Evolution ohne uns. Jay Tuck

Evolution ohne uns - Jay Tuck


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waren einige der sogenannten Enthüllungen von Edward Snowden inhaltlich nicht neu. Einige Presseberichte wurden aufgebauscht, einiges an Empörung geheuchelt.

      Aber die Bevölkerung hat eines verstanden:

      Big Data bedeutet Big Danger.

      Mutti abgehört

      Es war vor allem das Abhören des Handys von Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Deutschland wachgerüttelt hat. Es war eine persönliche Attacke gegen seine Bundeskanzlerin. Wenn die Privatsphäre von „Mutti“ Merkel für die alliierten Freunde in Amerika nicht heilig ist, wie steht es mit dir und mir? Bundesbürger begannen zu begreifen, was Big Data in der Spionagewelt von heute bedeutet: Die Öffentlichkeit wird komplett beobachtet.

      Seinerzeit war die Öffentlichkeit erschüttert.

      Das Vertrauen in den transatlantischen Bündnispartner ebenso.

      „Einen Angriff auf die Souveränität eines demokratischen Staates“ nannte das Thomas Oppermann (SPD), Vorsitzender der Parlamentarischen Kontrollkommission im deutschen Bundestag. „Wer so dreist ist, der hat auch keine Hemmung, die Mobiltelefone der Bürger abzuhören und ihre E-Mails zu lesen.“

      Über „einen schweren Vertrauensbruch“ beschwerte sich der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). „Nicht hinnehmbar“, schimpfte Belgiens Regierungschef Elio Di Rupo. Der damalige EU-Kommissionschef José Manuel Barroso warnte gar vor „Totalitarismus“. In der Presse gab es zahlreiche Vergleiche mit den Abhörpraktiken der DDR-Staatssicherheit.

      Das persönliche Mobiltelefon der Bundeskanzlerin anzapfen, fragten viele, wie geht das technisch?

      In der Presse kursierten die schrillsten Erklärungen. Stern-TV machte „den Abhörtest“13. In einer Sendung vom 30. Oktober 2013 stellten sich Redakteure auf dem Rasen vor dem Reichstag auf die Lauer. Aus einem geparkten Minibus demonstrierten sie, wie man mithilfe eines sogenannten IMSI-Catchers in der Nähe befindliche Mobiltelefone orten und identifizieren, abhören und die Daten abspeichern kann.

      Witzbuch-Autor und „IT-Sicherheitsexperte“ Tobias Schrödel ergänzte: „Eine räumliche Nähe zu dem Abhörobjekt macht deswegen Sinn, weil ich mit entsprechenden Richtfunk-Antennen Daten abfangen und dann mit einem Rechner entschlüsseln könnte.“

      Das Publikum war beeindruckt.

      Beifall.

      Absurdistan.

      Tatsächlich ist ein IMSI-Catcher ein recht simples Gerät, das Amateur-Hacker für rund 150 Euro im Versandhandel erwerben können. Die Abhörmethodik, die Stern-TV als NSA-Enthüllung präsentierte, ist in Wirklichkeit nicht viel mehr als ein Wald-und-Wiesen-Trick für eine Dorf-Detektei. Die Vorstellung, dass amerikanische Hightech-Spezialisten in einem Kastenwagen vor dem Kanzleramt parken und Frau Merkel belauschen, ist abstrus. Westliche Geheimdienste – und zwar nicht nur die NSA – greifen ihre Daten von Unterwasserkabeln, Satellitenstationen, Mobilfunkmasten und zentralen Knotenpunkten ab. Lauernde Lauscher mit Kopfhörer im Kastenwagen oder Trenchcoat-Täter in dunklen Gassen gehören in die Geschichtsbücher des Kalten Krieges oder in Kinofilme über die DDR („Das Leben der Anderen“).

      Der moderne Spion arbeitet mit Großrechnern.

      Andere Redaktionen schickten Reporter zur US-Botschaft am Brandenburger Tor. Der Standort liegt knapp 800 Meter vom Bundeskanzleramt entfernt. Fotografen knipsten Infrarot-Bilder von dem Gebäude. Heiße Stellen unter dem Dach des Diplomaten-Hauses sollten als Beweis für die Abstrahlung von Abhöranlagen herhalten. Tatsächlich verfügt jede größere Botschaft in Berlin über Sendemasten und Satellitenschüsseln für diplomatische Depeschen. Bei der US-Botschaft stehen diese unter dem Dach. Sie strahlen Wärme ab.

