Evolution ohne uns. Jay Tuck
Ein modernes Bildungssystem muss sich als Wegweiser durch die Datenmassen verstehen.
In ihrer Geschichte haben es die Menschen immer verstanden, Maschinen für die schweren Aufgaben einzusetzen – um die komfortable Reisekutsche durch die Gegend zu ziehen oder den schweren Dachbalken beim Bau zu heben. Mit den raffinierteren Erfindungen von heute können wir Milliarden Lichtjahre ins Weltall oder tief in die Bruchteile einer atomaren Mikrowelt schauen.
Big Data rollt heute wie ein Tsunami auf uns zu. Die Datenmenge wächst exponentiell. Künstliche Intelligenz wird helfen, sie zu bewältigen. Täglich wird sie unabhängiger und unübersichtlicher. Sie ist autark. Sie entwickelt sich ohne uns immer weiter. Mit rasender Geschwindigkeit.
Wir sind nicht nur zu doof, um sie zu begreifen.
Wir sind zu langsam.
Beim Lesen der folgenden Kapitel bedenken Sie bitte, dass wir erst am Anfang dieser umwälzenden Entwicklung stehen. In den folgenden Kapiteln werden nur die ersten Babyschritte von Künstlicher Intelligenz beschrieben. Technologie entwickelt sich schnell.
Und wird immer schneller.
Als Johannes Gutenberg die Druckerpresse im Jahr 1440 erfand, hatte die Gesellschaft Hunderte von Jahren Zeit, um die Folgen der Massenmedien zu begreifen. Als James Watt die Dampfmaschine im Jahr 1769 erfand, dauerte es gut 80 Jahre, bis Textilarbeiter begriffen, dass ihre Arbeitsplätze dadurch gefährdet waren.
Bis 50 Millionen Anwender erreicht wurden, dauerte es beim Automobil 62 Jahre, beim Handy 12 Jahre, bei Pokémon Go ganze 19 Tage. Die Gesellschaft hat immer weniger Zeit, Neuentwicklungen zu verdauen, Konsequenzen zu erkennen und Regelungen – soweit erforderlich – zu beschließen.
Stein um Stein kreieren wir die Bauteile eines neuen Wesens. Auf den Servern von Big Data ist ein Gedächtnis entstanden, so groß wie das menschliche Wissen. Mit der internationalen Vernetzung von Überwachungskameras haben wir Augen kreiert, die alles sehen. Armbanduhren und Automobile, Barbiepuppen und Baumaschinen, Smartphones und Sensoren lassen wir mit Künstlicher Intelligenz genauso ausstatten wie die Smartwaffen der Supermächte.
Die Künstliche Intelligenz, die diese Systeme steuert, ist stark, autark und noch aufgeteilt in viele kleine Systeme. Heute sind sie einzelne Inseln. Sie wachsen aber täglich enger zusammen. Die Keime von Künstlicher Intelligenz werden wie Quecksilbertropfen zueinanderfinden. Die KI wird eine Superintelligenz bilden, die unserer um ein Tausendfaches überlegen ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir heute erst am Anfang dieses Zeitalters stehen.
Wir haben wenig Spielraum, diese Entwicklung in den Griff zu bekommen. Die größten Denker von Silicon Valley sind überzeugt: Die Menschheit befindet sich in einem Endspiel.
„Künstliche Intelligenz ist die größte existenzielle Bedrohung für die Menschheit. Wir beschwören den Teufel.“
Elon Musk, Tesla
Heute erleichtert die Künstliche Intelligenz unser Leben. Lernfähige Software, die eigene Updates schreibt, existiert im Ansatz schon in Autos und Armbanduhren, in der Pharmaforschung und im Versicherungswesen, in Smart Homes und Smart Cities. Sie fliegt den Airbus und sortiert Amazon-Bestellungen, analysiert Vorlieben und Vorhaben bei Facebook und sortiert Menschen für Google und Geheimdienste. Auf den Finanzmärkten der Welt wickelt sie Milliardengeschäfte ab. In Operationssälen führt sie schon Skalpelle.
In den Wochen, in denen diese Aktualisierung geschrieben wird, wird die Menschheit daran erinnert, wie verwundbar sie ist. Im letzten Kapitel des Buches wird die Rolle der Künstlichen Intelligenz im globalen Kampf gegen COVID-19 detailliert beschrieben. Es ist ein Beispiel, wie KI heute in der Lage ist, viele hochkomplexe Aufgaben, die früher Spitzenpersonal anvertraut waren, zu übernehmen. Mit jedem Tag übernimmt sie immer mehr Verantwortung in unserer Gesellschaft.
