Evolution ohne uns. Jay Tuck
nun Cyberkrieg-Spezialist werden.
In späteren Presseberichten über den Whistleblower wurden die IT-Qualifikationen von Edward Snowden hochstilisiert. Vor allem Glen Greenwald, der seine journalistische Karriere an das Schicksal von Snowden band, beschrieb ihn als „Top-Experte für Cybersicherheit.“
Das war sicherlich übertrieben.
Sein Gehalt war für Geheimdienstverhältnisse eher bescheiden. Mit einem Jahresgehalt von 55.000 Euro (bei der CIA) und 95.000 Euro (bei Booz Allen Hamilton)4 zählte er kaum zu den Spitzenverdienern. Als Geheimnisträger befand er sich auch nicht auf Eliteebene. Etwa 400.000 andere US-Staatsbedienstete besaßen eine gleichrangige Freigabe für Top-Secret-Regierungsdokumente.5
Er war aber mitten im Geschehen. Als Geheimnisträger von NSA und CIA gehörte er zum inneren Kreis der Sicherheitswächter. Als Systemadministrator erhielt er Zugang bis hinein in alle Ecken der Systeme, über die er wachte. Zusätzlich verfügte er über eine Genehmigung als sogenannter „Ghost-User“. Das heißt, er konnte die Geheimdienst-Netzwerke kreuz und quer durchforschen – ohne Spuren zu hinterlassen.
Weniger bekannt ist der Schwerpunkt von Snowdens NSA-Arbeit, der Schutz strategischer Rechensysteme vor chinesischen Hackerangriffen. Wie kaum ein anderer war Snowden mit der geheimdienstlichen Struktur der Chinesen vertraut. Er kannte die Methodik und die Häufigkeit, die Verbreitung und vor allem die Gefahr, die von solchen Attacken ausgeht.
Chinesische Cyber-Krieger
Snowden war außerdem Spezialist für die Cyberkrieg-Strategien des chinesischen Militärs, mit denen unsere Stromnetze, Flugverkehr, Wasserversorgung und Mobiltelefone lahmgelegt werden können. Auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Yokota nahe Tokio instruierte er japanische Sicherheitsstellen und Militär in Cyber-Abwehr gegen China.
Die Bedeutung von Edward Snowdens Spezialgebiet muss man im Zusammenhang sehen. Im Juni 2014 warnte James Clapper, Nationaler Geheimdienstdirektor der USA und Snowdens Boss*, dass Terrorismus nicht mehr die größte Gefahr für den Westen darstelle. In allen seinen Facetten sei der Cyberkrieg erheblich bedrohlicher.
An oberster Stelle nannte Clapper die Chinesen.
Flucht
Snowden war auf Hawaii, als er den Entschluss fasste, die Geheimoperationen seines Arbeitgebers dutzendfach zu enttarnen und US-Geheimdokumente millionenfach zu entwenden. Seinen Coup hatte er monatelang im Verborgenen vorbereitet. Das Werkzeug seiner Wahl waren – wie bei Bradley Manning – externe Datenspeicher.
Doch Snowdens Daten passten keineswegs auf einen gewöhnlichen USB-Stick, auch nicht auf Dutzende von Sticks. Sie füllten Terabyte-Platten.
Als Edward Snowden seine voll beladenen Harddisks in den Koffer packte, wollte er für eine bessere Welt kämpfen, sagt er. Er wollte geheimdienstliche Aktivitäten aufdecken, mit denen er nicht einverstanden war. Edward Snowden wollte eine moralische Instanz werden.
Seltsam, dass er dabei ausgerechnet China als Reiseziel wählte.
Am 20. Mai 2013 war Abreise.
Hinter chinesischen Mauern
Snowden hätte Holland, Skandinavien oder ein liberales Land anderswo wählen können, wo er Verständnis für seine Protestaktion erwarten konnte. Er hätte ein Land wählen können, dessen Politik für ein freies Internet steht. Er hätte jedes freies Land der Welt anfliegen können.
Er wählte China.
Seine erste Station war Hongkong, eine Stadt, die bekannt ist für die Verfolgung der freien Presse und die brutale Unterdrückung von Demonstranten. Für die Überwachung des Internets hat China eines der aufwendigsten technischen Systeme der Welt. Seine Zensur ist weltbekannt. Blogger mit unliebsamen politischen Texten werden verhaftet, vorgeführt und im Schnellverfahren verurteilt.
