Evolution ohne uns. Jay Tuck
eines B-1-Bombers. Es zeigte einen US-Angriff auf das afghanische Dorf Granai, bei dem über einhundert Zivilisten ums Leben kamen, darunter Frauen und Kinder.2 Die Aufzeichnungen lösten große Diskussionen über mögliche amerikanische Kriegsverbrechen in Afghanistan aus.
Undiplomatische Depeschen
Andere Dokumente belegten geheime Vorgänge im Krieg, die offiziell abgestritten wurden. Noch andere zitierten aus vertraulichen Depeschen, wo Politiker und Diplomaten im vermeintlich vertraulichen Austausch ihre – oft wenig schmeichelhaften – Einschätzungen und Kommentare über die Führungsspitze anderer Länder austauschten. In vielen Fällen hatte die Veröffentlichung peinliche Folgen für die US-Außenpolitik.
Die Massendaten von Manning bildeten den Kern für die Enthüllungen von Julian Assange – und für das Renommee seiner Enthüllungsplattform WikiLeaks.
Dass ein einfacher Soldat unbemerkt an derartig viele Geheimdokumente herankommen konnte, lag nicht nur an der Arglosigkeit der Sicherheitsbehörden. Die Zeiten hatten sich geändert. Die Digitalisierung von diplomatischen Depeschen war in vollem Gang. Big Data hatte hohe Priorität. Für die Führung des Pentagons hatte sie viele Vorteile. Große Mengen an Informationen könnte man schnell speichern, sortieren und in kürzester Zeit auswerten. Katalogisierung war automatisch, Zugriff blitzschnell.
Aber Big Data war auch Neuland. Es änderte die Spielregeln der Spionage. In früheren Zeiten brauchte ein Spion für eine solche Aufgabe eine Sonderausrüstung – Minikamera, Fotolabor für die Filmentwicklung und ein gutes Versteck für die Mikrofiche-Aufnahmen, vielleicht unter einer Briefmarke. Längst vorbei waren die Zeiten, als man einzelne Dokumente ablichten musste. Mit einem kleinen USB-Stick konnte ein Spion jetzt im Handumdrehen Hunderttausende von Geheimdaten stehlen. Für Bradley Manning war das ein leichtes Spiel.
Er war Pionier. Und er führte den Mächtigen die neue Verwundbarkeit ihrer Geheimnisse vor. Sie würden lernen müssen, dass sich die Welt der Hochleistungscomputer verändert hatte.
Bradley Edward Manning hatte eine schwierige Kindheit. Er wurde am 17. Dezember 1987 in Crescent im US-Bundesstaat Oklahoma geboren. Sein Vater, damals Analytiker beim Militärischen Abschirmdienst, war ein sehr dominanter Mann, ein Trinker. Seine Mutter trank auch. In den Akten steht ein Selbstmordversuch. Für Freunde und Nachbarn war unübersehbar, dass die Familie gestört war.
Alkoholprobleme hatte Manning schon vor der Geburt. Wie spätere Untersuchungen zeigten, hat er bereits als Embryo Schäden aus der Sucht seiner Mutter mitbekommen.
In seiner frühen Kindheit ließen sich seine Eltern scheiden. Danach wurde er zwischen Elternteilen und Stiefeltern, Nachbarn und Verwandten hin und her geschoben. Als durch die Zweitheirat seines Vaters eine neue Halbschwester in sein Leben kam, klagte er: „Jetzt bin ich ein Niemand!“
Danach bedrohte er im Streit seine neue Stiefmutter mit einem Messer. Die Polizei kam.
Mit 13 Jahren erzählte er erstmals Freunden von seiner Homosexualität.
Nach einem kurzen Job als Software-Entwickler meldete sich Manning freiwillig zur Armee. Es war September 2007. Er hoffte, dort sein Studium zu finanzieren. Er hoffte auch, dass ein männliches Umfeld ihm womöglich mit seiner Geschlechtsidentität helfen könnte.
Doch es kam anders.
Er wurde Prügelknabe. „Er war kleinwüchsig. Er war schwul. Er hat’s von allen Seiten bekommen“, erinnert sich ein Kumpel aus seiner Armee-Zeit. „Nirgendwo hatte er Freunde.“
Manning war ein schwieriger Kandidat. Wenn er – wie bei der Militärausbildung üblich – aus nächster Nähe von seinem Sergeant angeschrien wurde, brüllte er zurück. Er wurde mehrfach dafür diszipliniert. Vorgesetzte nannten ihn spöttisch „General Manning“.
