Die neuesten Streiche der Schuldbürger. Michael Klonovsky
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Das Grundgesetz muss so lange geändert werden, bis es keine verfassungsfeindlichen Stellen mehr enthält.
In Minden sind zwei Mädchen von zwei »Männern« trotz der deutschen Vergangenheit so sehr gemocht worden, dass eine von beiden beim Zicken unter einen Bus geriet und schwer verletzt wurde. Man kann darüber sensibel berichten: »Jugendliche nach Attacke von Bus überrollt« (Der Westen), oder eben gruppenbezogen menschenfeindlich: »Bus überrollt Mädchen nach Attacke durch Flüchtling« (Junge Freiheit). Aber es ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass es sich um einen Einzelfall handelt, nicht um eine Sache für #metoo oder #aufschrei, sonst nämlich #wirsindmehr, claro?
28. Januar
Ein entfernter Bekannter, der in Berlin eine konservative Bildungseinrichtung betreibt, erzählt, dass Abtreibungspropagandisten dort die Fassade beschmiert haben, weil drinnen eine Veranstaltung von Lebensschützern stattfand. Kurz darauf habe ihm ein großer, vollbärtiger türkischer Lieferant irgendetwas gebracht und sich erkundigt, was denn hier passiert sei. Nachdem der Hausherr es ihm erklärt hatte, habe es einen Moment gedauert, bis der Mann begriff und noch einmal nachfragte: »Die das hier geschmiert haben, sind für Abtreibung?«
Nicken.
»Was sind das denn für Penner?! Das ist doch Mord!«
Die fatale Idee, dass die Geschichte nicht mehr Sinn produziere als ein mahlendes Affenmaul (eine Gottfried Benn zugeschriebene Formulierung), und der Planet, auf welchem sie stattfindet, kaum mehr sei als eine »um ihre eigene Achse rotierende Folterkammer« (Ulrich Horstmann), diese Idee ist heute eher unpopulär. Dank eines gewissen zivilisatorischen sowie gewaltigen technischen Fortschritts, vor allem in Fragen des Komforts und der Anästhesie, geriet sie gegenüber der Hegelei permanenter Höherentwicklung unter Rechtfertigungsdruck. Bei den Alten galt sie noch als unstrittig. Als der phrygische König Midas den weisen Silenos fragte, was für den Menschen das Beste sei, gab der zur Antwort, das Allervorzüglichste wäre für ihn, gar nicht erst geboren zu werden; wenn er aber schon einmal auf der Welt sei, empfehle sich ein baldmöglicher Tod. (Kurz nach dieser Auskunft erfüllte der Satyr dem König übrigens den bekannten verhängnisvollen Wunsch.) Wie jeder Berliner Einser-Abiturient weiß, war Silen der Lehrer und Begleiter des Dionysos, auf dessen lärmende, in Bocksfelle gehüllte Entourage der Begriff Tragödie zurückgeht – tragos ist der Bock, näherhin der Ziegenbock, odia heißt Gesang –, und das tragische Weltbild kennt den Sinn nicht, sondern nur das Verhängnis.
Diese kleine Abschweifung führt zu dem französischen Philosophen oder philosophischen Autor Michel Onfray, der gelegentlich schon durch diese Notate irrlichterte. In seinem Buch Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden (Original: Décadence: Vie et mort du judéo-christianisme), das im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschien, versichert Onfray, er schreibe weder eine optimistische noch pessimistische Geschichte, sondern eine tragische. Die Geschichte des Abendlandes als Tragödie. Das hört man nicht oft.
