Deutschland und die Migration. Maria Alexopoulou

Deutschland und die Migration - Maria Alexopoulou


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Und man lieh sie einander quasi wie Gerätschaften aus: So durfte das städtische Straßenbahnamt im Januar und im Juni 1944 vom Hochbauamt »im Lager Adolf-Hitler-Gymnasium/Pestalozzischule sofort 45 Polen, darunter 5 Frauen [sic]« bzw. in der R2-Schule »sofort 30 Polen Frauen [sic] abholen«. Auf einem Handzettel vom September 1944 hieß es: »Auf Veranlassung des Herrn Schäfer vom Arbeitsamt Mannheim ist der Überbringer dieses beauftragt, 20 Mann ostpolnische Kriegsgefangene abzuholen.«26

      Selbstverständlich ist die Geschichte der Zwangsarbeit im »Dritten Reich« kaum in ein kurzes Unterkapitel zu pressen. Und auch die zahllosen Biographien der Zwangsarbeiter*innen lassen sich auf so engem Raum kaum adäquat abbilden. Das Selbstzeugnis einer einzelnen Mannheimerin, Toni U., einer Russin, die als junge Frau von den Deutschen verschleppt wurde und die später einen ihrer deutschen Wächter heiratete, soll stellvertretend für viele Schicksale stehen. Ihre Erinnerungen, die Toni U. 1983 für den Mannheimer Soziologen Stanislaus Stepień offenbar selbst abtippte, geben dennoch einen guten Einblick in das, was es hieß, zu jener Zeit Ausländer in Deutschland zu sein, und zwar auf einer der untersten Hierarchiestufen: als »Ostarbeiterin«. Das Folgende, das als Abschluss des vorliegenden Kapitels dienen soll, ist den Assoziationen und Sprüngen in ihrem Bericht getreu nacherzählt.

      Toni U. lebte in Staraja Russa (hier »Stare Rusa«), wo sie auch zwangsrekrutiert wurde. Bei ihr sei das »noch human« abgelaufen, ihre Schwester hingegen wurde »einfach von der Straße abgeschleppt«. Eine andere Taktik der »Anwerbung«, von der sie gehörte hatte, bestand darin, dass die Deutschen mit Plakaten ankündigten, dass in der Kirche ein Film für junge Frauen ab 15 Jahren gezeigt werde. Dort wurden die Frauen dann eingesperrt und ohne Warnung in Lastwagen verladen. Die meisten hatten etwas Deutsch in der Schule gelernt.

      Ihre erste Station war eine nahegelegene Stadt, die bereits zerstört war. Dort wurden sie und andere Frauen ins Gefängnis gesteckt und mussten fünf Tage hungernd warten, bevor sie in einem Viehwaggon, in dem sich so viele Menschen befanden, »wie hineingegangen sind«, nach Stuttgart transportiert wurden. Sie bekamen erst nach zwei Tagen vom Roten Kreuz in einem Wald etwas zu essen. Es war Juni und heiß, die Waggons waren nicht einmal vom vorherigen Transport gesäubert worden. Sie kamen dann in ein Lager in Bietigheim, das Essen war ungenießbar und zu wenig. Die Menschen seien gestorben »wie die Fliegen: Typhus«, berichtete Toni U. Auch ihre Tante, die dabei war, starb schließlich daran.

      Die Frauen wurden auf einen Viehmarkt gebracht, woraufhin Bauern und Firmenvertreter kamen, die sich Arbeiterinnen aussuchten. Die Kräftigen wurden von Bauern mitgenommen – sie schubsten die Frauen zu Boden, um zu testen, wie kräftig sie waren. Toni U. kam mit 80 weiteren Frauen zu den Motorenwerken Mannheim (MWM), und zwar am 25. Juni 1943. Zunächst wurden alle Frauen in einem kleinen Raum untergebracht, später wurden für sie zwei bis drei Baracken errichtet. Sie bekamen einen Arbeitsanzug und Holzschuhe. »Ach wie habe ich mich geniert! Holzschuhe!«, erinnerte sich Toni U.

      Die Arbeitszeit betrug zwölf Stunden, es war schmutzige Arbeit bei schlechtem Essen, wie es auch die Kriegsgefangenen bekamen. Es seien noch Polen, Italiener und Franzosen dort gewesen. Letztere zwei Gruppen hätten es »vergleichsweise schön« gehabt, da sie Pakete vom Roten Kreuz erhalten hätten. Auch die Frauen aus Frankreich und Italien bekamen mehr zu essen und mussten nur acht Stunden arbeiten; einige polnische Mädchen waren erst 13 Jahre alt.

      Die Arbeiter*innen wurden mehrmals ausgebombt, zum Schluss wohnten sie in einer Wirtschaft in der Neckarstadt. Das Essen war ein großes Problem. »In der ersten Zeit habe ich immer geweint, wenn Pause war und die Deutschen ihr Vesper ausgepackt haben und zwischendurch gegessen haben. Ich konnte nicht hingucken …«, erzählte Toni U.

      Die ersten sechs Monate durften die Arbeiter*innen Betrieb und Lager gar nicht verlassen; später schon, aber sie durften keine Straßenbahn fahren, durften nicht ins Kino, durften nichts einkaufen. »Wir trugen ja ein Abzeichen.« Als »Ostarbeiterin« bekam Toni U. wie alle anderen Russinnen keine Strümpfe, sie war immer barfuß und besaß nur noch ein einziges Kleid, nachdem sie ausgebombt worden waren und ihre restliche Kleidung zerstört worden war.