„Sie wird anders als ein Mensch sein. Sie wird sich mit einer Geschwindigkeit entwickeln, die für einen Menschen nicht begreiflich ist.“
Robert Finkelstein, CEO Robotic Technology
Wir kreieren etwas, was wir nicht verstehen, ein Wesen, das uns in vielfacher Hinsicht überlegen ist. Es vollzieht schon heute Dinge, die wir nicht nachvollziehen können.
Ist es ein Frankenstein-Monster, das hier entsteht – von der Wissenschaft ins Leben gerufen, aber demnächst jenseits unserer Kontrolle? Wird Künstliche Intelligenz bald eigene unerklärliche Ziele verfolgen? Und könnte Künstliche Intelligenz – im Gegensatz zum Filmmonster – leicht die Oberhand gewinnen, wie der britische Astrophysiker Stephen Hawking warnt?
„Künstliche Intelligenz könnte die großartigste Errungenschaft der Menschheit werden. Bedauerlicherweise könnte sie auch die letzte sein.“
Stephen Hawking, Astrophysiker
Dabei sind die Programme, die von Künstlicher Intelligenz in Mikrosekunden hergestellt werden, häufig für die eigentlichen Erfinder nicht ganz nachvollziehbar, womöglich auch nicht ganz kontrollierbar. Eines nicht so fernen Tages werden wir es mit einem Wesen zu tun haben, dass das Wissen der gesamten Menschheit speichern kann und über die Intelligenz verfügt, es blitzschnell auszuwerten.
Die klügsten Köpfe von Silicon Valley schlagen Alarm. Visionäre wie Elon Musk und Bill Gates, Steve Wozniak und Stephen Hawking, sowie Tausende andere IT-Forscher weltweit sind überzeugt, Künstliche Intelligenz wird uns bald überholen und beherrschen.
Viele glauben, sie könnte uns töten.
Einige sind überzeugt, sie wird uns töten.
JAY TUCK
ARMIN FUHRER
„Ich verstehe nicht, warum nicht mehr Menschen beunruhigt sind.“
Bill Gates, Microsoft-Gründer
GEDÄCHTNIS
Die Speicher-Explosion
Chelsea
Die weltweite Panik um Big Data haben zwei Amerikaner ausgelöst. Einer von ihnen war Chelsea.
Sie sieht nicht aus wie ein Weltverbesserer. Sie ist blass und blond, schüchtern und verstört. Sie spricht leise mit wenig Augenkontakt, achselzuckend und unsicher. Aber sie hat Geschichte gemacht, daran besteht kein Zweifel. Sie brachte die Spione einer Supermacht zum Zittern.
Chelsea bürstet das blonde Haar zurück. Ihre Akne-Narben hat sie ganz gut mit dem Abdeckstift kaschiert, der Lidstrich betont ihre Augen. Mit Lidschatten wäre das Ergebnis besser geworden. Das wurde ihr aber nicht gestattet.
Chelsea sitzt nämlich in einem Männergefängnis – im US-Militärgefängnis Fort Leavenworth, um genau zu sein. Der Knast ist für sie ein täglicher Spießrutenlauf zwischen Schwerstkriminellen, Männern ohne Manieren. Sie pfeifen und pöbeln, brüllen und beleidigen. Ihre Häme kann erbarmungslos sein. Aber Häme ist Chelsea immerhin lieber als Härte. Sie sehnt sich nach Weiblichkeit.
Held oder Hassfigur?
Verurteilt wurde Chelsea noch als Mann, Private First Class Bradley Manning, Geheimnisträger der US-Armee. Unter dem Namen war er noch bei der Einweisung registriert, als Gefangener Nr. 89289. Manning ist der prominenteste Gefangene in Leavenworth, ein Held für viele Kriegsgegner, ein Hassobjekt für viele Militärs. Nach dem Gesetz ist er ein verurteilter Straftäter, schuldig in zwanzig Anklagepunkten, inklusive Spionage gegen die USA. Voraussichtlich wird Leavenworth sein Aufenthaltsort für die kommenden 35 Jahren bleiben.
Seine Tat: der Diebstahl von Hunderttausenden von Geheimdokumenten der US-Army, die er in enger Zusammenarbeit mit Julian Assange in dem Untergrund-Enthüllungsblog