      Viele Enthüllungen von Edward Snowden, die in der deutschen Presse ein großes Echo auslösten, werden niemanden in deutschen Sicherheitskreisen wirklich schockiert haben. Unter informierten Politikern und sachkundigen Journalisten waren sie längst bekannt. Der Datenaustausch zwischen NSA und BND ist alltäglich. Und eng, sehr eng. Gemeinsam mit anderen befreundeten Diensten werten BND und NSA Lauschangriffe zusammen aus – Namen und Nummern, Staatsangehörigkeit und SMS-Texte, Mails und Mitschnitte.

      Sie werden durchsucht und gefiltert, identifiziert und ausgewertet. Technisch geht das mit der Stimmerkennung. Die Stimmbänder eines jeden Menschen besitzen Merkmale, die genauso einmalig sind wie ein Fingerabdruck. Hinzu kommen Aussprache und Dialekt, Redewendungen und Rhythmus. Abhörspezialisten können daraus das Sprachprofil einer verdächtigen Person erstellen und es wieder in die Datenbestände einfüttern.

      Diese riesigen Datenmassen bilden den Heuhaufen.

      Sicherheitsbehörden suchen die Nadel.

      Und manchmal finden sie die.

      NSA auf dem Kanzlerschreibtisch

      Das Ergebnis dieser Lauschangriffe wird an höchste Regierungsstellen weitergeleitet. Auf den Schreibtisch der Kanzlerin zum Beispiel werden jeden Morgen Geheimberichte gelegt, die Infos aus den weltweiten Abhöranlagen der NSA enthalten. Die Kooperation zwischen CIA und BND, FBI und Verfassungsschutz, NSA und dem Militärischen Abschirmdienst der Bundeswehr (MAD) ist selbstverständlich und – wie BND-Mitarbeiter unter der Hand berichten – unverzichtbar.

      Dass ein Mobiltelefon der Kanzlerin darunterfällt, durfte niemanden sonderlich überraschen. Handy-Gespräche in der Bundesrepublik – wie anderswo in Europa auch – werden flächendeckend und lückenlos angezapft. Faktisch muss man davon ausgehen, dass alles, was dort gesprochen, getextet oder gesurft wird, von NSA-Lauschern in Fort Meade verfolgt werden kann.

      Nach der großen Empörungswelle in der deutschen Öffentlichkeit sah sich US-Präsident Barack Obama genötigt, öffentlich zu versprechen, dass Angela Merkels Handy nicht mehr belauscht wird. Dies signalisierte allerdings keine grundlegende Veränderung der Abhörtaktik der USA. Das wissen Eingeweihte, auch im Kanzleramt. Die US-Lauschbehörde verfügt nach wie vor über die nötige Technologie. Sie kann jederzeit per Knopfdruck aktiviert werden. Es ist nur eine Frage von Zeit und Zweckmäßigkeit.

      Das Versprechen aus dem Weißen Haus, das Gerät der Kanzlerin nicht mehr anzuzapfen, war eine diplomatische Geste. Wogen sollten geglättet, lädierte Beziehungen gekittet werden.

      Die öffentlichen Wogen wurden aber nicht gleich geglättet, die lädierten Beziehungen nicht gekittet.

      Kurz darauf platzte die nächste Bombe.

      Diesmal kam die Enthüllung nicht von Edward Snowden. Sie wurde von der deutschen Spionageabwehr aufgedeckt. Am 2. Juli 2014 marschierten Beamte des Bundeskriminalamts in die neue Nachrichtendienstzentrale des BND in Berlin und verhafteten einen Mitarbeiter. Der 31-jährige Markus R. war Analytiker aus dem Stab EA („Einsatzgebiete/Auslandsbeziehungen“), zuständig für technische Unterstützung. Er war auch – wie er kurz nach der Verhaftung gestand – Spion für die CIA. Der nächste Skandal um amerikanische Geheimdienste in Deutschland war perfekt.

      Der BND-Techniker hatte seine Dienste der US-Botschaft in Berlin per E-Mail angeboten und über einen Zeitraum von zwei Jahren Geheimpapiere an die Amerikaner geliefert. Für seine Dienste zahlten sie ihm rund 25.000 Euro.

      Die Vorwürfe waren brisant.

      Das Timing hätte nicht schlechter sein können.

      Empörung kam aus ganz Europa.

      Alliierte abhören

      „Befreundete Länder kann man nicht einfach abhören, Daten absaugen, verarbeiten,“ ärgerte sich Österreichs Vizekanzler Michael Spindelegger. Er war eine von vielen Stimmen im In- und Ausland.

      Dabei ist es die Aufgabe von Nachrichtendiensten, Politiker in befreundeten Ländern auszukundschaften. Das gilt für Skeptiker der US-Allianz wie auch für begeisterte US-Freunde wie Angela Merkel.

      Für


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