückgebracht.“ Sie suchte nach weiteren Beispielen, aber offenbar fielen ihr gerade keine ein.

      „Kann sein, dass der Dieb es nur auf den Kinderwagen abgesehen hat. Der war ja ganz neu, sagten Sie“, half die Frau mittleren Alters aus. „Vielleicht haben die gedacht, er sei leer, und wenn sie merken, dass ein kleines Kind drinliegt, kommen sie mit ihm zurück. Oder vielleicht finden wir Emil und den Kinderwagen irgendwo zurückgelassen …“

      „Zurückgelassen …“, wiederholte Peder mit einem Ausdruck, als ob das Wort widerlich schmeckte.

      „Sidse hat recht, das könnte sein“, pflichtete Karen bei.

      „Hat die Polizei das andere entführte Baby gefunden?“, fragte Tara und wischte sich die Augen mit einer hellblauen Bärchen-Serviette trocken. Sie schaute wieder zu Anne.

      Die schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Soviel wir wissen gibt es nichts Neues.“

      „Kann es der gleiche Entführer sein?“, fragte Peder ängstlich. „Was will diese perverse Person mit unseren Kindern?“

      „Sind Sie auch an diesem Fall dran?“, erkundigte Anne sich an die beiden von Missing Children gewandt.

      Karen schüttelte den Kopf. „Die Familie hat unsere Hilfe nicht gewünscht, und dann greifen wir selbstverständlich nicht ein.“

      „Das war sicher der Vater“, murmelte Sidse und sah entschuldigend zu Peder, in dessen Augen wieder der Zorn aufloderte, als ob er glaubte, sie meinte, dass das wohl auch ihm galt. Er sah aus, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen.

      Flash räusperte sich wieder. Er schaute auf die Uhr. Es war der Tag in der Woche, an dem er seine Kinder abholen sollte, erinnerte Anne sich, daher wurde er sicher allmählich ungeduldig.

      „Ist es in Ordnung, wenn wir den Tisch filmen? Und wer von Ihnen möchte der Kamera erzählen, was passiert ist?“ Anne schaute von Tara zu Peder, aber beide schüttelten den Kopf.

      Karen erhob sich bereitwillig. „Sie können mich interviewen. Es ist doch wohl okay, wenn Sie im Hintergrund am Tisch sitzen, oder?“

      Die Eltern nickten.

      „Die große Schwester soll auch ins Bild. Können Sie sie auf den Schoß nehmen?“

      Die Großmutter hob das Mädchen, das gerade auf dem Boden mit einem der Ballons spielte, hoch und setzte es auf den Schoß seiner Mutter.

      Anne nickte zufrieden. Sonst bestimmte sie normalerweise den Inhalt ihrer Beiträge und der Kameramann organisierte die Motive, doch Karen agierte sehr bestimmt und wusste sicher, was in so einer Situation wirkte. Jetzt ging es darum, Kontakt zum Zuschauer – oder dem Entführer – zu bekommen, und sie wirkte auch professionell, als sie sich vor der Kamera aufstellte und von der Taufe erzählte, die jäh abgebrochen worden war, als jemand entdeckte, dass der Kinderwagen mit dem Täufling aus dem Garten verschwunden war.

      „Wir von Missing Children haben die erste Runde im Viertel übernommen und nach Spuren gesucht, später erweitern wir den Radius.“

      „Falls der Entführer im Auto geflohen ist, gibt es doch nicht viel zu finden, oder?“, fragte Anne.

      „In dem Fall können immer noch Spuren hinterlassen worden sein, die vielleicht zeigen, wo das Auto geparkt war und vielleicht hat irgendwo eine Überwachungskameraetwas Brauchbares eingefangen, sodass wir davon ausgehend leichter Zeugen finden.“

      Anne nickte und war dankbar, dass sie selbst nicht mit im Bild war, damit die Leute ihre Skepsis nicht sahen. In diesem Viertel gab es sicher nicht viele Überwachungskameras und auch keine Tankstellen, Banken oder Supermärkte in der Nähe. Als sie fertig waren, dankte sie der betroffenen Familie und gab ihnen die Hand. Der Händedruck der Mutter war schlaff und kraftlos, aber sie zwang sich zu einem Lächeln, als Anne sie damit aufmunterte, dass die Sendung bestimmt einige dazu bringen würde, sich zu melden, wenn sie etwas gesehen hatten. Die Großmutter hatte ihre Enkelin wieder auf dem Arm und drückte das Mädchen fest an sich.

      „Wenn Sie Lust haben, können Sie heute Abend mit suchen. Dann können Sie sehen, was wir machen“, bot Karen an, als Anne sich auf der Treppe von ihr verabschiedete.

      Anne nickte eifrig. Das wollte sie sehr gerne.

      Kapitel 5

      Die weitere Meldung über ein vermisstes Baby war in der Notrufzentrale eingegangen. Außer der drei Monate alten Josefine Nørregaard war nun auch der gleichaltrige Emil Sønderskov verschwunden.

      Anker Dahl musste sich einen Weg durch den Haufen Freiwilliger von der Organisation Missing Children bahnen, die den Eingang zum Polizeipräsidium blockierten. Sie sollten Bericht erstatten, wenn sie etwas fanden. Er hatte nichts gegen solche freiwilligen Organisationen, trotzdem war es irritierend, dass Amateure Ermittler spielten, und einige von ihnen waren zweifelsohne der Meinung, dass sie besser als die Polizei waren. Freundlich, aber bestimmt schob er einen von ihnen, der den Aufzug blockierte, zur Seite und eilte hinein, sobald die Tür aufglitt.

      Er war dankbar, dass der Fall der verschwundenen Babys nicht zu seiner Abteilung gehörte. Anscheinend hatte der Vater eines der Kinder entführt und irgendwann verriet er sicher, wo er es versteckte. Solche elterlichen Streitigkeiten um das Sorgerecht in Scheidungsfällen waren immer häufiger geworden und in der Regel gingen sie gut aus – für einen der Partner


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