Nach sechs Wochen war bereits absehbar, dass er sich schlecht an die Militärdisziplin gewöhnen konnte. Es kam die Empfehlung, ihn aus der Armee zu entlassen. Es war aber die Zeit der Digitalisierung. Seine Einheit war überlastet. Manning war Software-Fachmann und Geheimnisträger (Top Secret/Sensitive Compartmented Information). Der Militärische Abschirmdienst brauchte ihn.
Manning durfte bleiben.
Er war aber immer noch ein schwieriger Soldat.
Bei einem Beratungsgespräch im Dezember 2009 flippte er aus. Er schrie seine Vorgesetzten an und schmiss ihre Schreibtische samt Computer auf den Boden. Ein Militärpolizist musste eingreifen. Manning wurde entwaffnet und im Würgegriff aus dem Raum geschleppt.
Wenige Monate später wurde er von einem Offizier auf dem Fußboden einer Vorratskammer entdeckt, gekrümmt in Embryoposition liegend. Neben ihm lag ein Messer. In einen Stuhl hatte er die Worte „Ich will“ (I want) eingeritzt. Einige Stunden danach schlug er grundlos auf eine Soldatin ein. Der diensthabende Psychiater empfahl die Entlassung aus der Armee. Manning wurde degradiert.
Aber nicht entlassen.
Drei Tage später wurde er von der Military Police verhaftet.
Wegen Spionage.
Die Spur zurück
Die Dokumente, die er zu Hunderttausenden kopiert und an Julian Assange weitergeleitet hatte, enthielten Hinweise, die bis an die Quelle zurückverfolgt werden konnten. Die Spur führte zu Manning. Er wurde identifiziert, verhaftet und verurteilt.
Seitdem sitzt er in Haft.
Begonnen hat Manning mit dem Diebstahl im Januar 2010, zunächst mit 400.000 Geheimdokumenten. Die wurden später als die „Iraq War Logs“ weltweit in der Presse bekannt.
Es war der erste große Datenklau im Zeitalter von Big Data – erleichtert durch schnelle, kleine und leicht zu bedienende Speichertechnik. Der Datenklau wurde auch durch den sorglosen Umgang mit elektronischen Geheimdaten begünstigt.
Im Jahr 2010 befand sich das US-Militär in der Anfangszeit von Big Data. Es besaß große Mengen von diplomatischen Depeschen und Geheimdienstberichten, die noch nicht in digitaler Form waren. Die Digitalisierung war Eilsache, denn erst elektronische Files können schnell gespeichert, detailliert analysiert und über große Netzwerke verschickt werden. Verschlüsselte Dateien seien auch sicherer.
Dachte die Army.
Tatsächlich eröffnete die magische Welt der Massendaten Hackern und Dieben Tür und Tor. Mit einem kleinen Speicherstift konnte ein einfacher Soldat seine umfangreiche Beute unauffällig, schnell und vollständig sichern.
Manning hatte die neue Technologie auf seiner Seite. Nur drei Tage nach seinem Irak-Download machte er sich wieder an die Arbeit. Diesmal schnappte er sich 91.000 vertrauliche Depeschen aus Afghanistan. Technisch – berichtete er später – war es ein Kinderspiel. An seinem Arbeitsplatz gab es so gut wie keine Aufsicht.
Manning kam mit einem USB-Stick aus. Mit einem paar Mausklicks konnte er ganze Archive kopieren. In der Hosentasche konnte er sie unbemerkt von seinem Arbeitsplatz beim Geheimdienst herausschmuggeln. Zurück in der Kaserne brannte er seine Beute auf CD und beschriftete sie als „Lady Gaga Songs“. Niemand wurde misstrauisch. Als er später die Heimreise nach Amerika antreten sollte, übertrug er die hochbrisanten Daten auf einen winzigen SD-Chip und steckte ihn in seinen Fotoapparat.
Es war so einfach.
Niemandem fiel das auf.
Bis die ersten Dokumente in WikiLeaks erschienen.
Die Veröffentlichungen – Tausende von internen Militärberichten und vertraulichen Depeschen von Diplomaten – lösten eine weltweite Welle von Presseberichten aus. Die Schockwellen reichten bis tief ins US-Außenministerium und in die obersten Ebenen der Nachrichtendienste. Hektisch begann die Spionageabwehr mit Nachforschungen. Mithilfe der vielzähligen Details in den Depeschen konnte die Quelle schnell ausgemacht werden.
Prozess
Der Prozess