Der Franzose ist ein sogenannter Vielschreiber (oder er hat wie Brecht mehrere Frauen, die für ihn schreiben), jedenfalls publiziert Onfray in einem irritierenden Tempo: Seit dem Erscheinen des 700-Seiters Décadence anno 2017 hat er schon wieder vier Bücher veröffentlicht, darunter eine Art Fortsetzungswerk namens Sagesse: Savoir vivre au pied d’un volcan (»Weisheit: Zu leben verstehen am Fuße des Vulkans«; seit Kant folgt auf die reine Vernunft bzw. Torheit bekanntlich die praktische). Auf dem Cover von Niedergang wirbt der Verlag mit dem Zitat aus einer Rezension: »Ein Albtraum à la Houellebecq«. Der französische »Krawallphilosoph«, wie die FAZ ihn liebevoll nennt, ist folglich so etwas wie der Patachon oder Pollux seines unisono als »Skandalautor« gehandelten Landsmannes. (»Was machen Sie beruflich?« – »Ich bin Skandalautor. Und Sie?« – »Ich finde mein Auskommen als Krawallphilosoph.« – »Wie allerliebst! Darf ich Ihnen meinen Freund *** vorstellen? Er arbeitet als Internet-Hetzer.«)
Onfrays Opus gehört in die Gattung der Universalgeschichte, korrekt: der höchst unvollständigen Universalgeschichten. Da es schwer möglich ist, Werden und Vergehen des Abendlandes auf eine irgendwie deskriptive Weise auf 700 Seiten unterzubringen, wählt er Ausschnitte, historische Zeitfenster, durch die er den Leser blicken lässt. Diese Miniaturen, aus denen sich das Buch zusammensetzt, müssen als partes pro toto hingenommen werden; das entspricht dem literarischen Stil des Buches. Wie jeder Berliner Abiturient weiß, gehört Geschichtsschreibung (eher) zur Literatur als zur Wissenschaft; einen Historiker ohne literarische Ambitionen würde ich nie lesen. Als dramatischer Stilist ist der Franzose ohne Tadel:
»Von der Siedlung auf dem Palatin 753 v. Chr. über Cäsars Republik und das Reich des Augustus hat Rom bis zum Edikt von Mailand 313 n. Chr. elf Jahrhunderte überdauert. Dann wurde die Wölfin vom Lamm gefressen.«
»Die jüdisch-christliche Kultur war in Reih und Glied aufgestellt. Der Kaiser konnte der christlichen Armee den Marschbefehl erteilen. Die Anhänger des Paulus stiegen aus den Katakomben, um in die Paläste einzuziehen.«
»Seinen Nächsten aufzufressen gemäß einer Logik der Ehre schien Montaigne jedenfalls weniger barbarisch, als diesen beispielsweise im Namen der Realpräsenz Christi in der Hostie zu massakrieren.«
»Der Protestantismus war ein Hilfsmittel zum Austritt aus der Theokratie und zum Eintritt in eine Politik der Immanenz.«
»Ludwig XVI. verabscheute jede Gewalt und ließ während der Französischen Revolution niemals in die Menge schießen, obwohl er rechtlich dazu befugt gewesen wäre. Hätte er es getan, so wäre die Geschichte Frankreichs und Europas wohl anders verlaufen. Ludwig XIV. hätte an seiner Stelle die Armee eingesetzt und ein Blutvergießen angerichtet. Die großen Worte und schönen Ideen hätten es in diesem Falle schwerer gehabt.«
»De Gaulle, der im Zuge der Achtundsechziger-Bewegung die Macht verlor, wurde durch einen an der École Normale Supérieure ausgebildeten Banker abgelöst. An die Stelle der Geschichte traten Finanzen und Rhetorik. Im Prozess der Entchristianisierung mussten jene, die um das Goldene Kalb tanzten, nicht mehr viel tun, um das Christentum gänzlich zu zerstören. Seither steht die westliche Welt zum Verkauf.«
Mit dem Urteilen verhält es sich so wie mit dem Frauenanbaggern: Man muss sich trauen. Dass sich französische Autoren heutzutage eher trauen als deutsche, hat diverse Ursachen, von zwei Kriegsniederlagen über ohnehinnige Mentalitätsunterschiede und gewisse rechtsrheinische Herdenglückszwänge bis zur Froschperspektive derer, die nie wirklich Kolonien und eine Flotte, also nie den globalen Blick besaßen. Die Kehrseite von Onfrays Schneid besteht in Generalisierungen, Übertreibungen (vor allem was Opferzahlen angeht), historischen Ungenauigkeiten oder Fehlern (eine fiktive Synode wird real, »Hitler beschließt auf der Wannseekonferenz« etc.), aber das ist alles geschenkt und mag Erbsenzähler kitzeln. Hier geht’s um den ganzen Guss, um einen düsteren Sarkasmus, um Lektürestunden ohne humanistische Phrasen und kulturmarxistische Floskologie, die mir viel Pläsier bereitet und meine historische Viertelbildung mit zahlreichen Erkenntnissen bereichert haben.
Onfray folgt Spenglers Theorie, dass Kulturen Organismen sind, die blühen, wachsen, reifen, verfallen und eines Tages enden. Ihre eigentliche und zugleich eigentümliche Prägekraft beziehe eine Zivilisation (oder Kultur; außerhalb einiger verstrichener Dezennien des deutschen Denkens trennt man das nicht so genau) aus der Religion (Onfray ist übrigens Atheist). Geschichte habe keinen Sinn außer jenem, den Historiker, Philosophen und Ideologen ihr auferlegten. »Eine Zivilisation existiert stets nur als adäquate Antwort auf äußere Bedrohungen ihrer Existenz«, statuiert der Denker. »Solange sie sich gegen diese Bedrohungen zur Wehr setzt, lebt sie. Kann sie sich nicht mehr wehren, stirbt sie.« Kulturen gründeten auf Fiktionen, »die als solche erst dann erkennbar werden, wenn die Kulturen im Untergang begriffen sind. Je fester der