      Mit den Deutschen durften sie nicht reden, das war streng verboten. Wenn man erwischt wurde, gab es Schläge, aber nicht für die Deutschen.

      Dabei arbeiteten wir Seite an Seite mit den Deutschen, es gab keine räumliche Trennung. Die gleiche Arbeit wie die Deutschen, bloß kaum Geld. Für Geld konnte man sich eh nichts kaufen, weil wir ja keine Marken hatten.

      Trotzdem versuchte Toni U. einmal, ins Kino zu gehen. Die Karte bekam sie, aber die Kontrolleurin bemerkte es:

      »Bitte abgehen! Sie dürfen hier nicht hinein!« Das war schlimmer für mich, als von jemand geschlagen werden. Die haben uns an der Kleidung erkannt, so armselig angezogen, wie wir waren!

      Das Lager bei MWM sei klein gewesen, das von Benz nicht, und dort ging es den »Fremdarbeitern«, wie Toni U. sie nennt, auch besser. Die Frauen, die dort arbeiteten, waren besser angezogen; ebenso bei der französischen Firma Huchinson.

      Sie verliebte sich in einen deutschen Wachsoldaten, den sie später heiratete und mit dem sie in Mannheim lebte. Sie arbeitete nach dem Krieg sogar wieder bei MWM, mit denselben deutschen Kollegen wie zuvor.

      Manche deutsche Arbeitskollegen waren böse, oh ja. Wenn man an einem Spiegel vorbeigegangen ist und hat ein wenig hineingeschaut, schon haben sie einem Tritte gegeben. Die haben uns so gehaßt – und wie die Amerikaner gekommen sind, dann sind sie die ersten gewesen, die mit Amerikanern gegangen sind. Und vorher solche Rassisten!

      Ein, zwei deutsche Kolleginnen hatten ihr mal ein Stückchen Brot gegeben, was auch für sie gefährlich war. Ein anderer deutscher Kollege, der nicht einmal Aufseher war, schlug mit einem Gummiknüppel die Ausländer, wenn sie etwas falsch machten.

      So viele böse Leute! Und nach dem Krieg, als ich wieder zu arbeiten begann in den Motorenwerken, waren alle auf einmal so gut. Da habe ich gesagt: ›Seien Sie so gut und machen Sie den Mund zu!‹ Es gab da einen, auf den hatte ich eine solche Wut, jahrelang habe ich ihn nicht gegrüßt. Nach der Befreiung haben Russen auch tatsächlich einen Nazi totgeschlagen. Das war ein brutaler Mensch, der während des Krieges zwei oder drei gefangene Arbeiter auf dem Werkgelände totgeschlagen hatte.

      Auch er war kein Wächter, sondern ein überzeugter Nazi, der unter den Kolleg*innen für »Ordnung« sorgte. In den letzten Wochen des Krieges wurden sie noch mit den wertvollen Maschinen in ein Salzbergwerk »evakuiert«, da gab es auch ein KZ – sie sahen die KZ-Insassen, denen es viel schlechter als ihnen ging, mit denen sie wiederum nicht reden und denen sie auch nichts zu essen abgeben durften. Ihr späterer Mann kam schließlich auf eigene Faust auch ins Bergwerk. Sie vergruben seine Uniform, die anderen russischen Frauen besorgten ihm Zivilkleidung, und sie bat ihn: »Sei anständig zu den Frauen.«27

      Die ersten Ausländer der Bundesrepublik

      Die ersten Ausländer der Bundesrepublik waren (anders, als es im historischen Bewusstsein verankert ist) nicht die ›Gastarbeiter‹ aus Italien, die seit dem vermeintlich ersten Anwerbeabkommen zwischen den beiden Ländern 1955 zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Die ersten Ausländer der Bundesrepublik waren die »heimatlosen Ausländer«, die in ihrer Mehrheit Zwangsarbeiter*innen und in der direkten Nachkriegszeit Displaced Persons (DPs) gewesen waren.

      Liegt es an ihrer geringen Zahl, dass sie in Vergessenheit gerieten? Sicherlich bildeten die ca. 200 000 »heimatlosen Ausländer«, die dauerhaft in Deutschland blieben, eine sehr kleine Minderheit unter den zwölf Millionen Menschen, die von den Alliierten nach der Befreiung den Status der Displaced Persons (DPs) zuerkannt bekommen hatten und deren Löwenanteil Deutschland verließ. Größtenteils waren sie bereits Ausländer im »Dritten Reich« gewesen und damit eine Gruppe, die die beiden scheinbar nur lose zusammenhängenden Migrationsgeschichten Deutschlands vor und nach 1945 historiographisch sehr konkret miteinander verbindet. Folglich kommt den »heimatlosen Ausländern« für die Zeit zwischen 1945 und 1955 – dem Jahr, das gemeinhin als Beginn der neueren deutschen Migrationsgeschichte gilt – eine Scharnierfunktion zu, die nicht einfach ignoriert werden kann.

      Denn der genaue Blick auf diese Zeit zeigt in fast


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