SMS-Texte, Chats, auch Fotos werden von einem staatlichen „Büro für Internetinformationen“ in Peking genau überwacht. Strafbar sind politische Texte und Meinungen, die ohne Genehmigung verbreitet werden. Bei Verstoß ist in China mit drakonischen Strafen zu rechnen – von Geldstrafen und Gefängnis bis hin zur Internierung in einem sogenannten „Reha-Camp für Internet-Süchtige“. So heißen die Zwangslager für unliebsame Anwender in China, die in Chatrooms und Foren über demokratischen Protest diskutieren.
Die feindselige Haltung der chinesischen Regierung gegenüber dem Internet dürfte Edward Snowden nicht verborgen geblieben sein. Chinesische Geheimdienste standen im Mittelpunkt seiner beruflichen Arbeit bei der NSA. Sein Job war es, westliche Banken, das Militär und japanische Regierungsstellen vor deren Hacker-Attacken zu schützen.
Das Pekinger Ministerium für Staatssicherheit GUOJIA ANQUAN BU
Snowden kannte sie gut. Es ist zudem auch davon auszugehen, dass sie ihn ebenfalls gut kannten.
Und dass sie sehr neugierig waren auf die geheimen NSA-Daten, die auf den Terabyte-Disks in seinem Reisekoffer gespeichert waren.6 Vier Stück trug er bei sich. Zum Vergleich: alle bislang veröffentlichen Daten von Edward Snowden entsprechen nur wenigen Gigabyte.
Welche sensiblen Daten der Amerikaner tatsächlich an den chinesischen Geheimdienst verraten hat, ist nicht bekannt. Wir wissen, dass Edward Snowden über chinesische Cyber-Aktivitäten so viel wusste wie kaum ein anderer. Seltsamerweise hat er darüber nie berichtet.
Es hätte seine Pekinger Gastgeber womöglich verärgert.
Flüchtling in Transit
Sein Aufenthalt in China dauerte knapp einen Monat. Peking genehmigte keinen längeren Aufenthalt. Snowden musste weiter. In Hongkong traf er mit russischen Regierungsvertretern zusammen, die ihm halfen, seine Weiterreise zu organisieren.7
Als zweites Fluchtziel wählte Snowden Putins Russland – ein Land, das ebenso wenig wie China für seine freiheitliche Informationspolitik bekannt ist. Er landete am 23. Juni 2013 in Moskau. Danach wollte er offenbar weiterfliegen.
Es gab dabei aber ein Problem.
Das US-Außenministerium hatte dem flüchtigen Spion den Reisepass entzogen. Ohne Papiere war seine einzige Reiseoption die Heimreise nach Amerika, wo eine sichere Festnahme und langjährige Haftstrafe auf ihn warteten – bei einer Verurteilung wegen Landesverrat womöglich sogar die Todesstrafe.
Ohne Papiere war ein Weiterflug in ein Drittland auch nicht möglich. Von den Russen hatte er weder Einreiseerlaubnis noch Aufenthaltsgenehmigung. So saß Snowden im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo fest – faktisch staatenlos, gejagt von einer Meute von Pressevertretern.
Er war in einem diplomatischen Schwebezustand. Die Putin-Regierung ließ ihn über einen Monat lang schmoren. Bis heute ist nicht genau bekannt, wo oder wie er diese Wochen verbracht hat. Man kann nur annehmen, dass er heilfroh war, als die Russen ihn endlich ins Land ließen.
Sicherlich wusste Edward Snowden, dass jede Bewegung von den unermüdlichen Augen des russischen Nachrichtendienstes FSB verfolgt wird. Der flüchtige Amerikaner war auf den guten Willen des Kremls angewiesen.
Den hatte er.
Spione unter sich
Für Wladimir Wladimirowitsch Putin war Edward Snowden ganz großes Kino. Das hat der Präsident der Russischen Föderation sofort erkannt. Snowden war amerikanischer Spion mit Unmengen an hochrangigen Cyberkrieg-Geheimnissen im Gepäck – eine wahre Fundgrube für die russischen Dienste. Snowden war außerdem ein wertvolles PR-Instrument. Mit ihm konnte