Unsichtbare Architektur. Inge Podbrecky
führte über die Ringstraße, genauer gesagt über jenen Abschnitt, der das den Christlichsozialen verhasste, weil sozialdemokratisch gewollte und kodierte Republikgründungsdenkmal enthielt.81 Die Haltung des Austrofaschismus zur Ringstraße war zwiespältig: Sie war ein Dokument der von ihm (ebenso wie seiner Identifikationsfigur Lueger) abgelehnten Epoche des Liberalismus und Kapitalismus, aber auch traditioneller Veranstaltungsort des politischen Gegners, der Sozialdemokratie, deren Umzüge am 1. Mai über den Ring zum Rathausplatz führten und bis heute führen. Andererseits war die Prachtstraße ein vom hoch verehrten Kaiser Franz Joseph gewolltes Stadterweiterungsprojekt gewesen, mit dem Sitz der Dynastie in der Hofburg, mit dem dynastisch kodierten Heldenplatz mitsamt Burgtor und den ehemals kaiserlichen Museen. Die Strategie der Austrofaschisten im Umgang mit der Ringstraße war die einer Neuüberformung: Bereits am 1. Mai 1933 wurde die Ringstraße durch Polizei und Militär gesperrt, um den traditionellen Maiaufmarsch der Sozialdemokratie zu verhindern.82 Am 1. Mai 1934, am Tag der Einsetzung der austrofaschistischen Verfassung, fand stattdessen am Ring ein „Huldigungszug der Stände“ in mittelalterlichen Kostümen und ein „Festzug Alt-Wien“ statt.83
1934 wurde das Republikgründungsdenkmal am Ring abgebaut, an seiner Stelle sollte ein „Denkmal der Arbeit“ entstehen; das Burgtor wurde als Denkmal der Armee überformt, und zahlreiche Prozessionen und Umzüge, wie zum Beispiel das Doppelbegräbnis der Kanzler Seipel und Dollfuß, wurden um den Ring geführt. An der Ringstraße befindet sich auch mit dem Karl-Lueger-Denkmal (1913–1916), das einzige christlichsozial initiierte Denkmal der ausgehenden Monarchie. Weitere ältere Bestände an der Ringstraße, wie das Radetzkydenkmal am Stubenring, das Deutschmeisterdenkmal, die Denkmäler Erzherzog Karls und Prinz Eugens, Kaiserin Maria Theresias und Fürst Schwarzenbergs, fügten sich passend in den dynastisch-militärischen Schwerpunkt austrofaschistischer Erinnerungskultur.
Ein weiterer habsburgischer Erinnerungsort war das kaiserliche Schloss Schönbrunn, Wohn- und Regierungssitz Kaiserin Maria Theresias und Sterbeort Kaiser Franz Josephs. Das habsburgische Vermögen war mit dem sogenannten Habsburgergesetz, einem Verfassungsübergangsgesetz aus 1919, an den Staat gefallen, die Habsburger wurden damals des Landes verwiesen, der Adel in Österreich abgeschafft. Diese republikanischen Gesetze wurden mit ebenso wie das Adelsaufhebungsgesetz in den Rang eines einfachen Bundesgesetzes rückgestuft. 1935 wurde der Landesverweis für die Habsburger aufgehoben und eine Vermögensrestitution der Bundesregierung zur Entscheidung überlassen. Als Zeichen des Bezugs zur Monarchie und des Wunsches nach Kontinuität adaptierte der autoritäre Staat einige habsburgische Symbole und Hoheitszeichen, wie die Kaiserhymne und den Doppeladler. Statt Hammer und Sichel, wie ihn der (einköpfige) Wappenadler der Ersten Republik in den Fängen hielt, wurden nun Kreuz und Schwert eingesetzt.84 Dazu kam 1933 das Kruckenkreuz als Zeichen der Vaterländischen Front (Abbildung 9), das dem nationalsozialistischen Hakenkreuz ähnelte, ihm aber bewusst als Zeichen christlichen Deutschtums entgegengesetzt sein sollte.85 Das Kruckenkreuz ist als Schwertfegermarke auf dem Reichsschwert (Mauritiusschwert) dargestellt, einem Bestandteil der Reichskleinodien des Heiligen Römischen Reichs. Das Schwert wird in der Weltlichen Schatzkammer aufbewahrt wird und trägt unter anderem die Inschriften „CHRISTVS · VINCIT · CHRISTVS · REIGNAT · CHRISTVS · INPERAT“ sowie an der Scheide eine Reihe von Kaiserdarstellungen, so dass hier mehrfache Anknüpfungspunkte sowohl für den Politischen Katholizismus (Christkönigsideologie) als auch für den Versuch einer Legitimierung der behaupteten Vormachtstellung Österreichs als deutscher Nation, wie sie der Austrofaschismus verfolgte, vorhanden waren.
Abbildung 9: Kruckenkreuz (Wikipedia)
Mehrere Veranstaltungen des Katholikentags fanden im Praterstadion statt. Im Vorfeld der 2. Arbeiter-Olympiade erbaut (der Grundstein wurde am zehnten Jahrestag der Ersten Republik gelegt86) und 1931 eröffnet, war das Stadion ein zentraler Veranstaltungsort der Sozialdemokratie und der Arbeitersportbewegung, nicht nur für Sportereignisse, sondern auch für Manifestationen und Festveranstaltungen.87 Nach einem Wettbewerb, den Otto Ernst Schweizer gewonnen hatte, wurde es mit seiner aufwändigen Stahlbetonkonstruktion und den umgebenden Sportanlagen zu einem Denkmal des Roten Wien, zum Inbegriff sozialdemokratischer Fortschrittlichkeit und Wiener Freizeitkultur. In einem 1935 herausgegebenen Jubiläumsband zum 100-jährigen Bestehen des Stadtbauamts (dessen Beamte wenige Jahre zuvor die Erbauung und Eröffnung des Stadions im sozialdemokratischen Kontext miterlebt hatten) wurde das Stadion jedoch politisch so neutral präsentiert, als wäre es schon immer dagewesen.88
Beim Katholikentag 1933 wurde das Stadion besonders nachdrücklich neu kodiert. Hier hatte ein halbes Jahr zuvor die letzte Maikundgebung der Ersten Republik stattgefunden.89 Am 10. September fand hier die Hauptversammlung des Katholikentags statt, mit einem Zug der Ostmärkischen Sturmscharen, einer 1930 gegründeten paramilitärischen Truppe, deren Fahnen wieder „aus dem Geiste altchristlicher Symbolik“ gestaltet waren.90 Hier sprach Bundeskanzler Dollfuß über die Errichtung eines „christlich-deutschen Staats“. Am 10. September mittags wurden 40.000 Bauern während einer Festmesse auf Kirche und Regime eingeschworen,91 nachmittags folgte die Aufführung des als Massenspektakel inszenierten Weihespiels „St. Michael führe uns!“ von Rudolf Henz. Unter anderem trat dabei eine rote Fahnen schwingende, Arbeiter darstellende Gruppe auf, die vor dem Kreuz zurückschreckte und das Feld räumte. Danach wurde die katholische Jugend Christus geweiht.92 Eine derart nachdrückliche Bespielung mit Weihespielen, Messen, Bekenntnis- und Schwurveranstaltungen sollte das Stadion, bis dahin unter anderem auch Spielort der „Wunderteam“ genannten österreichischen Fußballnationalmannschaft, nachdrücklich im öffentlichen Bewusstsein umdeuten.
Unweit des Stadions, am Trabrennplatz in der Krieau, hielt Bundeskanzler Dollfuß am 11. September 1933 seine Grundsatzrede zum autoritären Umbau des Staates. Der Termin zugleich mit dem ersten Generalappell der Vaterländischen Front hatte mehrfachen „Befreiungs“-Bezug: Es war der Vorabend des Jubiläums der Befreiung Wiens von den Osmanen, die als „Horden aus dem Osten“ als ebenso unchristlich gebrandmarkt werden konnten wie die ebenfalls aus dem Osten kommende Gefahr des Bolschewismus, vor denen das katholische Österreich Europa ebenso bewahren wollte wie 1683.93 Außerdem galt die im Mai 1933 als Nachfolgerin der Christlichsozialen Partei gegründete Einheitspartei der Vaterländischen Front den Machthabern als Befreiung von Demokratie und Parlamentarismus, wie Dollfuß in seiner Rede betonte.94
Der 1878 eröffnete Trabrennplatz in der Krieau im Wiener Prater war bis dahin kein politisch konnotierter Ort gewesen. Die Entscheidung für ihn hat wahrscheinlich mit seiner Nähe zum Messegelände und zur Rotunde zu tun, die als Monumentalbau für die Wiener Weltausstellung 1873 erbaut worden war und dadurch Wien als Weltstadt repräsentierte. Außerdem hatte in der Rotunde im September 1912 der Eucharistische Kongress stattgefunden, eine katholische Großveranstaltung, die mehrere Details des Katholikentags 1933 vorweggenommen hatte: die Anwesenheit eines päpstlichen Kardinallegaten, die Inszenierung als Massenspektakel und eine spektakuläre und sehr erfolgreiche sakrale Musiktheatershow, das „Mirakelfestspiel“.95 In den Augen der Machthaber mag diese historische kirchliche Nutzung der Rotunde ihre an sich liberal motivierte Entstehung überschrieben haben. Außerdem signalisierte die 25. Wiener Herbstmesse 1933, die in der Rotunde zeitgleich mit dem Katholikentag stattfand, dass die „Talsohle der Weltwirtschaftskrise durchschritten war“.96 Der Trabrennplatz lag genau in der Achse der (1937 abgebrannten) Rotunde, deren über 100 Meter hohe, weithin sichtbare Kuppel den monumentalen Hintergrund für die Kanzlerrede darstellte.
Nach der Kundgebung zogen die Anwesenden zum Burgtor, einem weiteren habsburgisch-militärischen Erinnerungsort, wo ein großes historisches Türkenzelt aufgebaut war. Dort, unweit des Reiterdenkmals des Prinzen Eugen, eines weiteren populären barocken Türkenhelden im Dienste Habsburgs, nahm der Kanzler das Defilee der Vaterländischen Front ab. Irene Nierhaus hat darauf hingewiesen, dass dieser Ort beim Wien-Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. anlässlich des Katholikentags 1983 nochmals ähnlich instrumentiert wurde: Zum 300. Jubiläum der Türkenbefreiung wurde die Papsttribüne neben dem Prinz-Eugen-Denkmal